Redensarten Lexikon
Blinder
Wie der Blinde von der Farbe reden (urteilen): ohne Sachkenntnis oder Befähigung sich ein Urteil anmaßen. Schon im 16. Jahrhundert wurde dieser Vergleich gebraucht, z.B. in der ›Hildesheimer Chronik‹ Oldecops (S.138): »also de blinde von der farve«. Erweitert erscheint diese Wendung in einem Hochzeitsgedicht Henricis von 1743:
   Die Lieb ist mir noch unbekannt,
   drum denkt und schreibt auch mein Verstand
   als wie ein blinder Mann von einer grünen Farben.

Vgl. auch niederländisch ›Hij oordeelt erover als een blinde over de kleuren‹ und französisch ›Il en juge comme un aveugle des couleurs‹.
   Bei einer klaren, einleuchtenden Sache, die jeder verstehen müßte, heißt es heute: Das kann ein Blinder sehen und ein Ochs verstehen.Häufiger ist jedoch der Ausruf: Das sieht doch ein Blinder! (auch mit den Zusätzen Mit dem Fuß, mit dem Krückstock, ohne Laterne, ohne Sonnenbrille). Diese Redensart hat ein hohes Alter, denn bereits Livius kennt eine ähnliche Wendung: »Apparet etiam satis caeco«. In Deutschland erscheint die Redensart zuerst 1508 bei dem Humanisten Heinrich Bebel (Nr. 97) in lateinischer Form: »Caeci hoc vident«, in deutscher Sprache 1513 bei Tunnicius (Nr. 945): »Dat süt wol ein blinde«, mit der lateinischen Übersetzung: »Vel caecus videat, qui nullo lumine gaudet«. Vgl. auch niederländisch ›Dat zou een blinde zonder bril niet kunnen onderscheiden‹ und französisch ›Un aveugle y mordrait‹ (veraltet). Findet man etwas zu übertrieben, ›zu dick aufgetragen‹ oder unwahr, bemerkt man dazu: Das kann selbst der Blinde mit dem Stocke fühlen.
   Die Redensart Er ist ein Blinder ohne Stock heißt: er ist ein ganz Armer, dem das Notwendigste fehlt, um sich allein forthelfen zu können. Vgl. französisch ›C'est un aveugle sans bâton‹ (veraltet).
   Unnützes Tun umschreiben die Redensarten Einem Blinden den Weg weisen (eine Fackel vortragen, winken) und Dem Blinden einen Spiegel verkaufen, vgl. lateinisch ›Caeco speculum vel pictura‹.
   Die Redensart Wie ein Blinder im Dunkeln tappen ist biblischer Herkunft und bezieht sich auf Dtn 28,28-29: »Der Herr wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Rasen des Herzens; und wirst tappen am Mittag, wie ein Blinder tappt im dunkeln«. Die Wendung Mit Blindheit geschlagen sein begegnet im selben Text und bei Gen 19, 11, wo es bei der Vertilgung Sodoms heißt: »Und die Männer vor der Tür am Hause wurden mit Blindheit geschlagen, klein und groß, bis sie müde wurden und die Tür nicht finden konnten«. Vgl. französisch ›être frappé de cécité‹.
   ›Ein Blinder leitet den anderen‹, blindes Vertrauen in einen Unfähigen führt alle ins Verderben (vgl. Mt 15, 14).
   ›Ein Blinder trägt den Lahmen‹, ein Mangel wird durch einen anderen ausgeglichen, wenn sich Behinderte gegenseitig helfen. ›Unter den Blinden ist der Einäugige König‹, der Mittelmäßige ist unter Schlechten der Beste; der teilweise Behinderte wird von den völlig Hilflosen bewundert.

• »Among the blind the one-eyed man is king«, in: Notes and Queries 11th, 9 (1914), S. 369, 412; 11th, 10 (1914), S. 15; 12th, 3 (1917), S.330; A. ESSER: »Hinduproverbs on blindness and becoming blind.« In: Klinische. Monatsblätter für Augenheilkunde, 99 (1937), S. 94-103; H.J. UTHER: Artikel ›Blind, Blindheit‹, in: Enzyklopädie des Märchens II, Spalte 450-462.}

Ein Blinder trägt den Lahmen. Kupfer aus: de Bry: Emblemata, Nr. 46.

Ein Blinder leitet den anderen. Gemälde von Pieter Bruegel d.Ä., Herder-Bildarchiv.

Unter den Blinden ist der Einäugige König. ›Au royaume des Aveugles les Borgnes sont rois‹, Kolorierte Graphik nach J.J. Grandville, Sammlung Röhrich.
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