Redensarten Lexikon
Rad
Das fünfte Rad am Wagen nennt man einen, der bei einer Sache überflüssig, vielleicht sogar ein lästiges Zuviel ist, für den kein Platz und keine Verwendung ist. Den ältesten Beleg für diese Redensart finden wir in der ›Fecunda ratis‹ des Egbert von Lüttich, einer lateinischen Sprichwörter-Sammlung des 11. Jahrhunderts (›Germania‹ 18,31 5): »Quem fastidimus, quinta est nobis rota plaustri« (Wer uns lästig ist, der ist uns das fünfte Rad am Wagen). Der Verfasser benutzte dabei eine deutsche Redensart, die volkssprachlich erst aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts überliefert ist, und zwar im Prolog des ›Trojanerkrieges‹ des Herbort von Fritzlar (83): »so zele man mich zu dem fünften rade, Und frume ich niht, ich bin nicht schade«. Die Redensart findet sich dann wieder in Freidanks Lehrgedicht ›Bescheidenheit‹ (127,13):
Der wagen hât deheine stat
dâ wol stê das fünfte rat.
Ulrich Boner, der Verfasser der ältesten gereimten Fabelsammlung in deutscher Sprache, des ›Edelsteins‹ von etwa 1350, meint (84,33):
Ein klôsterlugner boeser ist
und arger denn des tiuvels list:
er verirt daz klôster, hoer ich sagen,
recht als daz vünfte rat den wagen.
Luther gebraucht das Bild gerne: »Eben so nutz alß dz funfft rad dem wagen« (Werke, hg. von Clemen II,113,25); »Welche wol so not ist zur Sachen als das funfft rad zum wagen« (ebd. III,421,28). Altes und neues Bild verquickend, sagt Bismarck: »Nur den Zusammenhang sehe ich nicht, wie alle diese Übelstände dadurch beseitigt werden sollen, daß man dem vielfachen Räderwerk, welches unsere Maschine bewegt, noch ein fünftes Rad am Wagen hinzufügt, in Gestalt eines verantwortlichen kollegialischen Bundesministeriums« (›Reden‹ III,121); französisch ›être la cinquieme roue du carosse‹.
Ein Gegenstück zur Redensart vom fünften Rad am Wagen ist: Bei ihm fehlt ein Rad oder Bei ihm ist (im Oberstübchen) ein Rad los (locker): er ist nicht ganz bei Verstand; vgl. westfälisch ›Dem es en gued Rad vam Wagen flogen‹; schleswig-holsteinisch ›He hett'n Rad los‹, er ist verrückt; elsässisch ›'s is'm'n Rad ab‹, er ist erzürnt; obersächsisch ›Er hat e Rädel zuviel‹, er ist nicht ganz bei Verstand. Diese Redensarten beruhen auf der Vorstellung vom Verstand als einer vielgliedrigen Maschine. Geistesgestörtheit setzt – technisch gesehen – einen Schaden an der Maschine voraus.
In Ostfriesland sagt man: ›Dat lüttje Rad geit vör in de Wagen‹, wenn ein Kind vor den Eltern hergehen soll; in Westfalen ›He heäd op een Rad lann‹, d.h. ›schief geladen‹; in Sachsen: ›Bei dem gehen die Räder rückwärts‹, seine Verhältnisse verschlechtern sich; allgemein bekannt ist: Unter die Räder kommen: sittlich verkommen. Moralisches Absinken erscheint hier unter dem Bild eines Überfahrenwerdens, eines Verunglückens (etwa seit 1850 belegt), ⇨ Moral.
Auch das Rad, mit dem früher dem verurteilten Verbrecher die Glieder gebrochen wurden, damit er ›aufs Rad geflochten‹ werden konnte (mittelhochdeutsch radebrechen), lebt in bildlicher Verwendung weiter: Eine Sprache radebrechen: sie stümperhaft anwenden, verstümmeln, mißhandeln (seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts bezeugt); ebenso in dem redensartlichen Vergleich Sich wie gerädert fühlen: sich durch große Anstrengungen ermattet und ›wie zerschlagen‹ fühlen. Ebenso niederländisch ›geradbraakt zijn‹, ›zich als geradbraakt voelen‹; französisch ›être comme roué de coups‹; auch Auf dem Rade sein: große Angst ausstehen und Marter erdulden.
