Redensarten Lexikon
Brille
Dazu braucht man keine Brille; Das sieht man ohne Brille: die Sache ist vollkommen klar, leicht einzusehen; vgl. niederländisch ›Dat kan men zonder bril wel zien‹; französisch ›Il n'y a pas besoin de lunettes pour voir cela‹ oder ›Cela se voit sans lunettes‹. Ebenso in den Mundarten.: pfälzisch ›Do brauchscht kään Brill‹: jede Unklarheit ist beseitigt; ›dat kann'n jo in'n Düüstern seen on Brill‹, hamburgisch für: das ist einleuchtend und ›ohne Brille verstehen‹: leicht zu begreifen, in der Mark Brandenburg; rheinisch ›dat mache mer all ohne Brel‹: dies Geschäft verrichten wir mit leichter Mühe; dagegen nordostdeutsch ›Ohne Brill is nuscht to moake‹, wenn etwas fehlt, was zu irgendeiner Verrichtung notwendig ist.    Einem nachlässigen oder faulen Arbeiter wird im Raum Hamburg empfohlen: ›Du mußt (noch) en Brüll ophebben‹. ›Fehlt einem die lateinische Brille‹, bleibt ihm der Sinn der Sache dunkel. Das heute kaum noch gebräuchliche Wortspiel wird anekdotisch erklärt als die Schutzbehauptung eines Advokaten, der seine Unkenntnis des Lateinischen mit der Verlegenheitslüge kaschieren wollte, er habe das für die Lektüre des in lateinischer Sprache verfaßten Aktenstückes notwendige Augenglas verloren.
   Etwas durch die Brille (auch durch eine fremde Brille) ansehen: eine Sache nach fremder Eingebung, mit einem Vorurteil, einer vorgefaßten Meinung betrachten (vgl. französisch ›voir quelque chose avec les lunettes de quelqu'un‹), z.B. ›Durch eine rosige Brille‹, mit günstigem Vorurteil. Die Redensart ist in dieser Form schon lange gebräuchlich. Luther schreibt: »Darnach nu sie solch gemahlte brillen für den augen haben«. Noch deutlicher steht es bei Sebastian Franck 1568 (›Paradoxa‹ 16): »Wer blitzblaw brillen aufhat, dem scheinent alle ding blitzblaw«, d.h., je nach Art der Brille erhalten die Dinge ein anderes Aussehen.
   Ohne gelehrte Brille lesen: mit gesundem Menschenverstand urteilen.
   Einem eine Brille aufsetzen: ihn täuschen. Das sind Brillen: das ist Betrug, verübt nicht selten bezüglich des 6. Gebots, wie von jener Hamburgerin um die Mitte des 18. Jahrhundert, die bereit war, ›ehren Eh-Herrn en Brill upthosetten‹: ihren Gatten zu hintergehen. Schon in Murners ›Narrenbeschwörung‹ heißt es:

   Die frow gibt antwurt: lieber man,
   Nit sihe vns für semliche [d.h. so beschaffen] an,
   Du miest ein ander brill vff setzen.

