Redensarten Lexikon
zweiundsiebzig
Die 72 ist eine volkstümliche Rundzahl für: unzählig, viel, alles. Sie ist in vielen Redensarten, Summenbezeichnungen und Volksglaubensäußerungen zu finden. In einer mundartlichen Redensart aus der Steiermark heißt es z.B.: ›G'scheida oa schwari Sau wie zwoarasiebzg Brühling‹, besser eine schwere Sau als 72 Jungferkel. Von einem allzu sentimentalen, langen Lied sagt man, es habe 72 Strophen. Hans Bärenknab schwingt im steirischen Märchen einen Hebebaum, der ›72 Pfund‹ wiegt, wie ein Stäbchen (Geramb, KHM., S. 70). Durch 72 Hände geht der Flachs, ehe er als Hemd getragen wird, weil Säen und Ernten, Brechen und Hecheln, Spinnen und Weben so unendlich viel Arbeit erfordern. Die Belege lassen sich auch in historischer Tiefe durch viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Im 13. Jahrhundert waren sehr häufig ›72 Pfennig‹ die runde Summe einer Gerichtsbuße. Der gleiche Betrag galt noch bis in die Bauernkriege hinein als ›der kleine Wandel‹, als Strafsatz bei verschuldeter Nichtbestellung der Fronfelder.    Auch in der mittelhochdeutschen Literatur begegnet diese Zahl: Orendel, der Held des rheinischen Spielmannsepos vom Heiligen Rock zu Trier, fährt auf 72 Schiffen aus, um in das Heilige Land zu kommen. Im mittelhochdeutschen Spielmannseops von der Brautfahrt des hl. Oswald kehrt das Motiv übersteigert wieder: er zieht mit 72 000 Mann auf 72 Schiffen aus, nachdem er 72 goldene Kreuze für die Führer seines Heeres hatte fertigen lassen.
   Die Zahl 72 erfuhr schon früh magische Verwendung. Zwei Spottstrophen (nidvisur) des nordischen Skalden Egill Skallagrimssons sind nach Magnus Olsen so gebaut, daß jede der vier Helminge (syntaktische Stropheneinheiten), in Runen geschrieben, genau 72 Zeilen enthalten soll, also dreimal die Gesamtzahl der Runenbuchstaben, und deshalb mit starker magischer Kraft geladen ist. Auch auf einer schwedischen Inschrift zu Fyrby enthält eine bestimmte Strophe genau 72 Runen (vgl. de Vries, Literaturgeschichte I, 1941, S. 39).
   Im Traugemundslied wird in altertümlicher Weise gesagt, daß der Gefragte alle Länder kenne:

   Nu saget mir Meister Trougemunt,
   72 Land die sind dir kunt.

Vermutlich besteht ein Zusammenhang dieser Rundzahl, die dem Dezimalsystem fremd ist, mit einer Bibelstelle des Lukasevangeliums (10, l-5), nach der sich Christus 12 Apostel und 72 Jünger erwählte (»Designavit Dominus et alios septuaginta duos«). Die 72 wurde zur geheiligten Zahl als Ordnungsbegriff.
   Das Bewußtsein von der Heiligkeit dieser Zahl blieb ungebrochen bis in die religiöse Vorstellungswelt der nachmittelalterlichen Jahrunderte und bis zur Gegenwart.
   Die Zahl 72 gehört in den weiten orientalischen Kulturkreis der heiligen Zahl 7 ( sieben), die auch zu 77 vervielfältigt und verstärkt erscheint. Daneben erscheint aber die 72 als gleichwertiger Begriff der Vielheit und der Unzählbarkeit. Diese Gruppe der heiligen Siebenzahl tritt dem indogermanischen System der heiligen Neunzahl gegenüber (3 × 3). Die Auseinandersetzung zwischen den Zahlbereichen ging zugunsten der Siebenzahl aus. Im 17. Jahrhundert wurden aus den 9 Schwaben die berühmten 7 Schwaben, aus den 99 Krankheiten in zahllosen Zaubersprüchen wurden 77 oder 72 Fieber oder Gichten.

• L. KRETZENBACHER: Die heilige Rundzahl 72. Zur Zahlenmystik in Legende und Sakralbau, in Volksglaube und Redensart, in: Blätter für Heimatkunde, herausgegeben vom Historischen Verein für Steiermark 26 (Graz 1952), S. 1118.
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