Redensarten Lexikon
Engel
Das hat dir dein guter Engel eingegeben sagt man zu jemand, der im Begriffe, eine Torheit zu begehen, sich noch im letzten Augenblick eines Besseren besinnt. Diese Redensart geht auf die alte christliche Vorstellung von der Aufgabe der Engel zurück, die Menschenkinder zu behüten. So sagt Tobias von seinem Sohne: »Ich glaube, daß ein guter Engel Gottes ihn geleitet« (Tob 5, 29). Von Johannes Agricola wird 1529 in Nr. 555 seiner ›Sprichwörter‹ die Redensart »Du hast eynen gutten Engel gehabt« folgendermaßen erklärt: »Wer nun in eynem vngluck vnd schwinden vnfall gewesen ist, vnd yhm wirt geholffen, da alle menschen verzagten, von dem sagt man, Der hat eynen gutten Engel gehabt, der yhm geholffen hat«. Eine ähnliche Deutung findet sich in der ›Zimmerischen Chronik‹ (Band 4, S. 129, 12): »Es geschieht etwas wunderbarlich, das die kinder in ihrer jugendt von ihren engeln und hüetern bewart werden«. In Lessings ›Emilia Galotti‹ (V.5) sagt Odoardo vom Prinzen: »Das sprach sein Engel«.    Der Verstorbene geht nach christlichem Volksglauben zu den Engeln ein, daher sagt man schwäbisch beim Tod eines Kindes: Es spielt mit den Englein; ist jemand eines sanften Todes gestorben, so hört man: Den haben die Engel in den Schlaf gesungen (vgl.
Das Zeitliche segnen, zeitlich).
   Der Redensart die lieben Engelchen singen (pfeifen) hören liegt die Vorstellung von einem Orchester der Engel zugrunde, das man musizieren hört, wenn sich einem der Himmel auftut (vgl. die antike Vorstellung von der Sphärenharmonie). Das widerfährt eigentlich nur den selig Verstorbenen. So singt der Archipoeta, der Meister der fahrenden Kleriker der Stauferzeit: Dem Wirtshaus will ich treu bleiben,

   donec sanctos angelos venientes cernam,
   cantantes pro mortuis ›Requiem aeternam‹,
   (bis dereinst die Engel nahn,
   bis mein Ohr vernommen
   ihren heil'gen Sterbegruß:
   ›Ew'ge Ruh den Frommen!‹)

Heute überwiegt die scherzhafte Anwendung dieser Redensart. Die Engel hören wir nicht mehr im höchsten Entzücken singen (wenn der Himmel ›voller Geigen hängt‹), sondern bei heftigem Schmerz, der uns für einen Augenblick lang betäubt; vgl. schleswig- holsteinisch ›He hett all de Engeln singen hört‹, er ist mit knapper Not dem Tode entronnen.
   Ein Engel geht durchs Zimmer, ein Engel fliegt durch die Stube (sitzt auf der Gardinenstange) sagt man, wenn in der lebhaften Unterhaltung einer Gesellschaft zufällig und plötzlich eine allgemeine Stille eintritt, so wie beim Erscheinen eines Engels alles betroffen schweigen würde. Die Redensart ist von hohem Alter. Wander (I, Spalte 821, 43) nimmt an, mit dem Engel sei wahrscheinlich der Todesengel gemeint, zumal der Bildgehalt anderer sinngleicher Redensarten öfter Tod und Begräbnis nennt. Außer in Deutschland und in der Schweiz geht auch in Frankreich, England, Schweden, Lettland und Estland ein Engel durch das Zimmer oder am Hause vorbei; französisch ›Un ange vient de passer‹, auch ›Un ange passe‹; englisch ›There is an angel (a spirit) passing‹; in Holland ein Priester ›Daar gaat een dominee voorbij‹; in Estland ›Der Tod geht hinter dem Hause durch‹. Auch für Spanien ist die Redensart bezeugt. In Amerika wird das plötzliche Schweigen mit einer Quäkerversammlung verglichen (›Quaker meeting‹; man sagt ›It's twenty minutes past‹; oder ›The cat has stolen your tongue‹.