Bei den Römern und im Spätmittelalter war das Rädern die gebräuchliche Art der Todesstrafe für Staatsverbrecher und Räuber. Der noch Lebende wurde oft zur Schau gestellt, wenn er mit gebrochenen Gliedern im Rad eingeflochten war. Im 18. Jahrhundert kam diese Art der Folter außer Gebrauch, 1811 wurde sie in Preußen abgeschafft.
Das Volksbuch von Georgs Martyrium berichtet von der Folterung des hl. Georg. Die ältesten Texte stammen aus dem griechischen Sprachbereich, der erste aus dem späten 5. Jahrhundert. Eine dieser Folterqualen, nämlich die Räderung Georgs, wird auf einem Maßwerkfenster der Tübinger Stiftskirche St. Georg dargestellt. Der Legende nach widersetzte sich der junge Georg dem Edikt des Perserkönigs Dadianos gegen die Christen, indem Georg sich zu christlichen Tugenden öffentlich bekannte. Daraufhin wurde seine Folterung beschlossen. »Alles Schreckliche, was je Menschen einander antaten, was sie an Qualen und grausamen Straftaten für andere Menschen erdachten, hat die Legende im Folgenden auf ihren Helden gehäuft« (S. Braunfels-Esche, S. 14).
Auf das Mühlrad bezieht sich wohl westfälisch ›Et löpt em e Rad im Koppe rüm‹; vgl. Goethes ›Faust‹ (I, V. 1946f.):
Mir wird von alledem so dumm,
Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum
Gewandte Jungen schlagen ein Rad, indem sie sich vom Fuß auf die nächste Hand, die andere Hand und den andern Fuß rundum werfen, so daß Arme und Beine wie Speichen eines Rades sind (besonders bekannt die ›Düsseldorfer Radschläger‹); daher in Sachsen: ›Da mechte mer doch glei e Rad schlan‹, sich vor Überraschung, Zorn überstürzen; und mecklenburgisch ›Dat wir'n Rad slagen‹, ein heftiges Benehmen; französisch ›faire la roue‹, auch im Sinne von: kokettieren, flirten. Im Mittelalter hieß ›an das Rad kommen‹, auch: Erfolg haben, maßgebend mitwirken.
Ein einzelnes Rad wird getrieben, geführt, auch als Kinderspiel; dazu die ältere Redensart Sein (oder das) Rädlein treiben: die Angelegenheit in Gang bringen. Sie findet sich 1639 bei Lehmann S. 930 (›Zeit‹ 11): »Wann etliche in Sachen vnnd Geschäfften gar eyffrig vnnd hitzig seyn, das Rädlein starck treiben, so vergehts doch mit der Zeit, vnd was zuvor war nichts, das wird zunicht«. Luther schreibt in der ›Treuen Vermahnung an alle Christen‹; »Es ist nicht unser Werk, das jetzt geht in die Welt ... Ein anderer Mann ist's, der das Rädlein treibt«; dazu schweizerisch das Substantiv ›Rädlitriber‹ in Hans Rudolf Manuels Fastnachtsspiel ›Vom edlen Wein‹ von 1548:
Ich wil ufwiglen unsre wiber,
Das sind die rechten rädlitriber.
In einem schweizerischen Spottlied vom Jahre 1656 heißt es:
Weil er Schabab,
Drum zieht er ab,
Heimwärts sein Rad zu trüllen.
⇨ schabab.
Frühneuhochdeutsch bedeutet ›Rädlein‹ eine Zusammenrottung, eine Schar; das Rädlein führen ist ein Fachausdruck der Landsknechte. Der Führer eines solchen Rädleins wurde ›Rädleinführer‹ genannt, woraus dann der Ausdruck Rädelsführer (vgl. englisch ›ringleader‹, niederländisch ›raddraaier‹) entstanden ist (die Herleitung von einem Rad in der Fahne des ›Armen Konrad‹, des Bauernbundes von 1514, oder von einem Pflugrad in einer Fahne des Bauernkrieges von 1525 ist spätere Volksdeutung).