Der Kluge bedarf nach einer volkstümlichen Vorstellung, die noch heute lebendig ist, der Brille nicht; er ›Sieht mit eigenen Augen‹ und ›Läßt sich keine Brille verkaufen‹. Die Wendung Brillen verkaufen und Jemanden brillen sind ungebräuchlich geworden, jedoch in den Mundarten zum Teil noch erhalten, z.B. niederdeutsch ›Ik laat mi keen Brillen verkoopen‹, ich lasse mich nicht anführen; noch gesteigert in der kühnen Behauptung eines versierten Hanseaten: ›Mi kannst keen Brillen verkeupen, ik heff sülfst dormit hannelt‹: ich lasse mir nichts vormachen.
   Er hat sich selbst die Brille auf die Nase gesetzt: er hat sich selbst betrogen und Er hat sich eine falsche (schlechte) Brille gekauft: aus Furcht, der Wahrheit ins Auge zu sehen.
   Im Eulenspiegelvolksbuch (Historisch 63) tritt Eulenspiegel unter anderem als ›Brillenverkäufer‹ auf, und er treibt das Wortspiel noch weiter, wenn er darüber klagt, daß sein Gewerbe auf dem absteigenden Aste sei, weil so viele Leute jetzt ›durch die Finger sähen‹. Das Wortspiel muß um 1500 sehr geläufig gewesen sein, denn es findet sich bei vielen Autoren jener Zeit, unter anderem in Sebastian Brants ›Narrenschiff‹, 1494; in ›Des Teufels Netz‹, Beginn des 16. Jahrhundert; bei Luther und Hans Sachs. Auch Johann Fischart gebraucht die Redensart ›Finger-Brillen machen‹: ohne Brille durch die Finger sehen (›Gargantua‹, 1575b). In der Schweiz war sie noch in der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts verbreitet: ›Wer dur d'Finger luegt, bruucht kei Brülle‹.
   Wir besitzen auch eine ganze Reihe bildlicher Zeugnisse, nach denen das Brillenverkaufen offensichtlich als redensartliche Wendung für ›betrügen‹ aufgefaßt wurde. Mehrfach kommt das Thema der jungen Frau vor, die ihren alten Ehemann ›brillt‹, um ihn mit einem jungen Mann betrügen zu können:

   Den kalten alten Mann ich brill,
   weil er's doch gern so haben will.

Auch Bruegel hat auf einem seiner graphischen Rundbilder den betrogenen Betrüger deutlich als Brillenverkäufer gekennzeichnet. Aus dem 16. Jahrhundert sind auch Redensarten bezeugt wie: ›es seind Brillen‹, es sind faule Fische; ›Brillen reißen‹, Flausen machen, Possen reißen. In dem 1520 in Hildesheim aufgeführten Spiel ›De scheve klot oder de brilmaker unde de tein boven‹ heißt es ganz ähnlich wie im Eulenspiegelbuch:

   sunder nu is min handtwerck scher gestoruen.
   dat kumpt van dingen, de nu schen,
   dat me so wol kan dor
   de finger sehen,
   dar wert min handtwerck mede voracht.

›Brillen verköpen‹ = täuschen war dem mittelniederdeutschen Sprachgebrauch geläufig; ›dat brillensnîdent is afgekomen‹ heißt: man sieht durch die Finger.
Auch Faust wird ein ›seltzamer brillenreißer aber und ebenthewer‹ genannt (in der deutschen Übersetzung von Johannes Weiers ›De Praestigiis Daemonum‹ [Frankfurt 1586]).
   Seinen Zeitgenossen war der ›Parillenseher‹ nicht minder verdächtig, der im Zauber- und Wahrsagespiegel die Zukunft ergründete. Auf dieser okkulten Verwendung des geschliffenen Berylls, dem Vorläufer der Brille (und später auch des Bergkristalls), dessen optische Eigenschaften zufällig entdeckt wurden und die Roger Bacon (1214-94) wissenschaftlich bewies, beruht die frühneuhochdeutsche üble Bedeutung Schwindel, Prahlerei, Possen für Brille. So bei Hans Sachs, der den Zeichendeuter und Zauberer sagen läßt:

   In der Krystall und der Parill
   kann ich auch sehen viel Gesicht.