   In Österreich fragt man dann ›Wer sitzt mit gekreuzten Beinen?‹, in Schlesien ›Wer hat denn die Beine verschränkt?‹ (verhindernde Gebärde). In Estland heißt es, daß einer, der auf diese Weise sitzt, die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen hat. In Polen, Lettland und Finnland wird das Schweigen in einer Gesellschaft mit einem Begräbnis verglichen oder auch mit einigen Arbeitsvorgängen, die aus Zaubergründen Stille erfordern: mit dem Säen von Mohn
(Polen), von Flachs oder Rüben sowie mit dem Biegen einer Schlittenkufe (Finnland). In Finnland gibt es außerdem verschiedene Redensarten vom Abschneiden, Abfallen oder Verknoten der Zunge (›Der Zungenabschneider ist vorüber gegangen‹) bzw. vom Abbrechen oder In-die-Tasche-Stecken des Endes der Rede. Andere redensartliche Paraphrasen des plötzlichen Schweigens sind: ›Ein Leutnant (Offizier) bezahlt seine Schulden‹ (Deutschland, Schweden); ›ein Student bezahlt seine Schulden‹ (Polen, Estland); ›ein Leutnant kommt in den Himmel‹ (Deutschland); ›ein Oberst starb‹ (Rußland); ›jemand stirbt‹ (Estland); ›ein Polizist ist geboren‹ (Rußland); ›ein Jude ist geboren‹ (Estland).
   Stehen diese Redensarten in einem genetischen Zusammenhang, oder gibt es keine Verbindung zwischen diesen verschiedenen Versionen, sind es reine Scherzfiktionen oder aber Survivals alter Vorstellungen? Eine überraschende Lösung dieser Frage bietet eine Stelle bei Plutarch (46-120 n. Chr.) über die Geschwätzigkeit: »Entsteht in einer Gesellschaft plötzliche Stille, so sagt man, Hermes sei hereingekommen (Ermhs epeiselhlyte). Hermes war der Herold und Bote der Götter, dem die Zungen der Opfertiere verfielen und von dem man glaubte, er habe dem neugeschaffenen Menschen die Zunge gegeben; wenn er zu einer Opfelzeremonie kam, mußten alle völlig schweigen. Es ist noch nicht untersucht, wie der während des allgemeinen Schweigens durch das Zimmer fliegende Engel, die Quäkerversammlung und der Zungenabschneider von Hermes abstammen. Aber es zeigt sich, daß diese scheinbaren Scherzredensarten doch auf eine alte Glaubensvorstellung als Grundlage zurückgehen, vielleicht sogar auf die jüdischen Riten der Passahnacht. Auf dem Höhepunkt der Nacht wurden alle Gläser mit schwerem, süßem Rotwein gefüllt. Vom größten Pokal sollte Gottes Engel kosten, der in jener Nacht in den Häusern der Juden Einkehr hielt. Man löschte alle Lichter, und in der von Anbetung und Ehrfurcht schweren Stille wartete man, bis der Engel dagewesen war. Dann zündete man die Lichter wieder an und beendete schnell das Mahl.«
   Bei genügender Ergänzung des Vergleichsmaterials könnten sich unerwartete Ideenzusammenhänge ergeben.
   Auch in der Literatur wird die Redensart verwendet. Mörike schreibt in seinem Roman ›Maler Nolten‹: »Ists nicht ein artig Sprichwort, wenn man bei der eingetretenen Pause eines lange gemütlich fortgesetzten Gespräches zu sagen pflegt: es geht ein Engel durch die Stube!« K.L. Immermann hat in seinem Münchhausen-Roman die Redensart ironisch angewendet: »Der Mythus sagt, in solchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer, aber nach der Länge derartiger Pausen zu urteilen, müssen zuweilen auch Engel diese Flugübungen anstellen, deren Gefieder aus der Übung gekommen ist«.