Das Rad ist in fast allen Kulturen ein Bewegungs- und Sonnenzeichen. Die älteste Darstellung des Rades findet sich auf einer sumerischen Kalksteinplatte: es ist ein elliptisches, aus drei Stücken zusammengefügtes und durch Stricke zusammengebundenes Scheibenrad. Die Entstehung des Speichenrades ist unbekannt. Die Redensart Man muß das Rädlein laufen Iassen: dem Geschick seinen Lauf lassen, geht auf das Glücksrad der Göttin Fortuna zurück. Die Metapher vom Glücksrad entstand bei den Griechen. Schon bei den Dichtern des Altertums findet sich die Vorstellung, daß Fortuna die Menschen auf ihr Rad setze und sie mit dessen Umschwung auf und nieder steigen lasse. Pindar und Sophokles sprechen beide vom Glück, das sich dreht wie ein Rad (D.M. Robinson, S. 208), ⇨ Glück.
Auch in die mittelalterliche Welt ist die Vorstellung von einem Glücksrad übergegangen. Die mittelalterliche Dichter sprechen oft von ›des glückes rat‹ und benutzen mit Vorliebe das Bild von den auf das Glücksrad gesetzten und mit ihm auf und ab geführten Menschen. Stellen wie »Fortûna brâht in zem hôhsten sitze ûf glückes rat« oder
Er ist komen ûf gelückes rat,
Daz muoz im iemer stille stên
oder:
Got werfe in von gelückes rat,
Der sich bôsheit understât
begegnen bei diesen Dichtern außerordentlich häufig. Zum sprichwörtlichen Ausdruck hat diese Vorstellung ebenfalls schon zeitig geführt. Bereits im ›Titurel‹ findet sich der Ausdruck »waz danne? es muoz nu walzen!« ganz in dem sinne gebraucht wie die heutige Redensart ›Man muß das Rädlein laufen lassen‹, d.h. man muß es gehen lassen, wie es will; man muß es, unbekümmert um die Folgen, auf gut Glück geschehen lassen. ›Der sauft und spielt drauflos und laßt halt's Radl laufe‹ sagt man in Süddeutschland.
Nur Gottes wundervolle Hand
Kann unser Glücksrad drehen
heißt es in einem frommen Liede, und dieser Vorstellung entsprechend findet sich unter den alten Holzschnitten zu Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ einer, auf dem eine aus den Wolken ragende Hand mit einem Seile ein Glücksrad in Bewegung setzt. Auch in einer beim Brand der Straßburger Bibliothek vernichteten Handschrift des 12. Jahrhunderts, dem ›Hortus deliciarum‹ der elsässischen Nonne Herrad von Landsberg, fand sich als Illustration zu Versen, die von der Eitelkeit alles Irdischen handeln, das Bild einer Fortuna, die auf ihrem Rade Könige auf und ab wälzt.
Zum selben Vorstellungsbereich gehören die Redensarten Das Rad wird sich wenden: das Schicksal wird sich ändern; Bis dahin wird noch manches Rad umgehen. So heißt Das Rad der Geschichte anhalten (zurückdrehen) wollen: eine unaufhörliche Entwicklung unterbrechen wollen, Geschehenes rückgängig machen wollen; französisch ›arrêter le cours de l'histoire‹.
Das Zitat ›Alle Räder stehen still‹ im Sinne von nichts arbeitet, bewegt sich mehr, stammt aus dem 1863 gedichteten Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von Georg Herwegh (1817-75):
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will.
Auf die moderne Technik bezieht sich die Redensart Nur ein Rädchen im Getriebe sein: eine untergeordnete Rolle spielen. Zugrunde liegt die Vorstellung vom Ineinandergreifen von Zahnrädern, die nur innerhalb eines größeren Zusammenhangs eine Funktion haben.
Eine dicke (oder ›schwangere‹) Frau wird boshaft umschrieben mit: ›Hätte sie Räder, wäre sie ein Omnibus‹.
Die Wendungen Er fährt ganz schön Rad und jemand ist ein Radfahrer, aber auch die entrüstete Ablehnung: Ich bin doch kein Radfahrer! sind zweideutig. Vom Bild des Radfahrers, der nach oben seinen Rücken krümmen muß und nach unten tritt, erfolgte die verallgemeinernde Übertragung auf einen Menschen, der seinen Vorgesetzten schmeichelt und seine Untergebenen schikaniert.
