Redensarten Lexikon
singen
Er singt nicht seines Vaters Liedlein: er ist völlig aus der Art geschlagen, er hält sich nicht an überlieferte Gewohnheiten und alte Bräuche, vgl. lateinisch ›Haud canit paternas cantiones‹. Er hat davon singen gehört, weiß aber nicht wo (in welchem Walde): er ist nur oberflächlich von einer Sache unterrichtet, er hat kaum eine Ahnung davon und will mitreden, vgl. ›Etwas läuten gehört haben‹.
Aus dem Singen ins Pfeifen kommen: vom Thema abschweifen, auf etwas kommen, das nicht zur Sache gehört. In Pommern bedeutet eine ähnliche Wendung Anerkennung: ›De kann singen un fläut't datô‹, er ist überaus geschickt, so daß es ihm zuzutrauen ist, daß er selbst unmöglich Scheinendes fertigbringt.
Guter und schlechter Gesang wird durch eine ganze Reihe redensartlicher Vergleiche gekennzeichnet: Singen wie eine Heidelerche, wie eine Nachtigall: eine hohe, klare und geübte Stimme besitzen; im Niederdeutschen sagt man bewundernd: ›Singen kann dat Wicht, do is'n Nachtigall 'n Beest (Kuh) giärgen‹; vgl. französisch ›chanter comme un rossignol‹, auch: Singen wie ein Kantor, wie nach Noten: richtig singen, sich im Gesang nicht beirren lassen.
Singen wie die Vögel im Handsamen: sorglos, voller Freude sein und seinem Wohlbefinden durch Singen Ausdruck verleihen.
Singen, wie einem der Schnabel gewachsen ist: sich keine Vorschriften machen lassen, ohne besondere Schulung seiner Stimme lustig drauflossingen, keine Bedenken haben, sich zu blamieren, vgl. lateinisch ›Cantat avis quaevis, sicut rostrum sibi crevit‹, ⇨ Schnabel.
Hat jemand eine mißtönende Stimme und ist es für jeden eine Zumutung, seinem Gesang zuhören zu müssen, heißt es übertreibend: Er singt, wie ein altes Pferd hustet; vgl. niederländisch ›Hij zingt als een oud paard‹ und französisch ›chanter comme une (vieille) casserole‹ (singen wie ein alter Kochtopf), oder Er singt den Eselsgesang; Er singt so schön wie ein rostiger Brunnenschwengel, Wie die Katze, wenn man ihr auf den Schwanz tritt. In einer Mainzer Lokalposse heißt es mundartlich: »Er singt wie e Bachstelz, die de Schnuppe hat«. Um anschaulich auszudrücken, daß jemand überhaupt keine musikalische Begabung besitzt, sagt man schweizerisch ›Er cha singe wie der Wetzstein schwimme‹ (›wie e Chue pfife‹).
Beliebte formelhafte Wendungen sind: Singen und beten, Singen und springen, Mit Sing und Sang. Am bekanntesten und ältesten ist wohl die stabreimende Zwillingsformel Singen und sagen. Karl Lachmann schreibt 1833 in seiner Abhandlung ›Über Singen und Sagen‹ (Kleinere Schriften, Bd. I, S. 461ff.): »Die Zwiefache Tätigkeit des Dichters, Singen und Sagen, ist in den ältern Zeiten der Deutschen Poesie als so wesentlich verbunden betrachtet worden, daß die sprichwörtliche Zusammenstellung beider Ausdrücke noch jetzt dauert, da doch von dem Singen der Dichter selten noch die Rede sein kann«. Er zeigt, wie sich die beiden Begriffe erst allmählich gesondert haben. Noch in der Karolingerzeit konnte sogar dem Gedanken Wort und Weise zugeschrieben werden; aber im weiteren Verlauf des Mittelalters tritt neben die gesungene Poesie, die sich immer mehr auf das Lied beschränkt und an deren Hand sich die Musik selbst zunächst weiterentwickelt, die gelesene Dichtung. Die Formel ›singen und sagen‹ stammtjedoch ursprünglich aus dem christlichen Bereich. Sie ist die Übersetzung von kirchenlateinisch ›cantare et dicere (psalmum)‹, d.h. einen Psalm singen und sagen, Gott anbeten, loben und preisen. Auf diesen alten Zusammenhang weist auch die bis heute übliche Feststellung Da hilft kein Singen und kein Sagen (Beten): es ist alles zwecklos, es gibt keine Abhilfe. Martin Opitz gebraucht die Formel in diesem Sinne, wenn er dichtet:
Kein Singen und kein Sagen
Vermag den Tod zu jagen
(Werke 2, 122).