Ihrer eigentlichen Bestimmung entgegen erscheint die Brille auch als ›Blendwerk‹, ein Hemmnis jeder Art, und zwar nicht nur metaphorisch, sondern auch höchst real. Oldecop erzählt von den Betrügern von Bologna, »dat se de veste, de Julius vor de stat gebuwet, mit undergebrachtem pulver ummegeworpen und den bril von der nese brohten«.
   Noch heute nennt man im Elsässischen ›e Bril vor d'Nas setze‹, dem Nachbarn die Aussicht verbauen;
ähnlich im Schwäbischen: ›Dem hast e brave Brill fürs Fenster gsetzt‹.
   Die Redensart blieb nicht auf Sachen allein bezogen, niederdeutsch: ›He krigt daar een aisken Brill up de Näse‹: er wird durch diese abscheuliche Person in seiner Handlungsfreiheit sehr eingeschränkt; auch spöttisch und als Drohung benutzt ›Dem will i e Brill uf de Nas setze‹: ein Hindernis bereiten.
   In Niederösterreich bedeutet ›einem die Brille aufsetzen‹: ihm gehörig die Meinung sagen. Durch die Brille sieht man gewöhnlich deutlicher, daher im Rheinland ganz allgemein verbreitet: ›Dem setzen ech es der Brei zerech‹: ich sage ihm die nicht gerade schmeichelhafte Wahrheit, schwäbisch ›einem eine Brill aufsetzen‹: jemanden aufklären.
   Den wahren Zweck und Nutzen der Brille, die Einsicht in Welt und Leben, die Entlarvung des Scheins, haben nur wenige Sprüche im Auge. Deutlich ausgesprochen findet man ihn in den Predigten des ausgehenden Mittelalters und der Reformation: »setzent die brillen uf!« bei Geiler von Kaysersberg (›Christentlich Bilgerschaft‹ [1512], 36b) und bei Luther: »ja lieber, setze brillen auf und kere es umb, ist eben das widerspiel« (3, 264).
   Mecklenburgisch ›sich die Brille einfetten‹, trinken (vgl. ›sich die Nase begießen‹). Wer in Nordostdeutschland allzu ausgiebig schluckte, der ›hefft sick goot de Brell beschmort‹: er ist betrunken.
   Die Übertragung des Tiernamens ›Brillenschlange‹ (= Kobra) auf die brillentragende weibliche Person gehört erst unserem Jahrhundert an.
   Wegen seiner Form, und weil er auf die Klosettschüssel gesetzt wird wie eine Brille vor die Augen (Brille bezeichnete ursprünglich ja das einzelne Brillenglas), heißt der Aufsatz auf dem Klosett ebenfalls Brille. In dieser Bedeutung steht das Wort in der Redensart ›Des Menschen Leben gleicht 'ner Brille: man macht viel durch‹.
   Von einem sehr ungeschickten Menschen sagt man in Schleswig-Holstein: ›He fallt mal dorch de Brillen‹, nicht die eigene, gemeint ist das Loch des Abtritts.
   Die Brille suchen und sie auf der Nase haben: Überaus zerstreut sein, ist auch den Mundarten nicht fremd; rheinisch ›Hä sögt singe Brell un hät en (ihn) op der Nas‹, hamburgisch ›He söcht de Brill un het se op de Nes‹; niederdeutsch ›keen Brillen to Koop hebben‹: schlecht gelaunt, verstimmt sein.
   Da mancher ohne Brille schier blind ist, meinen die Schwaben spöttisch übertreibend: ›Der hört nix ohn Brill‹.

• L. MACKENSEN: Zur Entstehung des Volksbuches vom Eulenspiegel, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift Band 24 (Heidelberg 1936), S. 249 f.; Beiträge zur Geschichte der Brille, hrsg. von den Firmen Zeiss und Marwitz (Oberkochen-Stuttgart 1958); L. RÖHRICH: Sprichwörtliche Redensarten in bildlichen Zeugnissen, in: Bayerisches. Jahrbuch für Volkskunde (1959), S. 82 und Abbildung 33; Vom Lesestein zum Brillenglas, in: Mitteilungen der AOK (Freiburg 1981), Heft 3, S. 11.

Durch die Brille der Kirche sehen. Zeitungskarikatur.

Durch die Brille der Olympiade sehen. Zeitungskarikatur von BAS..

Durch die Brille des Juristen sehen. Karikatur von Hanel, 83, aus: DER SPIEGEL, Nr. 30, 1983, S. 74.

Einem eine Brille aufsetzen. Zauberbrille, Zeichnung von E.T.A. Hoffmann zum ›Sandmann‹.

Brillen verkaufen. Misericordiendarstellung in Hoogstraeten, 16. Jahrhundert.

Brillen verkaufen. Rundbild von P. Bruegel d.Ä. aus der Serie: ›Zwoelf vlaemische Sprichwörter‹.

Jemand brillen. de Bry: Emblemata, Nr. 29.
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