• F.M. FELDHAUS: Fünftes Rad am Wagen, in: Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins 24 (1909), S. 371;24. DOREN: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, Band 2 (1922/23), S. 71-144; RICHTER-WEISE, Nr.157, S. 171f. H. VERMEULEN: Het rad van fortuin, in: Ons Eigen Volk 1 (1940), S. 243-249; SINGER I., S. 90, II, S. 104, III, S. 88; DT. M. ROBINSON: The Wheel of Fortune, in: Classical Philology 41 (1946), S. 207-216; H. von HENTIG: Die Strafe 1 (1954); J. HEMPEL: Artikel ›Rad‹, in: Religion in Geschichte und Gegenwart V (3. Auflage 1961), Spalte 761-762; W. TREUE: Achse, Rad und Wagen (München 1965); S. BRAUNFELS- ESCHE: Sankt Georg: Legende, Verehrung, Symbol (München 1976); N.A. BRINGEUS: Das Lebensrad, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde. 32/33 (1987/ 88), S. 13-37; N.A. BRINGEUS: Pictures of the Life Cycle, in: Ethnologia Scandinavica 1988, S. 5-33; B.A. SCHÜLE, D. STUDER, CH. OECHSLIN (Hrsg.): Das Rad in der Schweiz vom 3. Jahrtausend vor Chr. bis um 1850. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizer Landesmuseums (Zürich 1989).
Jemanden aufs Rad flechten. Der Geräderte, sogenanntes Tübinger Wahrzeichen, Stiftskirche Tübingen.
Radebrechen. Holzschnitt: Rädern und Radflechten, 16. Jahrhundert Aus: Johannes Stumpff: Schweizer Chronik, Druck von 1548 (nach Schuhmann 1964, 337). Aus: Das Rad in der Schweiz vom 3. Jahrtausend vor Chr. bis um 1850. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums, 22. Aug. bis 26. Nov. 1989, herausgegeben von Bernard A. Schüle, Daniel Studer,
Christa Oechslin, Zürich 1989, S. 123.
Jemanden aufs Rad flechten. Holzschnitt: Die Höllenstrafe des Räderns, 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Aus: Richard Wrede: Die Körperstrafen bei allen Völkern von den ältesten Zeiten bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Kulturgeschichtliche Studien, Dresden-A.o.J.; S. 108.
Auf dem Glücksrad sitzen. Holzschnitt, Brant: Narrenschiff von 1494, Kapitel ›Von gluckes fall‹.
Der wagen hât deheine stat
dâ wol stê das fünfte rat.
Ulrich Boner, der Verfasser der ältesten gereimten Fabelsammlung in deutscher Sprache, des ›Edelsteins‹ von etwa 1350, meint (84,33):
Ein klôsterlugner boeser ist
und arger denn des tiuvels list:
er verirt daz klôster, hoer ich sagen,
recht als daz vünfte rat den wagen.
Luther gebraucht das Bild gerne: »Eben so nutz alß dz funfft rad dem wagen« (Werke, hg. von Clemen II,113,25); »Welche wol so not ist zur Sachen als das funfft rad zum wagen« (ebd. III,421,28). Altes und neues Bild verquickend, sagt Bismarck: »Nur den Zusammenhang sehe ich nicht, wie alle diese Übelstände dadurch beseitigt werden sollen, daß man dem vielfachen Räderwerk, welches unsere Maschine bewegt, noch ein fünftes Rad am Wagen hinzufügt, in Gestalt eines verantwortlichen kollegialischen Bundesministeriums« (›Reden‹ III,121); französisch ›être la cinquieme roue du carosse‹.
Ein Gegenstück zur Redensart vom fünften Rad am Wagen ist: Bei ihm fehlt ein Rad oder Bei ihm ist (im Oberstübchen) ein Rad los (locker): er ist nicht ganz bei Verstand; vgl. westfälisch ›Dem es en gued Rad vam Wagen flogen‹; schleswig-holsteinisch ›He hett'n Rad los‹, er ist verrückt; elsässisch ›'s is'm'n Rad ab‹, er ist erzürnt; obersächsisch ›Er hat e Rädel zuviel‹, er ist nicht ganz bei Verstand. Diese Redensarten beruhen auf der Vorstellung vom Verstand als einer vielgliedrigen Maschine. Geistesgestörtheit setzt – technisch gesehen – einen Schaden an der Maschine voraus.