Die Christo Verkündigung in Wort und Ton versteht auch Luther unter dieser sprachlichen Formel, denn in seinem ›Kinderlied auff die Weihenachten‹ von 1535 (›Vom Himmel hoch.‹) heißt es:
Der guten mehr bring ich so viel,
Dauon ich singen vnd sagen wil.
Spielleute und Minnedichter haben aber bereits vor ihm die allgemein geläufige Wendung auch auf den weltlichen Bereich übertragen und dann ›singen‹ auf den Vortrag lyrischer, ›sagen‹ auf den epischer Dichtungen bezogen. Offenbar waren die Worte früher noch austauschbar, denn Sebastian Brant schreibt im ›Narrenschiff‹ von 1494 (65, 66):
Die drucken alles das man bringt,
Was man von Schanden sagt und singt.
Noch Burkard Waldis gebraucht die Wendung in dieser Form 1548 in seinem ›Esopus‹ (4, 66, 110):
Von himelisch und jrdschen Dingen,
Davon wir offt hörn sagen und singen.
Goethe benutzt die Formel ›singen und sagen‹ mehrfach literarisch. Sie umschreibt bei ihm das Dichten und das Verbreiten von Nachrichten durch den Dichter als ein ganzheitliches und allseitiges Wirken, wie z.B. in seinem ›Hochzeitslied‹:
Wir singen und sagen vom Grafen so gern,
Der hier im Schlosse gehauset.
In manchen Redensarten werden die beiden Begriffe ›singen‹ und ›sagens absichtlich und ganz bewußt einander entgegengesetzt und ganz konkret als verschiedene Formen menschlicher Äußerung verstanden, wobei der ursprüngliche Bezug zur religiösen oder weltlichen Dichtung verlorengegangen ist. In der Theatersprache z.B. heißt es bei einem ausländischen Gast auf die Frage ›Kann er deutsch?‹ oft scherzhaft: Singen, nicht sagen! Dies beruht wohl auf der Beobachtung, daß ein Ausländer sich leicht die durch Reim und Melodie gebundenen Texte der Fremdsprache einprägen kann, während ihm der Wortschatz der Umgangssprache bei einer Unterhaltung weitgehend fehlt. Die negierte Zwillingsformel ›Singen, nicht sagen‹ gehört meist in einen größeren Textzusammenhang und wird deshalb selten allein aufgezeichnet. Besonders deutlich ist dies bei der wienerischen Redensart ›Wannst es net sagen kannst, so tue's singen!‹, die mit schwankhaften Erzählungen in Verbindung steht. Meist sind es Lehrlingsgeschichten, von denen Leopold Schmidt einige Varianten veröffentlicht hat, z.B. aus Wien: Der Lehrbub ist ein Stotterer. Er kommt aufgeregt aus dem Keller und versucht, etwas zu melden: »I-i-i-«. Der Lehrherr wird ungeduldig und herrscht ihn an: »Wannst es net sagen kannst, so muasst es singen!« Das wirkt, der Lehrbub fängt an zu singen: »Im Keller brennt der Spiritus« (ungefähr nach der Melodie von ›In München steht ein Hofbräuhaus‹). Eine niederoesterreichische Fassung, aus Krems mitgeteilt, hat den gleichen Handlungsverlauf. Auch hier ist es ein Stotterer, der eine wichtige Nachricht überbringen will, sie aber in der Aufregung nicht sagen kann. Es ist ein alter Bauer, der zu seiner Frau stürzt. Sie schneidet sein Stottern energisch ab, er solle es singen, wenn er es nicht sagen könne. Und nun beginnt der Alte: »Alte, unser Häusl brennt, jupeidi, jupeida!