Redensarten Lexikon
Karnickel
der Verantwortliche, eigentlich Urheber, der Schuldige; Reststück der ursprünglich berlinischen Redensart (der) Karnickel hat angefangen. Mit diesen Worten wird in einer Streitsache der unterliegende Schwächere vom stärkeren auch noch ins Unrecht gesetzt; vgl. auch wer ist das Karnickel?: wer hat die Veranlassung (zu einem Streit) gegeben? Die vor allem berlinisch noch viel gebrauchte Redensart ist nicht ohne weiteres verständlich, denn die Rolle des Friedensstörers paßt eigentlich schlecht zur Wesensart des Kaninchens. Die ironisch gemeinte Wendung bringt die Pointe einer ziemlich jungen Berliner Lokal-Erzählung, die sich als sprichwörtliche Redensart verselbständigt hat. Den frühesten greifbaren Beleg enthält ein Gedicht von Friedrich Förster, dem Freund Theodor Körners, das im Berliner Konversationsblatt für Poesie, Literatur und Kritik 1827 unter der Überschrift ›Karnickeltod‹ erschien: Ein junger Maler schlendert mit seinem Windspiel Presto über den Markt. Der Hund bleibt bei einem Gärtner stehen, der unter einem Grünkohl ein ›Karnickel‹ mitgebracht hat, und fängt an, diesem ›den Pelz zu befühlen‹.
   Karnickel denkt: er will
   ›backe Kuchen‹ spielen,
   Macht ein Männchen und in allem Spaß
   Tatscht es dem Hund so auf die Nas.
   Kaum aber tut Presto so was spüren,
   Er gleich darauf los, ohne Parlementieren,
   Treibt den (!) Karnickel zwischen die Körbe zurück
   Und bricht ihm erbärmlich das Genick.

Auf das Geschrei des Gärtners kommt die Polizei und nimmt den Herrn fest.

   Ein Refrendarius tritt herfür,
   Ruft: ›quadrupes pauperiem‹ heißt es hier.
   Die Weiber mit Fisch und Gemüse schrein,
   Alle Welt stürmt auf den Maler ein.
   Und ein Schusterjunge, schmutzig und keck,
   Steht eben auch mit auf dem Fleck.
   Der spricht: hier gilt kein Bangemachen.
   Lieber Herr, Sie können dreist lachen,
   Nur immer mit auf die Polizei gegangen,
   Ich hab' es gesehen: Karnickel hat angefangen.
   Guter Ibrahim, so ist es dir ergangen,
   Es wird heißen: Karnickel hat angefangen.

Der Schluß des Gedichtes nimmt Bezug auf die Seeschlacht von Navarino: Als die Engländer unter Codington am 20. Oktober 1827 die türkisch-ägyptische Flotte unter Ibrahim Pascha in den Grund bohrten, gaben sie vor, die Türken hätten den ersten Schuß getan. Es war aber nur ein Salutschuß gewesen. In der Ausgabe seiner Gedichte (1838) gab Förster dem Gedicht den Titel ›Karnickel hat angefangen‹, weil die Wendung inzwischen schon zur sprichwörtlichen Redensart geworden war, wie überhaupt dieses Gedicht eine große Wirkung gehabt hat; auf ihm beruhen auch einige künstlerische Darstellungen der Erzählung. Es ist allerdings auch möglich, daß die Geschichte schon vorher Volkserzählung war, ehe sie Förster bearbeitete und sie auf ein damals viel diskutiertes weltgeschichtliches Ereignis bezog. Die Erzählung ist jedenfalls auch Wandergut geworden, und andere mündliche Versionen verlegen den Schauplatz der Geschichte nach Magdeburg oder auch nach Braunschweig. Wenn auch der Franzose sagte ›Le lapin a commencé‹ (heute ungebräuchlich), so stammt das aus dem Deutschen. Die Erzählung von der angeblichen Schuld des schwachen Kaninchens liegt ja im allgemeinen Gedankengut der Fabel und ist im Grunde ein Analogiefall zur Fabel vom Wolf, der das Lamm frißt, und diesem die Schuld an seinem Untergang zuschreibt. Das plattdeutsche Sprichwort sagt: ›Ick ward keen Narr sin, sä de Wulf, un lat mi vont schap biten‹ oder auch: ›Ick kann'r nich vör, sä de Wulf, da drog he dat Schap weg‹.
   Sich vermehren wie die Karnickel (Kaninchen): zahlreichen Nachwuchs haben; Hase, Kaninchen.
• O. PNIOWER: Das Karnickel hat angefangen, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 42 (1925), S. 110-112; CHR. ROGGE: Karnickel hat angefangenn in: Zeitschrift für deutsche Philologie 53 (1928), S. 189-191; H. KRUGLER: Zu ›Karnickel hat angefangen‹, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 57 (1932), S. 178-180.

Karnickel hat angefangen. Kolorierte Lithographie von Franz Krüger, aus: O. Pniower: Das Karnickel hat angefangen, in: Mitteilungen d. Ver. für die Geschichte Berlins 42, 1925, S. 111.

Karnickel hat angefangen. Kolorierte Lithographie von Lami, aus: O. Pniower, S. 111.
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