Redensarten Lexikon
stehlen
Sich davonstehlen: sich heimlich davonschleichen, sich unbemerkt, geräuschlos entfernen. Die Wendung ist bereits in mittelhochdeutscher Zeit häufig. Sie begegnet zum Beispiel im ›Iwein‹ litarisch, und im ›Nibelungenlied‹ (663, 1c) heißt es: »er stal sich von den frouwen«. Auch Schiller verwendet die Redensart in seiner ›Ode an die Freude‹:
   Ja – wer auch nur eine Seele
   Sein nennt auf dem Erdenrund!
   Und wer's nie gekonnt, der stehle
   Weinend sich aus diesem Bund!

Die Wendung ist bis heute geläufig und auch in den Mundarten und anderen Sprachen verbreitet, vgl. niederdeutsch ›sik af stelen‹ und englisch ›to steal oneself away‹.
   Sich einem stehlen: sich jemandem entziehen. Die Redensart ist in mittelhochdeutscher Form in Hugos von Trimberg ›Renner‹ (V. 2999) belegt:

   Swer sich der werlde wölle steln ...
   der neme sich geistliches lebens an.

Auch später ist sie litarisch reich bezeugt; vgl. französisch ›se dérober à quelqu'un‹.
   Sich ins Haus (Herz) stehlen: sich heimlich einschleichen. Ähnlich bereits im Mittelhochdeutschen, bei Freidank (131, 19) zum Beispiel steht folgende Warnung:

   Swer güetlich grüezet einen man,
   dem er guotes nicht engan,
   der stilt sich hin zer helle.

Die mittelhochdeutsche Wendung Minne steln: unerlaubte Zärtlichkeiten tauschen, ist in Wolframs ›Parzival‹ (8, 24) bezeugt: »wan kunde ouch ich nu minne steln!« Sie ist heute in dieser Form nicht mehr gebräuchlich, ihr entspricht dem Sinne nach etwa die heutige Redensart ›Jemandem einen Kuß rauben‹, obwohl die Bedeutung hier eingeschränkter ist; vgl. französisch ›dérober un baiser à quelqu'un‹ (ebenfalls veraltet).
   Dagegen ist die Wendung Einem das Herz stehlen bis heute allgemein üblich. Sie ist bereits im Alten Testament bezeugt (Gen 31, 20): »Also stahl Jakob dem Laban zu Syrien das Herz«, das heißt er täuschte ihn, und an anderer Stelle (2 Sam 15, 6) heißt es: »Auf diese Weise tat Absalom dem ganzen Israel, wenn sie kamen vor Gericht zum König, und stahl also das Herz der Männer Israels«, das heißt durch Versprechungen und herablassende Liebenswürdigkeit versuchte sich Absalom beim Volk einzuschmeicheln, um seinem Vater das Vertrauen und die Liebe seiner Untertanen zu stehlen. Herz hat hier die Bedeutung von Verstand, Vertrauen und Zuneigung, wird aber bei der heutigen Verwendung der Redensart meist im Sinne von Liebe gebraucht, wie schon im Liederbuch der Clara Hätzlerin: (I, 43, 56) »mein hertz hat sy gestolen«. Vergleiche französisch ›dérober le caeur de quelqu'un‹, im Sinne von das Herz eines Mannes oder eines Mädchens brechen.
   Einem die Ehre stehlen, auch: Ihm Lob und Ehre stehlen: ihn böswillig verleumden, sein Ansehen schädigen, ihn in der Gesellschaft unmöglich machen, oder: ihn betrügen, einem Hörner aufsetzen und dem Gespött preisgeben. Die Redensarten waren besonders im 16. Jahrhundert beliebt, zum Beispiel heißt es im Liederbuch der Clara Hätzlerin (2, 76, 81):

   West es dein herre, wir müsten sterben,
   Wann du jm hetst sein ere gestolen!

Jemandem den Glauben (die Hoffnung, die Kraft) stehlen: seine Tatkraft lähmen, ihn entmutigen.
   Einem das Leben stehlen: ihn töten, umbringen, heimtückisch ermorden. Die euphemistische Umschreibung besagt eigentlich, daß die einem Menschen zugemessene und ihm daher zustehende Lebenszeit arglistig verkürzt und geraubt wird. Bereits Sebastian Franck gebrauchte die Wendung literarisch (›Chronicon Germaniae‹, 1538, 18b):
   Zuoletst vermaehelt er jm Agrippinam,...
   Die stal jm zuo Mentz mit gifft das leben.