« Die Wirkung des Schwankes beruht jedesmal auf dem gleichen grotesk-komischen Motiv des Widerspruchs zwischen Erzählinhalt und Erzählform der beabsichtigten Nachricht. Schreckliche Dinge: ein Brand im Keller, der Brand des eigenen Hauses, sollen mitgeteilt werden und wirken, da die Nachricht gesungen wird, unwiderstehlich komisch. Grundvoraussetzung für die Verwendung dieses Motivs ist, daß der Überbringer der Nachricht sie nicht herausbringt, sie nicht ›sagen‹ kann. Der Schwank stützt sich dabei auf die völlig wirklichkeitsgetreue Beobachtung, daß der Stotterer u.U. tatsächlich anstandslos singen kann, weil die Hemmung, die ihn sonst übermannt, dabei überwunden wird. Deshalb sagt man auch zu einem Stotterer in Rheinhessen in der Kurzform: ›Ei, so sing!‹
Der Schwank scheint geschichtslos, doch gibt es eine interessante französische historische Anekdote aus dem 17. Jahrhundert, die eine gewisse Parallelität aufweist: 1677 wurde Concini, Marschall von Ancre, der Günstling der Königin Maria Medici von Frankreich, auf Befehl des Königs Ludwig XIII. erschossen. Als die blutige Tat der Königin mitgeteilt wurde, fragte man sie, die selbst höchst Erregte, wie man die Nachricht Concinis Frau sagen solle. Jemand fragte die Königin: »Wie wird man die Marschallin in Kenntnis setzen?«- »Ich habe anderes zu denken, laßt mich in Ruhe«, schrie Maria, »wenn man es ihr nicht sagen will, soll man es ihr vorsingen« (Carl J. Burckhardt, Richelieu – Der Aufstieg zur Macht [München 1935], S. 109). Die Wirkung wäre ebenfalls komisch gewesen, wenn man der redensartlichen Aufforderung der Maria von Medici nachgekommen wäre und die Nachricht von der Ermordung Concinis seiner Frau gesungen hätte. Die Überlieferung des volkstümlichen Ausrufes der Königin gibt der redensartlichen Grundlage des Schwankes eine gewisse historische Tiefe.
Noch weiter zurück führt ein urkundlicher schweizerischer Beleg von 1459, in dem ein Zögernder aufgefordert wird: »Gang sing ims! Du bist nit als manlich, das du ims getörest sagen« (›Schweizerisches Idiotikon‹ VII, 1193).
In Wien begegnet auch eine kürzere Form dieser Redensart: ›Dös müassens ma aber singen!‹, die jedoch eine andere Bedeutung besitzt. Es geht nicht um das Nichtsagen-Können, sondern es wird damit das Mißtrauen gegen die Ausführungen eines anderen ausgesprochen. Was hier gesungen werden soll, ist eine unglaubwürdige Nachricht, die nicht ernst genommen werden kann. Für diese wienerische Redensart sind bereits Belege aus dem 19. Jahrhundert bezeugt.
Bekannter ist die berlinerische Beteuerung ›Det kannste singen!‹, die wie die allgemeine deutsche Wendung Das kann ich dir singen: darauf kannst du dich verlassen, das ist sicher, genau entgegengesetzte Bedeutung besitzt. Vermutlich ist sie eine moderne Weiterentwicklung der Redensart ›Von etwas ein Lied(chen) singen können‹.
Einem das Benedicimus singen ⇨ Placebo; einem das Gaudeamus singen ⇨ Placebo; einem den Görgen (Georg) singen ⇨ Georg; einem den Judas singen ⇨ Judas; Placebo singen ⇨ Placebo.
• K. LACHMANN: ›Über Singen und Sagen‹, in: Kleinere Schriften, Bd. I (1833), S. 461ff.; J. SCHWIETERING: Singen und Sagen (Diss. Göttingen 1908); G. THURAU: Singen und Sagen. Ein Beitrag zur Geschichte des dichterischen Ausdrucks (Berlin 1912); L. SPITZER: Singen und Sagen – Schorlemorle (Zwillingsformeln), in: ders.: Stilstudien, Bd. I (München 1928), S.
