Redensarten Lexikon
Menschenfleisch
Die berühmten Worte des Riesen im Märchen: »Ich rieche, rieche Menschenfleisch« (z.B. Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 29 ›Der Teufel mit den drei goldenen Haaren‹) (englisch: ›I smell the blood of an Englishman‹) rührten an eines der größten Tabus, das die christliche Kultur errichtet hat, das aber in Folklore, Literatur und Kunst immer wieder durchbrochen wird: Die Menschenfresserei (Thomsen, S. 8). Die – wie Psychoanalytiker sagen würden – unterdrückte Lust am Kannibalismus äußert sich noch heutzutage in Science-Fiction, Film (z.B. ›Das Schweigen der Lämmer‹), Karikatur und Parodie (Wedekind: ›Der Tantenmörder‹) oder in den sogenannten Kannibalen-Witzen, im Kinderbuch, wie in den Bildergeschichten Wilh. Buschs (›Max und Moritz‹, ›Der Eispeter‹) oder in den nicht für Kinder gedachten Märchen-Illustrationen eines G. Doré oder Pocci; aber auch in sprichwörtlichen Redensarten wie z.B. ›Jemanden zum Fressen gern haben‹ ( fressen) oder ›Einen Narren an jemandem gefressen haben‹, Narr. In ›Auerbachs Keller‹ (Goethe, ›Faust‹ I) singen die betrunkenen studentischen Saufkumpane:
   Uns ist ganz kannibalisch wohl,
   Als wie fünfhundert Säuen!
Unterschwellig oder ganz offen vorhanden ist Kannibalismus in Märchentraditionen wie in ›Hänsel und Gretel‹ (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 15), ›Rotkäppchen‹ (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 26), ›Machandelboom‹ (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 47), ›Däumling‹ (Perrault: ›Le petit poucet‹). Kannibalismus wird Hexen, Werwölfen und Vampiren zugeschrieben. Im russischen Märchen ist die Baba-Jaga eine menschenfressende Dämonin. Der Kyklop Polyphem ist der Prototyp aller Anthropophagen der antiken Mythologie. Im Sagen-Zyklus von der ›Wilden Jagd‹ wird ein Mensch für seine (meist unbeabsichtigte) Jagdhilfe belohnt. Aber der Dank besteht in einem ›Aasgeschenk‹, das der Wilde Jäger zuteilt mit dem Ruf:

   Hast mit helfen jagen,
   kannst auch mit nagen!

In vielen Fällen wird die vom Wilden Jäger herabgeworfene Gabe als Menschenleiche, gebratener Mensch, halber Mensch, Menschenlende, Weiberschinken, Menschenbein, blutiges Frauenbein etc. bezeichnet. Die erste Erwähnung eines Fleisch- oder Aasgeschenkes findet sich bei Heinrich Bebel (›Facetiarum libri tres‹,1506, I, 36). Dabei handelt es sich um ein Stück von der nach ihrem Tode gejagten sündhaften Pfaffenkellerin, seiner Jagdbeute. In übertragener Bedeutung, d.h. in nicht mehr anthropophager Absicht, werden die Worte ›Ich rieche, rieche Menschenfleisch‹ heutzutage oft benutzt gegenüber jedem Fremden, der nicht dem eigenen spezifischen ›Stallgeruch‹, ›Müffel‹, ›Duftmarke‹ etc. entspricht; vgl. ›Jemanden nicht riechen können‹, riechen; ›Bei jemandem in gutem Geruch stehen‹ ( Geruch), ›Mir stinkts‹ etc.

• PEHL: Artikel ›Menschenfresser‹ in: Handbuch des Aberglaubens VI, Spalte 151-154; W.E. PEUCKERT: Artikel ›Aasgeschenk des Wilden Jägers‹,in: Handwörterbuch d. Sage I, S. 10-16; E. VOLHARD: Kannibalismus (= Studien zur Kulturkunde 5) (Stuttgart 1939); L. RÖHRICH: Die Frauenjagdsage, in: Laographia 72 (II (1965) S. 408-423; DERS.: Artikel ›Grausamkeit‹, in: Enzyklopädie des Märchens VI, Spalte 97-110; CHR. W. THOMSEN: Menschenfresser in der Kunst und Literatur ... (Wien 1983).
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