Redensarten Lexikon
Henkersmahlzeit
Der Brauch, daß einem zum Tode Verurteilten vor der Hinrichtung noch ein gutes Mahl nach seinen Wünschen bereitet wurde, ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt; der Ausdruck ›Henckermol‹ findet sich seit 1575 bei Johann Fischart, ›Henkersmahlzeit‹ seit 1691. Im Scherz sagt man Seine Henkersmahlzeit halten für jede letzte Mahlzeit vor einem Abschied; entsprechend niederländisch ›iemands galgemaal‹.    Der Brauch einer letzten Mahlzeit vor der Hinrichtung läßt sich bis heute bei vielen Kultur- und Naturvölkern nachweisen. Den Delinquenten steht die uneingeschränkte Wahl der Speisen und Getränke zu. Die hauptsächlich gewählten Speisen sind Huhn, Fisch, Fleisch, Obst, Süßigkeiten, aber auch Rauschmittel, Alkohol und Nikotin. Das letzte Mahl erhalten alle Hinzurichtenden, gleichgültig, ob sie durch das Schwert oder den Strang umgebracht, ob sie lebendig vergraben, eingemauert oder ausgesetzt werden. Diese Sitte gilt auch für andere Arten der Tötung: Menschenopfer, die ausgesetzten alten Leute, der Sündenbock usw.; sie alle erhalten ein letztes Mahl oder ein Viaticum, bevor sie in den Tod gehen. Und nicht nur das Mahl gilt als letzte Gunst. Ganz generell wird die letzte Bitte des Todeskandidaten erfüllt: das letzte Wort wird bewilligt, ebenso die letzte sexuelle Befriedigung, die gut ausgestattete letzte Zelle, die festliche Kleidung zum letzten Gang, die gelöste Fessel. All diese Vergünstigungen dienen dazu, die bedrohliche Macht des Sterbenden, die er mit ins Jenseits nehmen kann, zu entschärfen, den Sterbenden also mit seinem gewaltsamen Schicksal zu versöhnen und ihm den Gedanken der Rache zu nehmen. Dahinter steht die Grundidee der jäh unterbrochenen, also nicht voll ausgelebten und aufgebrauchten Lebenskraft der vorzeitig Getöteten, die es noch vor deren Ableben zu beruhigen gilt. Auch die Gewalttat, die am Hinzurichtenden begangen wird, kann den Toten zu bedrohlichem Tun reizen. Die Furcht vor dem Groll des Sterbenden provoziert diese und andere Maßnahmen. Die Ergebung in Gottes und des irdischen Gerichtes Willen, die Bereitschaft zu einem wirklich sühnenden Tod soll herbeigeführt werden. Es ist bedenklich, wenn der Delinquent obstinat ist. Er soll willig, unter Verzicht auf Rache und Vergeltung, aus dem Leben scheiden. Deshalb wurden Verbrecher, die alle letzten Gunsterweise ausschlugen, in älterer Zeit oft von der erregten Menge befreit. Der Fluch des Sterbenden, die Vorladung seiner Gegner vor Gottes Gericht, der letzte grollende Blick, das alles war eine unzweifelhafte Gefahr. Statt dessen hat man es gern, wenn der Sterbende allen Prozeßteilnehmern verzeiht, wenn er dem Henker die Hand reicht, den Richter umarmt, daß er die Menge der Zuschauer segnet usw. Die Grundlage des Henkersmahls liegt also ganz eindeutig im Willen der Lebenden, den sterbenden Verbrecher zu versöhnen, ihm den Groll zu nehmen, ihm sein Ende in der wahrsten Bedeutung des Wortes ›schmackhaft‹ zu machen.

• L. MACKENSEN: ›Henkersmahl und Johannisminne‹, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (germanist. Abt.), 44 (1924), S. 318-328; DERS.: Artikel ›Henkersmahl‹, in: Handbuch des Aberglaubens III, Spalte 1746-1748; H.V. HENTIG: Vom Ursprung der Henkersmahlzeit (Tübingen 1958); vgl. die Rezension dieses Buches von K Ranke in: Zeitschrift für Volkskunde. 55 (1959), S. 136- 142; A. GITTÉE: ›Galgenmaal‹, in: Volkskunde, 1 (1988), S. 191-192.
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