85-100; L. SCHMIDT: Singen, nicht sagen. Zwischen Redensart und Schwank, in: Volkslied, Volkstanz, Volksmusik, 49 (Wien 1948), S. 67f.; M. WILLBERG: Die Musik im Sprachgebrauch, in: Muttersprache (1963), S. 201ff.; E. KLUSEN: Singen. Materialien zu einer Theorie (= Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 11) (Regensburg 1989), S. 68-74.
Aus dem Singen ins Pfeifen kommen: vom Thema abschweifen, auf etwas kommen, das nicht zur Sache gehört. In Pommern bedeutet eine ähnliche Wendung Anerkennung: ›De kann singen un fläut't datô‹, er ist überaus geschickt, so daß es ihm zuzutrauen ist, daß er selbst unmöglich Scheinendes fertigbringt.
Guter und schlechter Gesang wird durch eine ganze Reihe redensartlicher Vergleiche gekennzeichnet: Singen wie eine Heidelerche, wie eine Nachtigall: eine hohe, klare und geübte Stimme besitzen; im Niederdeutschen sagt man bewundernd: ›Singen kann dat Wicht, do is'n Nachtigall 'n Beest (Kuh) giärgen‹; vgl. französisch ›chanter comme un rossignol‹, auch: Singen wie ein Kantor, wie nach Noten: richtig singen, sich im Gesang nicht beirren lassen.
Singen wie die Vögel im Handsamen: sorglos, voller Freude sein und seinem Wohlbefinden durch Singen Ausdruck verleihen.
Singen, wie einem der Schnabel gewachsen ist: sich keine Vorschriften machen lassen, ohne besondere Schulung seiner Stimme lustig drauflossingen, keine Bedenken haben, sich zu blamieren, vgl. lateinisch ›Cantat avis quaevis, sicut rostrum sibi crevit‹, ⇨ Schnabel.
Hat jemand eine mißtönende Stimme und ist es für jeden eine Zumutung, seinem Gesang zuhören zu müssen, heißt es übertreibend: Er singt, wie ein altes Pferd hustet; vgl. niederländisch ›Hij zingt als een oud paard‹ und französisch ›chanter comme une (vieille) casserole‹ (singen wie ein alter Kochtopf), oder Er singt den Eselsgesang; Er singt so schön wie ein rostiger Brunnenschwengel, Wie die Katze, wenn man ihr auf den Schwanz tritt. In einer Mainzer Lokalposse heißt es mundartlich: »Er singt wie e Bachstelz, die de Schnuppe hat«. Um anschaulich auszudrücken, daß jemand überhaupt keine musikalische Begabung besitzt, sagt man schweizerisch ›Er cha singe wie der Wetzstein schwimme‹ (›wie e Chue pfife‹).
Beliebte formelhafte Wendungen sind: Singen und beten, Singen und springen, Mit Sing und Sang. Am bekanntesten und ältesten ist wohl die stabreimende Zwillingsformel Singen und sagen. Karl Lachmann schreibt 1833 in seiner Abhandlung ›Über Singen und Sagen‹ (Kleinere Schriften, Bd. I, S. 461ff.): »Die Zwiefache Tätigkeit des Dichters, Singen und Sagen, ist in den ältern Zeiten der Deutschen Poesie als so wesentlich verbunden betrachtet worden, daß die sprichwörtliche Zusammenstellung beider Ausdrücke noch jetzt dauert, da doch von dem Singen der Dichter selten noch die Rede sein kann«. Er zeigt, wie sich die beiden Begriffe erst allmählich gesondert haben. Noch in der Karolingerzeit konnte sogar dem Gedanken Wort und Weise zugeschrieben werden; aber im weiteren Verlauf des Mittelalters tritt neben die gesungene Poesie, die sich immer mehr auf das Lied beschränkt und an deren Hand sich die Musik selbst zunächst weiterentwickelt, die gelesene Dichtung. Die Formel ›singen und sagen‹ stammtjedoch ursprünglich aus dem christlichen Bereich. Sie ist die Übersetzung von kirchenlateinisch ›cantare et dicere (psalmum)‹, d.h. einen Psalm singen und sagen, Gott anbeten, loben und preisen. Auf diesen alten Zusammenhang weist auch die bis heute übliche Feststellung Da hilft kein Singen und kein Sagen (Beten): es ist alles zwecklos, es gibt keine Abhilfe. Martin Opitz gebraucht die Formel in diesem Sinne, wenn er dichtet:
Kein Singen und kein Sagen
Vermag den Tod zu jagen
(Werke 2, 122).