In Ostfriesland sagt man: ›Dat lüttje Rad geit vör in de Wagen‹, wenn ein Kind vor den Eltern hergehen soll; in Westfalen ›He heäd op een Rad lann‹, d.h. ›schief geladen‹; in Sachsen: ›Bei dem gehen die Räder rückwärts‹, seine Verhältnisse verschlechtern sich; allgemein bekannt ist: Unter die Räder kommen: sittlich verkommen. Moralisches Absinken erscheint hier unter dem Bild eines Überfahrenwerdens, eines Verunglückens (etwa seit 1850 belegt), ⇨ Moral.
Auch das Rad, mit dem früher dem verurteilten Verbrecher die Glieder gebrochen wurden, damit er ›aufs Rad geflochten‹ werden konnte (mittelhochdeutsch radebrechen), lebt in bildlicher Verwendung weiter: Eine Sprache radebrechen: sie stümperhaft anwenden, verstümmeln, mißhandeln (seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts bezeugt); ebenso in dem redensartlichen Vergleich Sich wie gerädert fühlen: sich durch große Anstrengungen ermattet und ›wie zerschlagen‹ fühlen. Ebenso niederländisch ›geradbraakt zijn‹, ›zich als geradbraakt voelen‹; französisch ›être comme roué de coups‹; auch Auf dem Rade sein: große Angst ausstehen und Marter erdulden.
Bei den Römern und im Spätmittelalter war das Rädern die gebräuchliche Art der Todesstrafe für Staatsverbrecher und Räuber. Der noch Lebende wurde oft zur Schau gestellt, wenn er mit gebrochenen Gliedern im Rad eingeflochten war. Im 18. Jahrhundert kam diese Art der Folter außer Gebrauch, 1811 wurde sie in Preußen abgeschafft.
Das Volksbuch von Georgs Martyrium berichtet von der Folterung des hl. Georg. Die ältesten Texte stammen aus dem griechischen Sprachbereich, der erste aus dem späten 5. Jahrhundert. Eine dieser Folterqualen, nämlich die Räderung Georgs, wird auf einem Maßwerkfenster der Tübinger Stiftskirche St. Georg dargestellt. Der Legende nach widersetzte sich der junge Georg dem Edikt des Perserkönigs Dadianos gegen die Christen, indem Georg sich zu christlichen Tugenden öffentlich bekannte. Daraufhin wurde seine Folterung beschlossen. »Alles Schreckliche, was je Menschen einander antaten, was sie an Qualen und grausamen Straftaten für andere Menschen erdachten, hat die Legende im Folgenden auf ihren Helden gehäuft« (S. Braunfels-Esche, S. 14).
Auf das Mühlrad bezieht sich wohl westfälisch ›Et löpt em e Rad im Koppe rüm‹; vgl. Goethes ›Faust‹ (I, V. 1946f.):
Mir wird von alledem so dumm,
Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum
Gewandte Jungen schlagen ein Rad, indem sie sich vom Fuß auf die nächste Hand, die andere Hand und den andern Fuß rundum werfen, so daß Arme und Beine wie Speichen eines Rades sind (besonders bekannt die ›Düsseldorfer Radschläger‹); daher in Sachsen: ›Da mechte mer doch glei e Rad schlan‹, sich vor Überraschung, Zorn überstürzen; und mecklenburgisch ›Dat wir'n Rad slagen‹, ein heftiges Benehmen; französisch ›faire la roue‹, auch im Sinne von: kokettieren, flirten. Im Mittelalter hieß ›an das Rad kommen‹, auch: Erfolg haben, maßgebend mitwirken.
