Redensarten Lexikon
Leiche
bedeutet in der Volkssprache sowohl ›Leichnam‹ als auch ›Begräbnis‹. In der großen Zahl von Redensarten zeigt sich das stark affektive Verhältnis zum Tod, das zuweilen aber auch in zynischen oder groben Witz umschlägt. ›De ganze Woche krank und sonntags keene Leiche‹ sagt man in Sachsen von eingebildeten oder wehleidigen Kranken; diese Redensart erinnert auch noch zur Steigerung der Witzwirkung an den mancherorts üblichen Brauch, daß sonntags nicht beerdigt wird. Wenn jemand bei traurigen Anlässen Witze erzählt, heißt es in Berlin (neuerdings aber auch sonst vielerorts): Spaß muß sin bei de Leiche und dazu oft als begründender Nachsatz: ›sonst jeht keener mit!‹    Mit zur Leiche gehen ist eine boshafte Redensart in Kaufmannskreisen, wenn man beim Konkurs eines Geschäftspartners wie viele andere seine aussichtslosen Forderungen anmeldet. In Niederösterreich verwendet man in bezug auf die Unausrottbarkeit von lästigen Fliegen das Bild: ›Oane daschlagt ma, neine keman auf d'Leich‹, d.h. eine erschlägt man, aber neun kommen zur Beerdigung (der einen). J. Maaler bucht die Wendung ›mit zur Leiche (oder mit der Leiche) gehen‹ in seiner ›Teutsch Spraach‹ (Zürich 1561) noch im eigentlich Sinn: »einen zu der Begrabnuß leiten; die oder der Leich nach gon; exequias alicui ducere«. ›Eine schöne Leiche‹ ist die Bezeichnung für ein prunkvolles Begräbnis mit vielen Teilnehmern.
   Über Leichen gehen: rücksichtslos auf ein Ziel lossteuern. Ihren Ursprung hat die Redensart wohl in der drohenden Verteidigungsformel, daß man eher sterben wolle, als eine bestimmte Forderung zuzugestehen. So heißt es in Herders Gedicht ›Der Gastfreund‹: »Nur über meinen Leichnam geht der Weg!« Dieselbe Formel findet sich in Körners ›Hedwig‹ (3,10): »Nur über meine Leiche geht der Weg«. In ›Wallensteins Tod‹ (5,7) heißt es: »Erst über meinen Leichnam sollst du hingehen«.
   Nur über meine Leiche!: niemals, solange ich lebe; kurzer Ausruf heftigster Abwehr. Eine Leiche im Keller haben: etwas Belastendes, das man verborgen glaubte und das plötzlich zum Vorschein kommt oder aufgedeckt wird. Vgl. das Kriminalstück ›Arsen und Spitzenhäubchen‹, in dem eine Leiche nach der anderen im Keller verschwindet und später entdeckt wird.
   Einen Lebenden Leichnam (französisch ›un cadavre vivant‹) nennt man einen gesundheitlich stark geschädigten oder auch nur so aussehenden Menschen (vgl. den gleichlautenden Titel eines Bühnenstücks von Leo Tolstoi). Die gleiche Bedeutung hat der Ausdruck ›Wandelnde Leiche‹. Der redensartliche Vergleich ›wie eine Leiche auf Urlaub‹ stammt aus der Soldatensprache und meint ebenfalls einen abgemagerten, geschwächten oder auch nur so aussehenden Menschen; der Gedanke des nur noch vorübergehenden Daseins wird hier (durch ›Urlaub‹ pointiert) dargestellt, ebenso das Gespenstische der Erscheinung.
   Mit einer wahren Leichenbittermiene. Wie den Hochzeitsbitter, so gab es im Volksbrauch auch den Leichenbitter, der mit professionell ernstem Gesicht die Trauergäste zum Leichenbegängnis einzuladen hatte. Der Leichenbitter spricht im Schwarzwald etwa folgende Einladungsformel: »Der Baschebur isch g'schtorwe un wurd übermorge früeh vergrabe. Seine Freunde lasse bitte, daß Ihr au zu dr Lich komme; sie werde dafür au Euch beistehe in Freud und in Leid«. Darauf bittet er um ein Vaterunser für den Verstorbenen (Elard Hugo Meyer, Badisches Volksleben im 19. Jahrhundert, Straßburg 1900, S. 589). Seine ›Leichenbittermiene‹ wurde sprichwörtlich für meist nicht ganz echtes, aber um so deutlicher zur Schau getragenes Leidwesen (vgl. die Schilderung von Ludwig Lenz und Ludwig Eichler: ›Berlin und die Berliner‹,1840-42). Schon bei Chr. M. Wieland wird im ›Amadis‹ von der Stimme eines Ritters gesprochen, »die er von einem Leichenbitter geborgt zu haben schien«. In Schillers ›Fiesko‹ (I,7) findet sich dann direkt die Wendung ›Mit einer wahren Leichenbittermiene‹. Das Substantiv ›Bitter‹ wird heute im Volksbewußtsein oft mißverstanden und als Adjektiv ›bitter‹ = herb, sauer gedeutet.
   Eine Leichenrede halten: über etwas Unabänderliches reden, jammern und sich aufregen, besonders beim Skatspiel über das vergangene Spiel reden. Wenn man in Obersachsen nach einem Begräbnis einen Umtrunk hält, heißt das ›einen Leichenstein setzen‹ (vgl. ›Das Fell versaufen‹), Fell. Bismarck nennt in seinen ›Gedanken und Erinnerungen‹ seine Entlassung und die damit verbundenen militärischen Ehren, die man ihm erwies, »ein Leichenbegängnis erster Klasse«. Eine makabre Redensart: ›Immer diese aufgewärmten Leichen‹: Alte Sachen, längst begraben, wieder hervorgeholt ... in alten Wunden rühren ... auch auf geistige Dinge anzuwenden.

• P. GEIGER: Artikel ›Leiche‹ – ›Leichenzug‹, in: Handbuch des Aberglaubens V, Spalte 1024-1167; E. SCHLEE: Die Husumer Leichenbitterin Madame Stak, in: Schleswig-Holstein 12 (1960), S. 129-130; H. SCHMÄLZER: ›A schöne Leich‹. Der Wiener und sein Tod (Wien 1980).}

Leichenbitter (›Mit einer wahren Leichenbittermiene herumlaufen‹). Holzschnitt, Wien Bestattungsmuseum.

Leichenbitter (›Mit einer wahren Leichenbittermiene herumlaufen‹). Wasserfarbenmalerei von Ma-
   theus de Sallieth, letztes Viertel des 18. Jahrhunderts, aus: J.J. Fahrenfort und C.C. van de Graft: Dodenbezorging en Cultuur, I, Amsterdam 1947.
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