Die Christo Verkündigung in Wort und Ton versteht auch Luther unter dieser sprachlichen Formel, denn in seinem ›Kinderlied auff die Weihenachten‹ von 1535 (›Vom Himmel hoch.‹) heißt es:
Der guten mehr bring ich so viel,
Dauon ich singen vnd sagen wil.
Spielleute und Minnedichter haben aber bereits vor ihm die allgemein geläufige Wendung auch auf den weltlichen Bereich übertragen und dann ›singen‹ auf den Vortrag lyrischer, ›sagen‹ auf den epischer Dichtungen bezogen. Offenbar waren die Worte früher noch austauschbar, denn Sebastian Brant schreibt im ›Narrenschiff‹ von 1494 (65, 66):
Die drucken alles das man bringt,
Was man von Schanden sagt und singt.
Noch Burkard Waldis gebraucht die Wendung in dieser Form 1548 in seinem ›Esopus‹ (4, 66, 110):
Von himelisch und jrdschen Dingen,
Davon wir offt hörn sagen und singen.
Goethe benutzt die Formel ›singen und sagen‹ mehrfach literarisch. Sie umschreibt bei ihm das Dichten und das Verbreiten von Nachrichten durch den Dichter als ein ganzheitliches und allseitiges Wirken, wie z.B. in seinem ›Hochzeitslied‹:
Wir singen und sagen vom Grafen so gern,
Der hier im Schlosse gehauset.
In manchen Redensarten werden die beiden Begriffe ›singen‹ und ›sagens absichtlich und ganz bewußt einander entgegengesetzt und ganz konkret als verschiedene Formen menschlicher Äußerung verstanden, wobei der ursprüngliche Bezug zur religiösen oder weltlichen Dichtung verlorengegangen ist. In der Theatersprache z.B. heißt es bei einem ausländischen Gast auf die Frage ›Kann er deutsch?‹ oft scherzhaft: Singen, nicht sagen! Dies beruht wohl auf der Beobachtung, daß ein Ausländer sich leicht die durch Reim und Melodie gebundenen Texte der Fremdsprache einprägen kann, während ihm der Wortschatz der Umgangssprache bei einer Unterhaltung weitgehend fehlt. Die negierte Zwillingsformel ›Singen, nicht sagen‹ gehört meist in einen größeren Textzusammenhang und wird deshalb selten allein aufgezeichnet. Besonders deutlich ist dies bei der wienerischen Redensart ›Wannst es net sagen kannst, so tue's singen!‹, die mit schwankhaften Erzählungen in Verbindung steht. Meist sind es Lehrlingsgeschichten, von denen Leopold Schmidt einige Varianten veröffentlicht hat, z.B. aus Wien: Der Lehrbub ist ein Stotterer. Er kommt aufgeregt aus dem Keller und versucht, etwas zu melden: »I-i-i-«. Der Lehrherr wird ungeduldig und herrscht ihn an: »Wannst es net sagen kannst, so muasst es singen!« Das wirkt, der Lehrbub fängt an zu singen: »Im Keller brennt der Spiritus« (ungefähr nach der Melodie von ›In München steht ein Hofbräuhaus‹). Eine niederoesterreichische Fassung, aus Krems mitgeteilt, hat den gleichen Handlungsverlauf. Auch hier ist es ein Stotterer, der eine wichtige Nachricht überbringen will, sie aber in der Aufregung nicht sagen kann. Es ist ein alter Bauer, der zu seiner Frau stürzt. Sie schneidet sein Stottern energisch ab, er solle es singen, wenn er es nicht sagen könne. Und nun beginnt der Alte: »Alte, unser Häusl brennt, jupeidi, jupeida!« Die Wirkung des Schwankes beruht jedesmal auf dem gleichen grotesk-komischen Motiv des Widerspruchs zwischen Erzählinhalt und Erzählform der beabsichtigten Nachricht. Schreckliche Dinge: ein Brand im Keller, der Brand des eigenen Hauses, sollen mitgeteilt werden und wirken, da die Nachricht gesungen wird, unwiderstehlich komisch. Grundvoraussetzung für die Verwendung dieses Motivs ist, daß der Überbringer der Nachricht sie nicht herausbringt, sie nicht ›sagen‹ kann. Der Schwank stützt sich dabei auf die völlig wirklichkeitsgetreue Beobachtung, daß der Stotterer u.U. tatsächlich anstandslos singen kann, weil die Hemmung, die ihn sonst übermannt, dabei überwunden wird. Deshalb sagt man auch zu einem Stotterer in Rheinhessen in der Kurzform: ›Ei, so sing!‹