Ein einzelnes Rad wird getrieben, geführt, auch als Kinderspiel; dazu die ältere Redensart Sein (oder das) Rädlein treiben: die Angelegenheit in Gang bringen. Sie findet sich 1639 bei Lehmann S. 930 (›Zeit‹ 11): »Wann etliche in Sachen vnnd Geschäfften gar eyffrig vnnd hitzig seyn, das Rädlein starck treiben, so vergehts doch mit der Zeit, vnd was zuvor war nichts, das wird zunicht«. Luther schreibt in der ›Treuen Vermahnung an alle Christen‹; »Es ist nicht unser Werk, das jetzt geht in die Welt ... Ein anderer Mann ist's, der das Rädlein treibt«; dazu schweizerisch das Substantiv ›Rädlitriber‹ in Hans Rudolf Manuels Fastnachtsspiel ›Vom edlen Wein‹ von 1548:
Ich wil ufwiglen unsre wiber,
Das sind die rechten rädlitriber.
In einem schweizerischen Spottlied vom Jahre 1656 heißt es:
Weil er Schabab,
Drum zieht er ab,
Heimwärts sein Rad zu trüllen.
⇨ schabab.
Frühneuhochdeutsch bedeutet ›Rädlein‹ eine Zusammenrottung, eine Schar; das Rädlein führen ist ein Fachausdruck der Landsknechte. Der Führer eines solchen Rädleins wurde ›Rädleinführer‹ genannt, woraus dann der Ausdruck Rädelsführer (vgl. englisch ›ringleader‹, niederländisch ›raddraaier‹) entstanden ist (die Herleitung von einem Rad in der Fahne des ›Armen Konrad‹, des Bauernbundes von 1514, oder von einem Pflugrad in einer Fahne des Bauernkrieges von 1525 ist spätere Volksdeutung).
Das Rad ist in fast allen Kulturen ein Bewegungs- und Sonnenzeichen. Die älteste Darstellung des Rades findet sich auf einer sumerischen Kalksteinplatte: es ist ein elliptisches, aus drei Stücken zusammengefügtes und durch Stricke zusammengebundenes Scheibenrad. Die Entstehung des Speichenrades ist unbekannt. Die Redensart Man muß das Rädlein laufen Iassen: dem Geschick seinen Lauf lassen, geht auf das Glücksrad der Göttin Fortuna zurück. Die Metapher vom Glücksrad entstand bei den Griechen. Schon bei den Dichtern des Altertums findet sich die Vorstellung, daß Fortuna die Menschen auf ihr Rad setze und sie mit dessen Umschwung auf und nieder steigen lasse. Pindar und Sophokles sprechen beide vom Glück, das sich dreht wie ein Rad (D.M. Robinson, S. 208), ⇨ Glück.
Auch in die mittelalterliche Welt ist die Vorstellung von einem Glücksrad übergegangen. Die mittelalterliche Dichter sprechen oft von ›des glückes rat‹ und benutzen mit Vorliebe das Bild von den auf das Glücksrad gesetzten und mit ihm auf und ab geführten Menschen. Stellen wie »Fortûna brâht in zem hôhsten sitze ûf glückes rat« oder
Er ist komen ûf gelückes rat,
Daz muoz im iemer stille stên
oder:
Got werfe in von gelückes rat,
Der sich bôsheit understât
begegnen bei diesen Dichtern außerordentlich häufig. Zum sprichwörtlichen Ausdruck hat diese Vorstellung ebenfalls schon zeitig geführt. Bereits im ›Titurel‹ findet sich der Ausdruck »waz danne? es muoz nu walzen!« ganz in dem sinne gebraucht wie die heutige Redensart ›Man muß das Rädlein laufen lassen‹, d.h. man muß es gehen lassen, wie es will; man muß es, unbekümmert um die Folgen, auf gut Glück geschehen lassen. ›Der sauft und spielt drauflos und laßt halt's Radl laufe‹ sagt man in Süddeutschland.
Nur Gottes wundervolle Hand
Kann unser Glücksrad drehen
heißt es in einem frommen Liede, und dieser Vorstellung entsprechend findet sich unter den alten Holzschnitten zu Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ einer, auf dem eine aus den Wolken ragende Hand mit einem Seile ein Glücksrad in Bewegung setzt. Auch in einer beim Brand der Straßburger Bibliothek vernichteten Handschrift des 12. Jahrhunderts, dem ›Hortus deliciarum‹ der elsässischen Nonne Herrad von Landsberg, fand sich als Illustration zu Versen, die von der Eitelkeit alles Irdischen handeln, das Bild einer Fortuna, die auf ihrem Rade Könige auf und ab wälzt.
