Redensarten Lexikon
tabu
Etwas ist tabu: es ist verboten, gefährlich, unantastbar, heilig. Der Ausdruck ›tapu‹ oder ›tabu‹ stammt aus Polynesien und bedeutet ursprünglich das nach einer geheiligten Sitte für eine bestimmte soziale Gruppe Gefährliche und Verbotene. James Cook hörte ihn zuerst 1777 auf den Tonga-Inseln und führte ihn in den abendländischen Sprachgebrauch ein; vgl. französisch ›C'est tabou‹ oder ›C'est un tabou‹.    In der naturvölkischen Religion der Südsee galt alles als tabu, was mit einer besonderen Kraft, einem Orenda oder Mana erfüllt ist: Götter, Dämonen, Könige, Priester und Häuptlinge, aber auch deren Eigentum. Die Wendung Etwas mit einem Tabu belegen weist auf die Vorstellung von der Tabuiergewalt. Sie gab Priestern und Häuptlingen große Macht, denn durch das Berühren eines Menschen, des Bodens, eines Gegenstandes und sogar durch ihren Befehl vermochten sie zu tabuieren, d.h. zu verbieten, dem allgemeinen Gebrauch zu entziehen, abzusondern, zu opfern, zu weihen und zu heiligen. Diese Tabukraft, die als erblich galt, erregte bei den- Schwächeren und Untergebenen Scheu, Ehrfurcht und Furcht und den festen Glauben, daß eine Übertretung des Tabus, also ein Frevel, zur unausweichlichen Bestrafung durch die Götter u.a. übernatürliche Wesen führen müsse, da diese streng auf die Einhaltung der Tabus achten.
   Im heutigen Sprachgebrauch ist der Begriff tabu sehr häufig und hat immer mehr negative Bedeutung erlangt. Gemeint sind damit unbewältigte Probleme, Vorurteile, überlebte, aber durch die Tradition geheiligte Anschauungen und Grundsätze, die kritisch betrachtet, diskutiert und schließlich beseitigt werden sollen. Die heutigen Redensarten beinhalten deshalb fast immer die Einstellung gegen die Tabus, die man nicht mehr als bindend für sich betrachtet. Bei einem Vergleich der Wendungen ergibt sich eine gewisse Steigerung im sprachlichen Ausdruck, die der wachsenden Angriffslust gegen Einengendes und Überlebtes entspricht. Die Redensart Etwas ist nicht mehr tabu meint: es ist nicht mehr unverletzlich, es kann öffentlich darüber diskutiert werden. Die Wendung Ein Tabu verletzen hieß ursprünglich ein Verbot übertreten, die Überlieferung mißachten. Heute ist die Bedeutung eingeengt worden auf das Verletzen der guten Sitte und Moral, es kann aber auch das Aufbegehren gegen überholte politische Meinungen und Grundsätze darunter verstanden werden; vgl. französisch ›détruire (zerstören) un tabou‹.
   Forderungen, die immer häufiger in der Presse begegnen, sind: Ein Tabu mutig in Angriff nehmen, Überlebte Tabus abbauen, Alte Tabus über Bord werfen. Hinter ihnen steht das Bewußtsein, daß bei den ständigen Wandlungen wohl neue Tabus entstehen, die alten aber beseitigt werden müssen, weil sie die Entwicklung hemmen oder den modernen Verhältnissen nicht mehr gerecht werden können. Die Redensart Ein Tabu brechen: es mit Gewalt zerstören, spiegelt etwas von dem Widerstand, den Tradition und konservative Kräfte den Neuerungen entgegensetzen.
   Den Wandel in der Einstellung zum Tabu zeigt am besten die heute in verächtlichem Sinne gebrauchte Wendung: Er ist tabu für mich. Sie meint nicht, daß ein Mensch und seine Lebenssphäre einem anderen als heilig und unantastbar erscheint, sondern, daß dieser nichts mehr mit ihm zu tun haben will, daß er ihn aus seinem Gedächtnis verbannt und daß selbst sein Name nicht mehr genannt werden soll.

• S. FREUD: Totem und Tabu (1912); F.R. LEHMANN: Die polynesischen Tabusitten (Leipzig 1930); F. PFISTER: Tabu. Ein Beitrag zu »Wörter und Sachen«, in: Obd. Zeitschrift für Volkskunde 6 (1932); W. HAVERS: Neuere Literatur zum Sprachtabu, in: Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss. Wien, Phil.-hist. Klasse, Bd. 223 (1946); Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VIII, Spalte 629ff.; A. DENIS: Taboo (London 1966); L. RÖHRICH: Tabus in Volksbräuchen, Sagen und Märchen, in: Festschrift für Werner Neuse (Berlin 1967), S. 8-23; N. SIDLER: Zur Universalität des Inzesttabu (Stuttgart 1971); R.B. BROWNE (Ed.): Forbidden Fruits. Taboos and Tabooism in Culture (Bowling Green [Ohio] 1984).
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