Der Schwank scheint geschichtslos, doch gibt es eine interessante französische historische Anekdote aus dem 17. Jahrhundert, die eine gewisse Parallelität aufweist: 1677 wurde Concini, Marschall von Ancre, der Günstling der Königin Maria Medici von Frankreich, auf Befehl des Königs Ludwig XIII. erschossen. Als die blutige Tat der Königin mitgeteilt wurde, fragte man sie, die selbst höchst Erregte, wie man die Nachricht Concinis Frau sagen solle. Jemand fragte die Königin: »Wie wird man die Marschallin in Kenntnis setzen?«- »Ich habe anderes zu denken, laßt mich in Ruhe«, schrie Maria, »wenn man es ihr nicht sagen will, soll man es ihr vorsingen« (Carl J. Burckhardt, Richelieu – Der Aufstieg zur Macht [München 1935], S. 109). Die Wirkung wäre ebenfalls komisch gewesen, wenn man der redensartlichen Aufforderung der Maria von Medici nachgekommen wäre und die Nachricht von der Ermordung Concinis seiner Frau gesungen hätte. Die Überlieferung des volkstümlichen Ausrufes der Königin gibt der redensartlichen Grundlage des Schwankes eine gewisse historische Tiefe.
Noch weiter zurück führt ein urkundlicher schweizerischer Beleg von 1459, in dem ein Zögernder aufgefordert wird: »Gang sing ims! Du bist nit als manlich, das du ims getörest sagen« (›Schweizerisches Idiotikon‹ VII, 1193).
In Wien begegnet auch eine kürzere Form dieser Redensart: ›Dös müassens ma aber singen!‹, die jedoch eine andere Bedeutung besitzt. Es geht nicht um das Nichtsagen-Können, sondern es wird damit das Mißtrauen gegen die Ausführungen eines anderen ausgesprochen. Was hier gesungen werden soll, ist eine unglaubwürdige Nachricht, die nicht ernst genommen werden kann. Für diese wienerische Redensart sind bereits Belege aus dem 19. Jahrhundert bezeugt.
Bekannter ist die berlinerische Beteuerung ›Det kannste singen!‹, die wie die allgemeine deutsche Wendung Das kann ich dir singen: darauf kannst du dich verlassen, das ist sicher, genau entgegengesetzte Bedeutung besitzt. Vermutlich ist sie eine moderne Weiterentwicklung der Redensart ›Von etwas ein Lied(chen) singen können‹.
Einem das Benedicimus singen ⇨ Placebo; einem das Gaudeamus singen ⇨ Placebo; einem den Görgen (Georg) singen ⇨ Georg; einem den Judas singen ⇨ Judas; Placebo singen ⇨ Placebo.
• K. LACHMANN: ›Über Singen und Sagen‹, in: Kleinere Schriften, Bd. I (1833), S. 461ff.; J. SCHWIETERING: Singen und Sagen (Diss. Göttingen 1908); G. THURAU: Singen und Sagen. Ein Beitrag zur Geschichte des dichterischen Ausdrucks (Berlin 1912); L. SPITZER: Singen und Sagen – Schorlemorle (Zwillingsformeln), in: ders.: Stilstudien, Bd. I (München 1928), S.
85-100; L. SCHMIDT: Singen, nicht sagen. Zwischen Redensart und Schwank, in: Volkslied, Volkstanz, Volksmusik, 49 (Wien 1948), S. 67f.; M. WILLBERG: Die Musik im Sprachgebrauch, in: Muttersprache (1963), S. 201ff.; E. KLUSEN: Singen. Materialien zu einer Theorie (= Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 11) (Regensburg 1989), S. 68-74.