Redensarten Lexikon
Kirche
Die Kirche im Dorf lassen: sich an das Gegebene halten, an Gebräuchen nichts ändern, nichts übertreiben. Wie die Kirche ihren rechten Platz mitten im Dorf hat, so soll man auch mit seinen Ansichten (Preisen und Forderungen) im Rahmen bleiben. Welch große Ordnungsfunktion die Kirche besaß, spiegeln vor allem die zahlreichen mundartlichen Wendungen, z.B. luxemburgisch ›maach, daß d'Kürche am Duerf blift‹; westfälisch ›maken, dat de kerk im dorpe blitt‹; mecklenburgisch ›blif man mit de Kirch int Dörp‹; schweizerisch ›luegen, daß d'Chilche (z'mitzt) im Dorf blibt‹. Obersächsisch oft: ›Ich wer'sch schon machen, daß de Kärche in Durfe bleibt‹, ich werde dafür sorgen, daß alles zur Zufriedenheit geregelt, daß niemand übervorteilt wird. Vgl. niederländisch ›de kerk in't midden (van het dorp) laten‹.    Auch literarisch ist die Redensart bezeugt, u.a. bei H. Böll im Titel seiner Erzählung: ›Die Kirche im Dorf‹ (1965). Darüber hinaus hat sie aber auch in der Parodie ihren Platz gefunden. so heißt es z.B. in einer neuzeitlichen Erweiterung: ›Man muß die Kirche im Dorf lassen. Nur die Steuern gehen nach Rom‹.
   Im Volksmund heißt es auch scherzhaft:

   Die Kirche hat einen guten Magen,
   kann ungerechtes Gut vertragen.

Mephisto erklärt dies ausführlicher in den Worten des Pfaffen (›Faust‹ I, Spaziergang)

   Die Kirche hat einen guten Magen,
   Hat ganze Länder aufgefressen,
   Und doch noch nie sich übergessen;
   Die Kirch allein, meine lieben Frauen,
   Kann ungerechtes Gut verdauen.

Mit der Kirche ums Dorf gehen: verkehrt, umständlich handeln. Nach Wander (II, Spalte 1345) ist hierbei unter Kirche die Kirchengemeinde zu verstehen, die bei ihren Prozessionen einen langen Weg um das Dorf wählt. Daraus habe sich dann die Bedeutung, einen Zweck auf dem umständlichsten Weg erreichen, entwickelt. Die Redensart ist mundartlich im Vorarlbergischen, im Schwäbischen und in der Schweiz verbreitet, wo es heißt: ›Mit der Chilche um's Dorf ummen' gan‹. Die Kirche ums Dorf tragen: unnötige Umwege und Umstände machen; elsässisch sprichwörtlich ›De Kirch is ka Frosch, die huppt net wack‹; rheinisch ›Wann de den Weg gehscht, drägscht die Kirch um's Dorf erum‹.
   Seltener ist die gleichbedeutende Wendung Ums Dorf in die Kirche gehen.
   Die Formeln Kirche und Straße und Kirche und Markt umfassen den ganzen Bereich der Öffentlichkeit und gründen sich auf alte Rechtsbräuche. Wenn sich Mann und Frau zusammen sehen lassen, erweisen sie sich damit als rechtlich zusammengehörig, als Eheleute. Neuvermählte machten nach der Trauuung einen feierlichen Gang durchs Dorf. An diesen Brauch war im 14. Jahrhundert im Stadtrecht von Orlamünde sogar das Erbrecht gebunden. Die niederdeutsche Redensart ›eine Frau to Kark un Markt führen‹ bedeutet heiraten. Schleswig-holsteinisch ›he geit nich to Kark no to Mark‹, er lebt völlig zurückgezogen.
   Die Wendung Zu Kirchen gehn meint auch die Einsegnung der Wöchnerin. Schweizerisch sagt man dazu: ›z'Chinds z'Chirchen gan‹, wenn die Wöchnerinnen 6 Wochen nach der Niederkunft den ersten Kirchgang tun. Dieser Brauch geht auf die in Lev 12 beschriebene jüdische Reinigungsvorschrift zurück, die in der römischen Kirche in ähnlicher Form als löbliche Sitte zur besonderen Segnung beibehalten wurde, teilweise sogar in den reformierten Kirchen. In der Lüneburger Heide sagt man dazu: ›se hult Karkgang‹ und in Schlesien ›ter Kerchen goehn‹.
   ›Solang mr sengt, ist de Kerch net aus‹: Auch länger Verheiratete können noch einen Nachkömmling bekommen.
   In die Kirche läuten und dann schlafen gehen: andere zur Frömmigkeit auffordern, selbst aber zu bequem sein. Daß der sonntägliche Kirchgang vielfach nur als Pflichtübung betrachtet wurde, erweist die Feststellung: Der kann die Kirche auch zu Gevatter nehmen, wobei der seltene Kirchenbesuch mit einem pflichtgemäßen Verwandtenbesuch verglichen wird. In die Kirche gehen, wo mit Gläsern zusammengeläutet wird: euphemistisch für: ins Wirtshaus gehen, Magen.

• FUß: ›Machen daß die Kirch mitten im Dorf bleibt‹, in: Monatsschrift für die Geschichte Westdeutschlands 5 (1880), S. 650; J. KUNZIG: Artikel ›Kirche‹, in: Handbuch des Aberglaubens IV, Spalte 1396-1410; Religion in Geschichte und Gegenwart 3. Auflage III, Spalte 1296-1327, Artikel ›Kirche‹; Lexikon für Theologie und Kirche V, Spalte 968ff., Artikel ›Kirche‹.}

Die Kirche im Dorf lassen. Karikatur von Haitzinger, vom 27.V.83, aus: tz, München.
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