Redensarten Lexikon
Stich
Etwas (jemanden) im Stich lassen: etwas preisgeben, jemanden in einem kritischen Augenblick nicht unterstützen, ihm nicht helfen, ihn in Gefahr verlassen; versagen, nicht funktionieren.    Diese seit dem Ende des 15. Jahrhunderts vereinzelt, vom 17. Jahrhundert an sehr reich bezeugte Redensart ist auf die verschiedenste Weise erklärt worden. Fr. Seiler führt in seiner ›Deutsche Sprichwörterkunde‹ (S. 232f.) nicht weniger als sechs Erklärungen an, dazu noch vier bis fünf Varianten. Völlig gesichert ist keine. Am wahrscheinlichsten scheint die Herleitung vom Turnierwesen, wobei, etwa im Massenturnier, ein Kämpfer die Gefährten verläßt, die nun ›im Stich‹ des Feindes bleiben. Die Redensart ist allerdings wohl nicht unmittelbar aus dem ritterlichen Turnierwesen des Mittelalters in die Umgangssprache übergegangen, sondern wahrscheinlich aus dem bürgerlichen ›Stechen‹, Kampfspielen, die in Nachahmung der ritterlichen Turniere im ausgehenden Mittelalter von den Städten abgehalten wurden. Es gab Gesellenstechen, Fischerstechen und so weiter, bei denen es um einen Preis ging, so daß stechen die Bedeutung bekam: um einen Preis ringen, streiten.
   In Rollenhagens ›Froschmeuseler‹ (1595; v. K. Goedecke) gibt es zwei Stellen, die geeignet sind, mehr Licht auf die Sache zu werfen. Über den rittermäßigen Kampf zwischen Fröschen und Mäusen heißt es (I, 2, 11, Verse 36ff.):

   Und wer ich da so lang geblieben,
   Und nicht zuvor davon geflogen,
   Eh denn es all hat ausgezogen,
   Ich wer zerhackt elendiglich,
   Mit dem or geblieben im stich.

Auch an anderer Stelle wird der ganze Kampf »der Stich« genannt (III, 3, 8, Vers. 57). Läßt man jemanden im Stich, so läßt man ihn im Kampf allein (Hauschild, S. 265). Von daher bekam ›Stich‹ die Bedeutung der lebensgefährlichen Situation, der Todesgefahr, wie in der Redensart: Sich in den Stich geben: sich dem Tod oder der Todesgefahr aussetzen; belegt bei Luther 8, 278a: »o welch ein herz ist das gewest, wie tief gedemütiget sichs, gibt sich in den Stich und nimpt gottes straf mit willigem Gehorsam an«.
   Späterhin wurde die Redensart sogar auf Schützenfeste übertragen, wo man statt mit der Lanze mit der Armbrust kämpfte. Zwei, die gleich gut geschossen hatten, mußten ›miteinander stechen‹, indem sie noch einmal schossen. Vom Schießen ging der Ausdruck auf andere Spiele, wie Kegel- und Kartenspiel, über.
   Beim Fußturnier, das unter Kaiser Maximilian aufkam, stachen sich die Kämpfer über eine hölzerne Schranke hinweg. Da sie ohne Beinzeug kämpften, war es streng verpönt, unter der Schranke durchzustechen, das nannte man ›durch den Zaun stechen‹, später (in der Preußischen Kammerordnung von 1648) ›Durchstich treiben‹ und heute noch üblich als ›Durchstechereien treiben‹ im Sinne von betrügerische Manipulationen in einer Vertrauensstellung vornehmen.
   Übertragen sagt man auch ›Jemanden bestechen‹, in einer früheren Form ›Jemanden zu stechen suchen‹, nämlich ›mit dem goldenen Spieß‹, das heißt ihn durch Gold korrumpieren. Diese Redensart findet sich bei Luther (Sir. 8, 3) »Denn viele lassen sich mit Gelde stechen, und es bewegt auch wohl der Könige Herz«. – Ganz unwahrscheinlich ist die Herleitung der Redensart von der Biene, die ihren Stachel beim Stich in der Wunde zurückläßt, obgleich Luther die Redensart einmal so deutet (›Auf des Bocks zu Leipzig Antwort‹, 1521; Weimarer Ausgabe, Bd. VII, S. 277): »die weil ich sihe, das du deyne seele daran setzen wilt, und wie eine tzornige bien das leben ym stich lassen«.
   Auch die Wendung im Stich bleiben: verlorengehen, kommt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gelegentlich vor; so 1639 bei Lehmann (S. 921; ›Wohlthat‹ 42): »Die guten Werck vnd Wohlthaten, so den Armen geschehen, folgen vns nach in den Tod vnd ins ewige Leben, das man sonst erspart und hinterlassen, das bleibt im Stich«.
   Stich halten: sich als zuverlässig (richtig, wahr) erweisen, die Probe bestehen; bei Luther und im 16. bis 17. Jahrhundert in der Form ›den Stich halten‹, seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in der artikellosen Form bezeugt. Auch der Ursprung dieser Redensart ist nicht sicher. Man hat sie vom Stich beim Nähen abgeleitet (so schon 1741 Frisch in seinem ›Teutsch- lateinischen Wörterbuch‹), dann vom Stich beim Kartenspiel (›den Stich behalten, festhalten‹); am wahrscheinlichsten ist jedoch wiederum die Herkunft vom Kampf mit der Waffe (›den Stich des Gegners aushalten‹).
   Hieb- und stichfest mußte ein Turnierpanzer sein; heute überträgt man diese Redensart auf Argumente, die so überzeugend sind, daß der Gegner keine Gegenargumente findet. Ähnlich sagt man von einem Argument, es sei nicht ›Stichhaltig‹; vgl. englisch ›it will not hold water‹.
   Wenn bei einer letzten ›Stichwahl‹ zwischen zwei Bewerbern der eine den anderen ›Aussticht‹, so klingt auch hier das ritterliche Stechen an. Zwar kennt die ritterliche Dichtung des hohen Mittelalters die Wendung noch nicht, aber die ältesten Belege zeigen deutliche Beziehung auf den Kampf: »Also helt dieser glaube den puff und stich nicht« (Luther, Weimarer Ausgabe, Bd. XVI, S. 234); »Derhalb das buch den stich nicht halten würde, so es solt von den widersachern angefochten werden« (Luther, Jenaer Ausgabe Bd. II, S. 279a). Von den fünf weisen Jungfrauen sagt Luther: »Sie haben Gottes Werk bei sich und nicht einen gedichteten, gemachten Wahn, der den Stich nicht halten mag«.
   Auf das Kartenspiel weist jedoch folgender Beleg hin:

   Des Pfennigs mancher haust
   Gab er Unterschlauf,
   Hält den Stich – ich passe
   (F.W.v. Ditfurth, Die historisch-politischen Volkslieder des Dreißigiährigen Krieges, Nr. 50, 58).

Den letzten Stich halten (auch vom Kartenspiel): als Sieger bleiben:

   Als widern Kaiser bochet ich
   Und hielt doch nicht den letzten Stich
   (Ebd. Nr. 18, 17).

Immerhin erscheint ›Stich halten‹ gelegentlich schon im 16. Jahrhundert mit Beziehung auf die Näharbeit, besonders in der Form ›Keinen Stich halten‹ und in der Doppelform ›(den) Stich und (die) Farbe halten‹ (vgl. ›Farbe‹), ferner als ›Stich und Strich halten‹ mit Anklang an bergmännische und Goldarbeitergebräuche.
   Jemandem einen Stich geben (versetzen): ihn verletzen, kränken; eine dem Gesprächspartner unangenehme Angelegenheit durch eine Bemerkung andeuten (vgl. ›Jemandem eine Spitze, einen Seitenhieb geben‹).
   ›Die Sonne sticht‹ rührt, ähnlich wie der ›Stechende Blick‹, vom Bild des Strahles her, der von etwas ausgeht und konkret mit einer Spitze vorgestellt wird, die fühlbar ist.
   Einen Stich haben: verrückt sein, wobei wohl ursprünglich an den Sonnenstich gedacht ist, der zu Fieber und Ohnmacht führt.
   Im Niederdeutschen fragt man einen, den man für nicht ganz gescheit hält, gern spöttisch: ›Du hast wohl'n Stich in der Birne (im Kopf)?‹ Hier liegt aber wohl eine Anspielung auf angestochenes Obst vor.
   ›Etwas hat einen Stich‹, zum Beispiel ›Die Milch hat einen Stich‹, ›Das Bild hat einen Stich ins Blaue‹, bezeichnet die Abweichung vom Normalen, das heißt, die Milch ist sauer, beziehungsweise das Bild hat eine zu starke Blautönung. Ähnlich sagt man, daß ›Kinder voneinander abstechen‹, das heißt, ihre Charaktere sind völlig verschieden.
   ›Einen Abstecher machen‹, auch ›Stichfahrten‹ von einem bestimmten Ort aus unternehmen, von der geraden Route abweichen und einen abseitsliegenden Ort aufsuchen, um dann wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Die Redensart ist vielleicht vom Bild des Zirkels genommen, mit dem man die Strecke auf der Landkarte abmißt.

• O. HAUSCHILD: Im Stiche lassen, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 24 (1910), S. 266-265; DR. REINHARDT: Über die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung der Redensart ›im Stich(e) lassen‹, in: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 24 (1910), S. 669-670; H. LADSTÄTTER: Zur Redensart ›im Stiche lassen‹ in: Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins 25 (1910), S. 210-212; FR. SEILER: Deutsche Sprichwörter-Kunde, S. 232f.
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