Einem die Zeit stehlen: ein lästiger Besucher sein; vgl. französisch ›voler le temps de quelqu'un‹; dagegen: Sich die Zeit stehlen (müssen): Dringendes vorrangig behandeln, seinen Terminplan verändern und anderes in größter Eile erledigen, um Zeit zu erübrigen, auch: seine Freizeit opfern, sich selbst um angenehme Stunden bringen.
   Dem lieben Gott den Tag stehlen: faulenzen, Tag.
   Jemandem die Schau stehlen Schau.
   Sich vom Stehlen ernähren, ähnlich: Vom Stehlen leben: keiner geregelten Arbeit nachgehen, Einbrüche und Raubzüge unternehmen, Diebesgut zu Geld machen. Die Wendungen werden oft scherzhaft von einem gebraucht, der seinen genauen Beruf nicht angeben möchte, wenn er daraufhin angesprochen wird, oder wenn man sich über das aufwendige Leben eines anderen wundert, dessen Geldquelle oder Vermögenslage man nicht kennt; vgl. französisch ›vivre de larcins‹.
   Mit dem wär' nicht gut stehlen heißt es von einem, auf den man sich nicht verlassen kann, der nicht verschwiegen ist, den man bei schwierigen und gefährlichen Unternehmungen besser nicht beteiligt. Dagegen umschreibt die Wendung Mit jemandem Pferde steh-
len können Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Geschicklichkeit, aber auch Abenteuerlust und Freude an gewagten Streichen eines Freundes, Pferd.
   Woher nehmen und nicht stehlen?: etwas ist nicht zu beschaffen, die finanziellen Mittel sind erschöpft. Die Frage wird oft in die Rede eingeflochten, um die Unmöglichkeit nachdrücklich zu bestätigen.
   Oft wird in den sprachlichen Wendungen das Wort ›stehlen‹ umgangen, wenn es sich nur um geringfügige Vergehen handelt: ›Etwas (ehrlich) wegfinden‹, ›Etwas mitgehen heißen‹, ›Etwas auf die Seite bringen‹, ›Englisch einkaufen‹, ›Krumme (lange) Finger machen‹, ›Organisieren‹, ›An Land ziehen‹. Auch in den Mundarten begegnen euphemistische Ausdrücke, wie ›Erbeuten‹, ›Kapern‹, ›Klauen‹, ›Krallen‹, ›Mausen‹.
   Einige sprichwörtliche Feststellungen beruhen auf einer wiederholten Erfahrung: Einem Diebe ist bös (nicht gut) stehlen: schlaue und erfahrene Leute sind schwer zu hintergehen. Die Wendung ist in ähnlicher Form bereits von Sebastian Franck (1, 87b) verzeichnet: »Es ist boesz stelen wo der wirt ein dieb ist«. So sagt man heute noch: Wo der Wirt ein Dieb ist, ist nicht gut stehlen. Vergleiche niederländisch ›Het is kwaad stelen waar de waard een dief is‹ und französisch ›Il est bien larron qui vole un larron; on ne tend point de filet à l'épervier‹ (beides veraltet).
   Wer einmal stiehlt, heißt immer ein Dieb: wer sich einmal schuldig gemacht hat, gerät immer als erster wieder in Verdacht, er verliert seinen schlechten Ruf nicht wieder. Vergleiche das ähnliche deutsche Sprichwort ›Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er gleich die Wahrheit spricht‹. Die Wendung ist auch in anderen Sprachen zu finden, zum Beispiel heißt es niederländisch ›Wie eens steelt, is altijd een dief‹ und englisch ›Once a knave ever a knave‹. Vergleiche auch das französische Sprichwort ›Qui vole un aeuf vole un boeuf (wörtlich: Wer ein Ei gestohlen hat, kann auch einen Ochsen stehlen), im Sinne von: Wer einmal gestohlen hat, kann es später nicht mehr lassen.
   Besonders beliebt sind redensartliche Vergleiche, die die Geschicklichkeit und die Erfolge eines Diebes hervorheben. In den Mundarten herrscht der Vergleich mit diebischen Vögeln vor: Stehlen wie ein Rabe (Nachtrabe); niederdeutsch ›He stillt as een rook‹; niederländisch ›Hij steelt als eene raven‹, oder Stehlen wie eine Elster (Dohle), die Elster trägt tatsächlich glänzende Gegenstände in ihr Nest, die sie selbst aus Wohnräumen entführt. Vergleiche schweizerisch ›Er stiehlt wie eine Dole (Atzel)‹; französisch ›être voleur comme une pie‹.
