Redensarten Lexikon
Schlange
Eine Schlange am Busen nähren (wärmen, erziehen): jemandem Gutes tun, den man für seinen Freund hält, der sich aber später als undankbar und verräterisch erweist, jemandem zu Unrecht vertrauen, am scheinbar besten Freund den gefährlichsten Feind haben. Die Redensart war bereits im Altertum bekannt und bezieht sich auf Äsops Fabel 97: ›Der Bauer und die Schlange‹, wo es im Text heißt: »Er nahm die Schlange und legte sie unter den Bausch seines Gewandes«. Die Fabel bei Phaedrus (4, 19) geht auf Äsop zurück. Uns ist sie aus dem ›Reinecke Fuchs‹ bekannt, Erasmus (IV, 2) erzählt sie in folgenden Versen:
   Sinu fovebat quidam agricola viperam
   Gelu rigentem, at haec calorem ut senserat,
   Ferit foventem, moxque perimit vulnere.
   Ingrati ad hunc bene meritos tractant modum.

Ähnlich hieß es schon bei Petronius Arbiter (gest. 66 n. Chr.) in ›Saturae‹ (77): »Tu viperam sub ala nutricas« = Du nährst unter deinem Flügel (in der Achselhöhle) eine Schlange. Im Lateinischen hieß die Redensart ›Serpentem in sinu fovere‹. Vgl. auch französisch ›nourrir un serpent (une vipère) dans son sein‹, niederländisch ›een adder aan zijn borst koesteren‹
und englisch ›to cherish a snake (a serpent, a viper) in one's bosom‹.
   Außer der Fabel müssen noch andere Vorstellungen auf die Redensart eingewirkt haben. So war der Schlangenbiß eine beliebte Selbstmordart, die bereits Kleopatra wählte. Hans Sachs spricht in seinen Gedichten (Bd. IV, Nr. 489, S. 371) von der ›Schlange am Busen‹, die den Tod bringt, ebenso Kirchhoff in ›Wendunmuth‹ (7, 73). Wahrscheinlich hat das poetischere Wort ›Busen‹ für ›Brust‹ das Wort ›nähren‹ zu sich herangezogen; die Redensart kann deshalb auch mit einem mittelalterlichen Bildmotiv in Verbindung gebracht werden. Schon in der karolingischen Kunst findet sich das Motiv der Schlangensäugerin. Die nackte Frau, die zwei Schlangen säugt und festhält, wurde im kirchlichen Mittelalter im asketischen Sinn als die Nährerin von Voluptas und Luxuria gedeutet. Kohl sieht in dem Motiv den Nachklang der antiken Darstellung von der nährenden Erdenmutter Terra und bringt damit auch die Melusinensage in Zusammenhang (Melusine kehrt in der späteren Sage zurück, um ihre Kinder zu nähren) und die mittelalterliche Darstellung eines weiblichen Zwitterwesens, das zwei hochgebogene Fischschwänze in den Händen hält. Bei dem Wort ›nähren‹ wurde wohl auch im Hinblick auf die Schlange daran gedacht, daß sie bei ihrem Biß nicht nur Gift in die Wunde spritzte, sondern das Blut ihres Opfers aussaugte.
   Innerhalb der christlichen Symbollehre bedeutet die Schlange als Versucherin zum Bösen den ›geistlichen‹ Tod des Menschen, wie D.-R. Moser (›Verkündigung durch Volksgesang‹, S. 558) belegt: »Serpens significat mortem« (Petrus Cantor). Zudem bringt Moser ein Beispiel für die Bedeutung der Schlange als Sinnbild der ›avaritia‹: Einer reichen, aber geizigen Bauersfrau legt sich als Bestrafung eine Schlange um den Körper; Strophe 10 des sogenannten ›Schlangenliedes‹ lautet dann:

   Ihr Christen seht das Wunder an,
   Und nehmt euch ein Exempel dran,
   Was Gott an dieser Frau
   Für ein Schicksal begangen hat,
   Die Schlange sich umschlungen hat,
   An ihrer Brust thut saugen.