Zum selben Vorstellungsbereich gehören die Redensarten Das Rad wird sich wenden: das Schicksal wird sich ändern; Bis dahin wird noch manches Rad umgehen. So heißt Das Rad der Geschichte anhalten (zurückdrehen) wollen: eine unaufhörliche Entwicklung unterbrechen wollen, Geschehenes rückgängig machen wollen; französisch ›arrêter le cours de l'histoire‹.
Das Zitat ›Alle Räder stehen still‹ im Sinne von nichts arbeitet, bewegt sich mehr, stammt aus dem 1863 gedichteten Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein von Georg Herwegh (1817-75):
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
wenn dein starker Arm es will.
Auf die moderne Technik bezieht sich die Redensart Nur ein Rädchen im Getriebe sein: eine untergeordnete Rolle spielen. Zugrunde liegt die Vorstellung vom Ineinandergreifen von Zahnrädern, die nur innerhalb eines größeren Zusammenhangs eine Funktion haben.
Eine dicke (oder ›schwangere‹) Frau wird boshaft umschrieben mit: ›Hätte sie Räder, wäre sie ein Omnibus‹.
Die Wendungen Er fährt ganz schön Rad und jemand ist ein Radfahrer, aber auch die entrüstete Ablehnung: Ich bin doch kein Radfahrer! sind zweideutig. Vom Bild des Radfahrers, der nach oben seinen Rücken krümmen muß und nach unten tritt, erfolgte die verallgemeinernde Übertragung auf einen Menschen, der seinen Vorgesetzten schmeichelt und seine Untergebenen schikaniert.
• F.M. FELDHAUS: Fünftes Rad am Wagen, in: Zeitschrift des allgemeinen deutschen Sprachvereins 24 (1909), S. 371;24. DOREN: Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance, in: Vorträge der Bibliothek Warburg, Band 2 (1922/23), S. 71-144; RICHTER-WEISE, Nr.157, S. 171f. H. VERMEULEN: Het rad van fortuin, in: Ons Eigen Volk 1 (1940), S. 243-249; SINGER I., S. 90, II, S. 104, III, S. 88; DT. M. ROBINSON: The Wheel of Fortune, in: Classical Philology 41 (1946), S. 207-216; H. von HENTIG: Die Strafe 1 (1954); J. HEMPEL: Artikel ›Rad‹, in: Religion in Geschichte und Gegenwart V (3. Auflage 1961), Spalte 761-762; W. TREUE: Achse, Rad und Wagen (München 1965); S. BRAUNFELS- ESCHE: Sankt Georg: Legende, Verehrung, Symbol (München 1976); N.A. BRINGEUS: Das Lebensrad, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde. 32/33 (1987/ 88), S. 13-37; N.A. BRINGEUS: Pictures of the Life Cycle, in: Ethnologia Scandinavica 1988, S. 5-33; B.A. SCHÜLE, D. STUDER, CH. OECHSLIN (Hrsg.): Das Rad in der Schweiz vom 3. Jahrtausend vor Chr. bis um 1850. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizer Landesmuseums (Zürich 1989).
Jemanden aufs Rad flechten. Der Geräderte, sogenanntes Tübinger Wahrzeichen, Stiftskirche Tübingen.
Radebrechen. Holzschnitt: Rädern und Radflechten, 16. Jahrhundert Aus: Johannes Stumpff: Schweizer Chronik, Druck von 1548 (nach Schuhmann 1964, 337). Aus: Das Rad in der Schweiz vom 3. Jahrtausend vor Chr. bis um 1850. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums, 22. Aug. bis 26. Nov. 1989, herausgegeben von Bernard A. Schüle, Daniel Studer,
Christa Oechslin, Zürich 1989, S. 123.
Jemanden aufs Rad flechten. Holzschnitt: Die Höllenstrafe des Räderns, 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Aus: Richard Wrede: Die Körperstrafen bei allen Völkern von den ältesten Zeiten bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Kulturgeschichtliche Studien, Dresden-A.o.J.; S. 108.
Auf dem Glücksrad sitzen. Holzschnitt, Brant: Narrenschiff von 1494, Kapitel ›Von gluckes fall‹.