   Manchmal werden besonders gute Eigenschaften der Menschen mit denen der Engel verglichen, indem man sagt: Jemand ist schön wie ein Engel oder Er erscheint als rettender Engel; Er erweist sich als ein wahrer Engel in seiner Hilfsbereitschaft und Aufopferung für andere.
   Der Ausdruck ein gefallener Engel sein: seine Unschuld verloren haben, steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit Offb 12, 9, wo es heißt: »Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen«.
   Die Bezeichnung blauer Engel für ein betrunkenes Mädchen leitet sich von dem Titel ›Der blaue Engel‹ für einen der ersten deutschen Tonfilme her, unter dem 1929 Heinrich Manns Roman ›Professor Unrat‹ verfilmt wurde.
   Er will den Engeln ersparen, ihn in Abrahams Schoß zu tragen sagt man von einem, der ein schlechtes Leben führt, Abraham. Du bist ein Engel mit 'nem B davor: ein Bengel (berlinisch und anderwärts).
   Mit den Engeln lachen: ohne Grund oder Gegenstand; vgl. französisch ›rire aux anges‹ (Die französische Redensart bezeichnet kein unbegründetes, sondern ein unschuldiges kindliches Lachen).
   Sein Engel ist ein Bettler sagt man von einem, der nur in Betteleien Glück hat; entsprechend sein Engel ist kein Bettler: er wird vom Glück begünstigt (vgl. jüdisch-deutsch ›sein Malech is e Gascht‹ bzw. ›is kaan Gascht‹).
   Auf gutes (oder schlechtes) Reisewetter bezieht sich der Spruch: ›Wenn Engel reisen ..., lacht (weint) der Himmel (Freudentränen)‹. Er ist auf jedes Wetter anwendbar und hat zumeist nur den Zweck, die Atmosphäre bei An- oder Abreise aufzulockern. Oft wird der Nachsatz gar nicht ausgesprochen, da er überall bekannt ist und die Andeutung allein schon genügt, um den Mitmenschen ein verständnisvolles Lächeln zu entlocken.
   Eine Engelsgeduld haben: ein seltenes Maß von Geduld aufbringen, besonders bei einer langwierigen Arbeit oder bei liebevoller Zuwendung und Pflege von Kindern, Alten und Kranken trotz aller Mühe und nicht ausbleibender Enttäuschung, auch ohne Hoffnung auf Dank oder Lohn.
   Wenn vom ›Engelland‹ die Rede ist, gilt das als Hinweis auf das Elfenland, Traumland, Feenland Der Begriff begegnet des öfteren im älteren deutschen und niederländischen Lied, Fuß.
• R. KÖHLER: ›Ein Engel flog durchs Zimmer‹, Germania 10 (1865), S. 245-236; ders.: Kl. Schriften III (Berlin 1900), S. 542; K. BETH: Artikel ›Engel‹ in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens II, Spalte 823-836; L. SCHMIDT: Die Attribute der Engel in der deutschen Volksauffassung, in: Zeitschrift für Volkskunde 43 (1935), S. 152-176, 250-273; M. KUUSI: Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart (Folklore Fellows Communications 171) (Helsinki 1957), S. 388-390; A. TAYLOR: The Proverb, Reprint (Hatboro [Pa.] – Kopenhagen 1962), S. 129f.; G. GROBER-GLÜCK: Motive und Motivationen in Redensarten und Meinungen I (Marburg 1974), S. 264ff.; W. DANCKERT: Symbol, Metapher, Allegorie im Lied der Völker I (Bonn-Bad Godesberg 1976), S. 442ff.; L. INTORP: Artikel ›Engel‹, Enzyklopädie des Märchens III, Spalte 1413-1430; H. SCHWARZBAUM: Artikel ›Der bestrafte Engel‹, in: Enzyklopädie des Märchens III, Spalte 1431-1438; M. LURKER: Artikel ›Engel‹, in: Wörterbuch der Symbolik (Stuttgart 1979), S. 135f.
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