Hier ist die an der Brust saugende Schlange als Sinnbild der Unfruchtbarkeit zu verstehen.
   Die auffallenden Eigenschaften einer Schlange wurden schon zeitig beobachtet und im Vergleich zur Charakterisierung eines Menschen herangezogen. Die Redensart Klug wie eine Schlange sein ist biblischen Ursprungs. Von der Klugheit der Schlange und ihrer Fähigkeit zu reden spricht bereits Gen 3, 1, und bei Mt 10, 16 rät Jesus seinen Jüngern: »Seid klug wie die Schlangen«. Da die Schlange wegen ihrer Verführerrolle beim Sündenfall mit dem Bösen und dem Teufel gleichgesetzt wurde, entstanden Wendungen wie listig, falsch wie eine Schlange sein, auch einfach: eine wahre Schlange sein, die meist benutzt werden, um eine verräterische, heimtückische weibliche Person zu kennzeichnen. Vgl. ndl. ›Het ist een regte otter‹. Verborgene Gefahr und heimliche Laster meint die Wendung. Es ist eine Schlange unter Blumen, vgl. frz. C'est un serpent caché sous les fleurs'. Ähnl. Da liegt die Schlange im Grase! Vgl. ndl. ›Daar is een otter in't bolwerk‹ und ›Da liegt der Hase im Pfeffer‹.
   Andere redensartliche Vergleiche verbinden sich mit verschiedenen charakteristischen Verhaltensweisen der Schlange, z.B. Sich winden (ringeln) wie eine Schlange: verlegen sein, nach Ausflüchten suchen, auch Beißen wie eine Schlange, schon als Ausspruch Salomos bekannt: »Sieh den Wein nicht an, wenn er gelb wird, wenn seine Farbe im Glase schön leuchtet; er gehet lieblich ein, aber endlich wird er beißen wie eine Schlange«, und auf Äußerungen von Zorn und Mißgunst bezogen, heißt es: Fauchen (zischen) wie eine Schlange.
   Der Schlange auf dem Schwanze stehen: sie zum Angriff reizen, schon 1573 in der ›Flöhhatz‹ von Johann Fischart (S. 47/1680) und 1577 (S. 109/3756)
gebraucht: »Man wird aufn schwanz der Schlangen stan«.
   Die Schlange am Schwanz fassen: keine Gefahr scheuen, den Angriff wagen, vgl. englisch ›He holds the serpent by the tail‹. Die Redensart Einer Schlange das Gift nehmen: sie ungefährlich machen, beruht auf der Gewinnung von Schlangengift zu Heilzwecken. In den Schlangenfarmen werden die Schlangen zum Beißen veranlaßt, wobei sie ihr Gift verspritzen, das sich dann erst wieder neu im Giftzahn sammeln muß.
   Von einem Überängstlichen heißt es: Er ist gewiß einmal von einer Schlange gebissen worden, weil er sich vor jedem Wurme fürchtet. Neuere Wendungen sind Schlange stehen müssen: sich in einer Reihe aufstellen und warten müssen, und Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt: eine Sache, die kein Ende nimmt, die immer wieder von vorn beginnt, ohne daß ein Ergebnis erzielt werden kann. Vgl. französisch ›un serpent qui se mord la queue‹.
   Die bildliche Darstellung der Schlange galt auch als Symbol der Dauer und Ewigkeit.
   In der griechischen Alchimie sah man in dem Ouroboros, der Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, ein Wesen, das sich an sich selber erfreut (luxuriam in se ipso). Weiterhin hütet die Schlange den Goldapfelbaum der Hesperiden und den Baum der Erkenntnis im Paradies (Danckert IV, S. 1464-1465).
   Im Hain des Apoll in Epirus und auf der Akropolis wurden zu Ehren der Pallas Athene Schlangen gehalten, und der Heilgott Asklepios wurde meist mit einer Schlange dargestellt; sie galt als Sinnbild des Lebens, da man annahm, die Schlange verjünge sich bei ihrer jährlichen Häutung. Dieses Bild wurde von den Römern übernommen. Der Äskulapstab mit der ihn umwindenden Schlange wurde zum Symbol der Heilkunst. Überall, wo die Römer Heilbäder errichteten, verbreiteten sie dieses Symbol.
   Schlangen schießen: eine Umschreibung für faulenzen, noch heute im Westerwald gebräuchlich.
   Etwas ist ein Schlangenfraß: eine Speise ist ungenießbar.

• K. KNORTZ: Reptilien und Amphibien in Sage, Sitte und Literatur (Annaberg 1911); O. KELLER: Die antike Tierwelt 2 (Leipzig 1913), S. 284-305; F. SEILER: Das deutsche Lehnsprichwort, Bd. I-IV (Halle 1921-24), Bd. I, S. 16; E. HOFFMANN-KRAYER: Artikel ›Schlange‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VII, Spalte 1114ff.; R. KOHL: Das Melusinenmotiv (Bremen 1934); H. LEISEGANG: Das Mysterium der Schlange, in: Eranos Jahrbuch 7 (1939), S. 151-250; K.V. SPIEß: Die Sagen von der Fisch- oder Schlangenjungfrau, in: Wiener Zeitschrift 46 (1941); H. CARL: Sprachstudien an der Schlange, in: Muttersprache (1959), S. 5-9; A.P. HUDSON: A snake can't staddle a log, in: North Carolina Folklore 9 (1961), S. 34-41; A. BHATTACHARYYA: The serpent in Bengali proverbs, in: Folklore Calcutta 2 (1961), S. 329-343; J.A. OLIVER: Snakes in Fact and Fiction (New York 1964); A. OTTO: Die Sprichwörter der Römer (Hildesheim 1965); L. RÖHRICH: Die Sagen vom Schlangenbann, in: Volksüberlieferung, Festschriftf. K. Ranke (Göttingen 1968), S. 327-344; D.R. BARNES: The bosom serpent. A Legend in American Literature and Culture, in: Journal of American Folklore 85 (1972), S. 111-122; W. DANCKERT: Symbol, Metapher, Allegorie im Lied der Völker, Bd. IV. (Bonn 1978), S. 1464-1476; B. GARBE: Vogel und Schlange: Variation eines Motivs in Redensart, Fabel, Märchen und Mythos, in: Zeitschrift für Volkskunde 75 (1979), S. 52-56; D.-R. MOSER: Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -katechese der Gegenreformation (Berlin 1981), S. 556-561; H. EGLI: Das Schlangensymbol: Geschichte – Märchen – Mythos (Freiburg 1982); W.H. FISCHLE, Das Geheimnis der Schlange: Deutung eines Symbols (Fellbach – Öffingen 1983); J. MILLIET: Un allaitement insolite, in: J. Hainard und R. Kaehr: Des animaux et des hommes (Neuchâtel 1987), S. 87-118; J. LEIBBRAND: Speculum bestialitatis (München 1989), S. 134ff.

Eine Schlange am Busen ernähren. Kapitell am Kloster St. Trophime zu Arles, 12. Jahrhundert
   (nach R. Kohl: Das Melusinenmotiv, 1934).

Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Emblematischer Kupferstich: Zeichen der ewigen Liebe, aus: Octavio van Veen: Amoris Divini Emblemata, Antwerpiae 1660 (PN 6357, L 3, V 51, 1660, Page 17).
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