   Auch literarisch hat die Redensart Verwendung gefunden, zum Beispiel heißt es in Carl Zuckmayers ›Schinderhannes‹ (1. Akt): »Stehlt wie siwwe Elstern«. Die Wendung Ärger stehlen als ein Böhme begegnet bereits literarisch in Grimmelshausens ›Simplicissimus‹ (5, 6, S. 392, Neudruck): »meinem Knecht, welcher aerger stelen konte als ein Böhme«.
   Von einem überaus geschickten Dieb heißt es: Er stiehlt einem das Weiße aus den Augen: er holt sich sogar das, was am sorgfältigsten gehütet wird wie der Augapfel.
   Eine noch größere Steigerung enthält die Redensart Der Schlange die Eier unter dem Schwanze (Zagel) fortstehlen: mit der gefährlichsten Situation und den besten Sicherungsvorkehrungen gegen den Diebstahl fertig werden, äußerst gerissen sein. In ähnlichem Sinne schreibt Fritz Reuter in der ›Stromtid‹ (2, 21): »Hei stöhl de annern mähren den hawer vör't mul weg«.
   Die scherzhafte Wendung Wer die bei Abend stiehlt, bringt sie bei Tage wieder wird vor allem auf die häßliche oder streitsüchtige Frau bezogen, deren Mängel, bei Licht besehen, sofort auffallen und abschrecken.
   Ähnlich sagt man im Niederdeutschen zu einem Mädchen, das sich vor dem Heimweg im Dunkeln fürchtet: ›Wer dich bei Tage besieht, läßt dich gern wieder laufen‹. Im Niederländischen wird eine ähnliche Wendung zur Selbstcharakterisierung in humorvollem oder ironischem Sinne verwendet, wenn man weiß, daß andere keine dauerhafte Freude an einem haben werden: ›Die mij van daag steelt, zal mij morgen wel weder terug brengen‹.
   Die Feststellung Er hat mehr gestohlen als erschwitzt meint: er hat nur das Wenigste durch Mühe und ehrliche Arbeit erworben.
   Dagegen meint der Hinweis Ich habe es nicht gestohlen das Gegenteil: der Besitz ist mühsam selbst erworben. Man legt Wert darauf, dies ausdrücklich zu betonen, um zu begründen, daß man nicht leichtfertig damit umgehen kann; vgl. französisch ›Je ne l'ai pas volé‹. Ebenfalls als Ablehnung ist die Redensart Ich habe mein Geld (meine Zeit) nicht gestohlen zu verstehen, das heißt ich will nichts davon vergeuden. Die holsteinische Wendung ›He meent wol dat ikt staalen heff‹ gilt als Krämerschimpf, wenn zuwenig für eine Ware geboten wird. Die Redensart begegnet hochdeutsch auch als Frage: Meint ihr, ich habe es gestohlen?
   Ich habe meine Beine nicht gestohlen sagt derjenige, dem übertrieben anstrengende Gänge zugemutet werden.
   Wie aus dem Spiegel gestohlen: wie sein Ebenbild, von auffallender Ähnlichkeit. Lessing verwendet die Redensart in seiner ›Emilia Galotti‹ (1, 4) literarisch.
   Etwas kann einem gestohlen werden (bleiben): es interessiert nicht mehr, sein Verlust würde nicht einmal beklagt und bekanntgemacht werden.
   Ähnlich der Ausruf: Du kannst mir gestohlen bleiben, oft mit dem Zusatz: ich holte dich nicht wieder! Die Redensart wird als Abweisung, Ablehnung und mundartlich als scherzhafte Verwünschung gebraucht und heißt: Ich will von dir nichts mehr wissen, ich habe eine so große Abneigung gegen dich, daß ich deine ständige Abwesenheit begrüßen müßte und nicht das geringste dagegen unternehmen würde, denn ich lege keinen Wert mehr auf dich. Vergleiche auch schweizerisch ›Chaust mer g'stole werde‹, du bist mir gleichgültig, aber auch: es wird nichts daraus.

• W. MÜLLER-BERGSTRÖM: Artikel ›Stehlen‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VII, Spalte 364-380.
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