Redensarten Lexikon
Tag
Verschieden wie Tag und Nacht: völlig verschieden, diametral entgegengesetzt; der geläufige redensartliche Vergleich bezeichnet einen vollkommenen Gegensatz; vgl. französisch ›comme le jour et la nuit‹, dagegen amerikanisch ›as different as chalk from cheese‹.    Zu seinen Tagen kommen war eine altdeutsche Rechtsformel für: mündig werden, Jahr. Du suchst wohl den gestrigen Tag? fragt man einen, der zerstreut nach etwas herumsucht, ohne es zu finden. Die Frage ist ein bildlicher Scherz, der den Eindruck der Vergeblichkeit dieses Suchens charakterisiert. Die Redensart wird meist auf eine historische Anekdote zurückgeführt, die sich in den ›627 Historien von Claus Narren‹ (1572) des Volksschriftstellers W. Büttner findet, wonach der Hofnarr Claus (gest. 1515) den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen, der klagt: ›Den Tag haben wir übel verloren‹, tröstet: »Morgen wollen wir alle fleißig suchen und den Tag, den du verloren hast, wohl wieder finden«.
   Dem lieben Gott den Tag stehlen: ein Faulenzer sein, ein ›Tagedieb‹ sein (schon mittelniederdeutsch ›dachdêf‹).
   In den Tag hinein leben: unbekümmert um die Zeitrechnung, sorglos, ohne Überlegung leben; schon lateinisch ›in diem vivere‹, was auch der Humanist Erasmus von Rotterdam in seinen ›Adagia‹ (I, 8, 62) bucht: »In diem vivere, est praesentibus rebus contentum vivere atque ex parato, minime sollicitum de futuris«. Die Wendung war auch im klassischen Latein geläufig (vgl. z.B. Cicero, De orat. II, 40, 169; Plinius, Ep. V, 54); vgl. französisch ›vivre aujour le jour‹.
   In den Tag hineinreden: viel Unüberlegtes reden; schon Lessing schrieb: »Wie kann der Mann nur so in den Tag hineinschreiben, und seine Leser glauben machen, daß er es besser verstehe?«
   Ähnlich auch die Redensart: Viel reden, wenn der Tag lang ist: nicht sehr vertrauenserweckend reden; jemand, der so daherredet und auf dessen Worte man sich nicht verlassen kann: ›Der redet viel, wenn der Tag lang ist‹, reden.
   Tag werden wird im Scherz oft auf geistige Helle und Klarheit übertragen: Jetzt wird's Tag, auch: ›Jetzt dämmerts‹, von einem, dem die Wahrheit einzuleuchten beginnt. Vergleiche niederländisch ›Daarna worde het dag‹.
   Nun wird's aber Tag!: jetzt reicht es aber, jetzt habe ich genug davon!; ein Ausruf, wenn man geärgert wird und wütend ist.
   Ähnlich: An den Tag (zutage) bringen (oder kommen): Ans Licht kommen. vgl. französisch ›se faire jour‹.
   Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm 115 trägt den Titel: ›Die klare Sonne bringt's an den Tag‹ (Aarne-Thompson 960). Das Grimmsche Märchen ist die Quelle, bildet Titel und Kehrreim des Gedichtes ›Die Sonne bringt es an den Tag‹ von Adalbert von Chamisso (1781-1838), Sonne. Vergleiche auch Kinder-und Hausmärchen der Brüder Grimm 1, 16 und 60.
   Etwas an den Tag legen: etwas überraschend erkennen lassen, zeigen; z.B. ›Eifer an den Tag legen‹.
   Bei Tage besehen ... sieht oft alles ganz anders aus: genauer, besser betrachtet, überlegt, zeigt sich eine Sache von ganz anderer Seite.
   Dem Tag die Augen ausbrennen: abends zu zeitig oder morgens zu lange das Licht brennen; schwäbisch ›e Loch in de Tag brenne‹, Loch; westfälisch ›den Dag ansteaken‹.
   Dem Tag ein Licht anzünden: etwas Unnützes tun, Licht.
   Alle Tage, die Gott gibt: immer; Am Jüngsten Tage, eher nicht: niemals; Dafür ist der kürzeste Tag lang genug sagt man von einer unangenehmen Beschäftigung, vgl. niederländisch ›De kortste dag is daar lang genoeg voor‹; Seinen guten Tag haben: gut gelaunt sein; Vor Tag und Tau (stabreimende Zwillingsformel): in aller Herrgottsfrühe; vgl. niederländisch ›voor dag en dauw‹.
   Es geht mir von Tag zu Tag besser und besser.
Zum geflügelten Wort wurde die Lehre des französischen Heilkünstlers Émile Coué (1857-1926), nach der Kranke durch Autosuggestion geheilt werden sollen. In seinem Hauptwerk heißt es: »Er (der Kranke«) muß am Morgen, bevor er aufsteht, am Abend, gleich wie er zu Bett geht, die Augen schließen ..., dann muß er ganz eintönig zwanzigmal folgendes Sätzchen wiederholen: Mit jedem Tage geht es mir in jeder Hinsicht immer besser und besser« (›Tous les jours, a tous points de vue, je vais de mieux en mieux‹. Man sagt redensartlich auch gleichbedeutend: ›Bei mir Coué‹. Der Couéismus wurde in den Jahren 1924-25 in Deutschland fast eine Art Epidemie.
   Auf seine alten Tage: in hohem Alter; vgl. französisch ›sur ses vieux jours‹.
   Die Redensart Den Tag vor dem Abend loben ist aus dem längeren Sprichwort abgeleitet: ›Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben‹. Dieses ist auch literarisch mehrfach aufgegriffen worden, so z.B. von Friedrich v. Hagedorn in seiner Fabel ›Der Zeisig‹: »Man muß den schönsten Tag nicht vor dem Abend loben«; ebenso bei Schiller in ›Wallensteins Tod‹ (V, 4):

