Redensarten Lexikon
lebendig
Er nimmt's von den Lebendigen: er läßt es sich teuer bezahlen. Neben dieser weitverbreiteten Kurzfassung der Redensart, durch die ein Habgieriger charakterisiert wird, steht eine weniger geläufige längere Form: ›Er nimmt's von den Lebendigen und den Toten‹; vgl. auch hessisch ›Er nimmts aach von de Leawige, weil ers von de Dute net mehr kritt‹. Auch sonst herrscht in den Mundarten die Langform vor, z.B. rheinisch: ›... von den Doten is nix meh te kriegen‹ (vornehmlich von den Advokaten gesagt). Es fragt sich nun, welches die ursprüngliche Fassung ist und welche Herkunft sie hat. Unter den genannten Versionen dürfte die hessische Fassung die geringste Aussicht haben, als alt zu gelten; der Kausalsatz ist zu verdächtig. Er sieht doch aus wie eine neu hinzugefügte Erklärung zu einer alten, schon nicht mehr ganz verständlichen Redensart. – Die Wendung ›von den Lebendigen und den Toten‹ scheint an sich zwar einwandfrei; sie würde eben bedeuten: er nimmt's überall, wo er's nur bekommen kann, und scheut selbst vor den Toten nicht zurück. Allerdings wäre dann von hier aus die Kürzung auf die erste Fassung nicht recht zu verstehen. Man läßt doch nur dort etwas weg, wo der Rest allein zur Charakterisierung genügt. In diesem Fall wäre dann ›er nimmt's (sogar) von den Toten‹ viel eher zu erwarten.    Diese Erwägungen legen den Gedanken nahe, daß die zuerst genannte Kurzform den Ausgangspunkt der Redensart darstellt. Ihr Sinn, wenn sie nicht als Kürzung einer längeren, sondern für sich bestehend ganz selbständig entstanden ist, kann dann nur der sein: Der Gierige nimmt das, was ihm von den Toten rechtmäßig zustehen würde, bereits zu deren Lebzeiten, also von den Lebendigen. Zum Verständnis dieser Wendung könnte dann jener alte Rechtsbrauch verhelfen, nach dem beim Tode des Hörigen, Leibeigenen oder des Vasallen aus der Hinterlassenschaft das sogenannte Besthaupt (das beste Rind, das beste Pferd etc.) an den Herrn oder Lehnsherrn zu leisten war. Die Redensart wäre nach dieser Erklärung also zunächst eine Charakterisierung des harten, habgierigen Herren gewesen, der den Tod des Untergebenen nicht abwartete, sondern schon zu dessen Lebzeiten nach dem wertvollen Besitz griff. Dann fand eine Übertragung auf allgemeinere Verhältnisse statt, und schließlich wurde die Redensart, als ihr ursprünglicher Sinn verschwand, in verschiedener Weise ausgefüllt. Freilich kann diese Erklärung noch nicht als völlig gesichert gelten.

• J. GRIMM. Deutsche Rechtsaltertümer II, 509-521; K. HELM: Er nimmts von den Lebendigen, in: Hessische Blätter für Volkskunde, 27
(1928), S. 205.
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