Redensarten Lexikon
Vielliebchen
Finden junge Leute verschiedenen Geschlechts bei einem Zusammensein in einer Nuß oder einer Mandel zwei Kerne, so nennen sie diese ›Vielliebchen‹; jedes ißt einen davon, und wer bei der nächsten Begegnung dem andern zuerst ›Vielliebchen‹ zuruft, bekommt von ihm ein Geschenk. In Frankreich redet man statt von ›Vielliebchen‹ von ›Philippe‹ und ›Philippine‹. Die schweizerischen Belege lauten dahin, daß zwei Personen, die gleichzeitig dasselbe Wort aussprechen, zusammen ›eine Philippine machen‹. Haben zwei Personen gleichzeitig denselben Gedanken, so haben sie ›eine arme Seele erlöst‹, ›en Schnider in Himmel ufe glupft‹, ›eine Pfaffechöchin us em Fegfür erlöst‹ (schweizerisch). Wenn im Allgäu zwei Personen in Gesellschaft im nämlichen Augenblick denselben Einfall haben und das gleiche sagen wollen, so sagt man: ›Jetzt ist eine Pfarrersköchin erlöst worden‹. Die beiden können sich auch schnell etwas wünschen; das soll dann in Erfüllung gehen. Eine rein rationale, aus der Bildungsschicht stammende Deutung der Gleichzeitigkeit desselben Wortes finden wir schließlich in der französischen Redensart ›Les beaux esprits se rencontrent‹ (auch: ›les grands esprits se rencontrent‹, im Sinne von großen Geistern, die gleichzeitig auf denselben Gedanken verfallen), die ihr italienisches Gegenstück hat: ›I geni si incontrano‹. Gleichzeitigkeit als ›zufälliges‹ zeitliches Zusammentreffen ist – ebenso wie das räumliche Zusammentreffen besonderer Art – eine der fundamentalen Erfahrungen, auf welche sich die sogenannte sympathetische Magie aufbaut. Aus auffallendem zeitlichem oder räumlichem Kontakt werden Schlüsse auf Wesenszusammenhänge gezogen. Wenn zwei Personen gleichzeitig dasselbe Wort aussprechen oder auch nur denselben Gedanken haben oder nach derselben Sache greifen, so folgert die magische Logik eine sympathetische Beziehung zwischen den beiden Personen: sie werden zusammen auf eine Hochzeit gehen, sie werden zusammen Paten sein, sie seien für eine bestimmte Zeit Cousins oder Geschwister, sie sterben zusammen, oder sie haben Glück zusammen, kurz: sie sind irgendwie in Glück oder in Unglück verbunden. Andere Folgerungen magischen Denkens, die aus der Feststellung der Gleichzeitigkeit desselben Wortes gezogen werden, führen über die Verbindung der unmittelbar beteiligten zwei Personen hinaus: Es kommt eine Nachricht, es geht ein Wunsch in Erfüllung, man erlöst eine Arme Seele. Die nichtrationale Logik kennt keinen Satz des Widerspruchs. Also kann man die genannten Folgerungen, die aus der Gleichzeitigkeit desselben Wortes gezogen werden, auch umkehren: Entweder heißt es, die zwei Personen leben noch lange zusammen, oder es heißt, sie sterben beide binnen einem Jahr.
An Wunscherfüllung glaubt man nicht nur bei Gleichzeitigkeit des Wortes, sondern auch wenn Sterne fallen. Wie in der antiken Mantik die Zukunft, je nachdem, ob es sich um divinatio artificiosa oder divinatio naturalis handelte, von natürlichen Ereignissen oder von künstlichen Veranstaltungen abhängig gemacht wurde, so kann die Wunscherfüllung aus entsprechenden selbstgeschaffenen oder vorgefundenen Bedingungen gefolgert werden. Auch in der spielerischen ›Kindermagie‹ wird die erwünschte Gleichzeitigkeit – nach dem Vorbild traditioneller magischer Praxis – provoziert oder bestätigt: Zwei Kinder geben sich schnell die Hand, indem sie sich gleichzeitig im stillen etwas wünschen; dann zählen sie zusammen auf drei und sagen gleichzeitig ›Schiller‹ oder ›Goethe‹; wenn sie das gleiche sagen, geht der Wunsch in Erfüllung; und dementsprechend im Welschland, nur daß anstelle von Schiller oder Goethe ›chien‹ oder ›chat‹, auch ›rose‹ oder ›bleuciel‹ gesagt werden muß.
Der Schweizerische Volkskunde-Atlas (Teil II, Karte 245) hat die Redensarten bei zufälliger Gleichzeitigkeit kartenmäßig dargestellt, und zwar aufgrund einer Umfrage: ›Was sagt man, wenn zwei Personen gleichzeitig dasselbe Wort aussprechen?‹ Dem Kommentar-Teil sind die vorstehenden Belege entnommen.
• H.L.A. VISSER: Zum Problem der nicht-rationalen Logik, in: Kant-Studien, 32 (1927), S. 242ff.; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens III, Spalte 863, Artikel ›Gleichzeitigkeit‹ von H. BÄCHTOLD-STÄUBLI; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VIII, Spalte 1661f., Artikel ›Vielliebchen‹ von P. SARTORI.
An Wunscherfüllung glaubt man nicht nur bei Gleichzeitigkeit des Wortes, sondern auch wenn Sterne fallen. Wie in der antiken Mantik die Zukunft, je nachdem, ob es sich um divinatio artificiosa oder divinatio naturalis handelte, von natürlichen Ereignissen oder von künstlichen Veranstaltungen abhängig gemacht wurde, so kann die Wunscherfüllung aus entsprechenden selbstgeschaffenen oder vorgefundenen Bedingungen gefolgert werden. Auch in der spielerischen ›Kindermagie‹ wird die erwünschte Gleichzeitigkeit – nach dem Vorbild traditioneller magischer Praxis – provoziert oder bestätigt: Zwei Kinder geben sich schnell die Hand, indem sie sich gleichzeitig im stillen etwas wünschen; dann zählen sie zusammen auf drei und sagen gleichzeitig ›Schiller‹ oder ›Goethe‹; wenn sie das gleiche sagen, geht der Wunsch in Erfüllung; und dementsprechend im Welschland, nur daß anstelle von Schiller oder Goethe ›chien‹ oder ›chat‹, auch ›rose‹ oder ›bleuciel‹ gesagt werden muß.
Der Schweizerische Volkskunde-Atlas (Teil II, Karte 245) hat die Redensarten bei zufälliger Gleichzeitigkeit kartenmäßig dargestellt, und zwar aufgrund einer Umfrage: ›Was sagt man, wenn zwei Personen gleichzeitig dasselbe Wort aussprechen?‹ Dem Kommentar-Teil sind die vorstehenden Belege entnommen.
• H.L.A. VISSER: Zum Problem der nicht-rationalen Logik, in: Kant-Studien, 32 (1927), S. 242ff.; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens III, Spalte 863, Artikel ›Gleichzeitigkeit‹ von H. BÄCHTOLD-STÄUBLI; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VIII, Spalte 1661f., Artikel ›Vielliebchen‹ von P. SARTORI.