   Und doch erinnr' ich an den alten Spruch:
   Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Der vermutlich älteste Beleg, der ins 10. oder 11.
Jahrhundert datiert werden darf, findet sich im ›Hávamál‹, dem alten Sittengedicht der Edda (81, 1): »at kveldi skal dag leyfa. », d.h. (erst) am Abend soll man den Tag loben, was dann fortgesetzt wird:

   Das Weib, wenn es verbrannt ist,
   Das Schwert, wenn es versucht ist,
   Das Mädchen, wenn es vermählt ist,
   Das Eis, wenn man hinübergelangt,
   Das Bier, wenn es getrunken ist.

Der allgemeine Gedanke ›nichts zu früh loben!‹ hat an weit entlegenen Stellen zu gleichartigen sprichwörtlichen Prägungen geführt. Dasselbe Sprichwort kommt z.B. auch schon in lateinischen Epigrammen des Mittelalters vor: »Sed vero laus in fine canitur, et uespere laudatur dies« (12. Jahrhundert), und es begegnet zur selben Zeit auch im mittelalterlichen Frankreich: »Au vespre loue len le iour«. In den ›Schwabacher Sprüchen‹ vom Ende des 14. Jahrhunderts heißt es: »Ein guten tag sol man auff den obent loben«, und um 1550 ist es in der Form geläufig: ›Guoten tac man zabende loben sol‹. Die heute als fest betrachtete Form des Sprichworts mit der typischen formelhaften Einkleidung ›Man soll ...‹ hat sich erst im Laufe der Zeit herausgebildet und eine feste Tradition begründet.
   Die Sentenz ›Noch ist nicht aller Tage Abend‹ findet sich schon bei dem römischen Schriftsteller Livius (XXXIX, 26, 9): »Nondum omnium dierum solem occidisse« (= noch sei die Sonne aller Erdentage nicht untergegangen).
   Die hundert Tage von jemandem nennt man die wichtigsten Tage, in denen er sich zu bewähren hat. Die Wendung wird meist auf Herrscher oder führende Politiker bezogen, die nur in einem kurzen Zeitraum regieren, sich in einer Wahlperiode durchsetzen müssen. Die Redensart bewahrt die Erinnerung an Napoleons Versuch, nach seiner Absetzung als Kaiser von der Insel Elba aus nochmals die Macht zu ergreifen. Seine Herrschaft der hundert Tage begann mit seiner überraschenden Landung am 1. März 1815 bei Cannes und endete mit seiner Niederlage am 18. Juni 1815 bei Belle-Alliance (auch: Waterloo), nach der er lebenslänglich auf die englische Insel St. Helena verbannt wurde.
   Auch das Zwischenreich von 1815 nennt man ›les cent jours‹ = die hundert Tage, obwohl es über diese Zeitdauer hinausging. Die Schuld daran trägt der Seinepräfekt Chabrol, der den am 19. März aus Paris verschwundenen Ludwig XVIII. bei seinem Wiedereinzug am 8. Juli als schlechter Rechner in seiner Anrede »hundert Tage« aus Paris abwesend sein ließ.
   Die kurze Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. vom 9. März bis 15. Juni 1888 bezeichnet man ähnlich als die ›Neunundneunzig Tage‹.
   Die Tage zählen: etwas sehr sehnsüchtig erwarten.
   Sich einen Tag im Kalender rot anstreichen: sich einen Tag wegen einer besonderen Begebenheit gut merken.
   Jemandem guten Tag und guten Weg sagen: sich nicht länger bei jemandem aufhalten als nötig ist, um ihn zu grüßen.
   Die folgenden Ausdrücke gehen auf literarische Quellen zurück. Vom Sonntag, an welchem ja nicht gearbeitet wird, sagt man: Das ist der Tag des Herrn. Ludwig Uhland verfaßte 1805 ›Schäfers Sonntagslied‹, aus dem dieser Ausdruck stammt. Die lateinische Bezeichnung ›dies Dominica‹ (= Tag des Herrn) für den Sonntag findet sich aber schon seit dem frühen Mittelalter
   ›Den lieben, langen Tag... hab' ich nur Schmerz und Plag‹ ist der Anfang eines Gedichts von Philipp Jacob Düringer (1807-70): ›Des Mädchens Plage‹.
   Seine Tage haben: menstruieren; auch die ›Kritischen Tage der Frau‹ umschreiben dasselbe.
   Tag der offenen Tür haben: Tag, an welchem Institute, Behörden oder Verwaltungen von Bürgern besucht und besichtigt werden können; vgl. französisch ›Journée portes ouvertes‹.
   Seinen Tag von Damaskus erleben: ein anderer Mensch werden. Saul.
   Vor Tag und Tau Tau.

• J. POMMER: Dem Tag die Augen ausbrennen, in: Das Deutsche Volkslied 12 (1910). S. 26-27; A. HEUSLER: Sprichwörter in den eddischen Sittengedichten, in: Zeitschrift für Volkskunde 26 (1916), S. 42f.; A. TAYLOR: ›In the evening praise the day‹, in: Modern Language Notes 36 (1921), S. 115-118 (s.d. weitere historische Nachweise und Literatur-Angaben); W.E. PEUCKERT: Artikel ›jüngster Tag‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens IV, Spalte 859-884; G. JUNGBAUER: Artikel ›Tag‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VIII, Spalte 635-650; A. ERLER: Artikel ›Tag und Nacht‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 33. Lief. Spalte 111-122.
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