Redensarten Lexikon
Blatt
(Sich) kein Blatt vor den Mund nehmen: sich ohne Scheu aussprechen, geradeheraus reden, sich rücksichtslos, unumwunden äußern, jemandem tüchtig die Meinung sagen. Die Redensart spiegelt eine alte Theatersitte wider. Die Schauspieler machten sich unkenntlich, indem sie Blätter vor ihr Gesicht hielten. Sie konnten dann manches vorbringen, ohne später dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Einen Beleg dafür gibt Francisci im ›Sittenspiegel‹ (S. 638b), wo es heißt: »Ehe die Komödianten die Masken erfanden, haben sie das Gesicht mit Feigenblättern verstellt und also ihre Stichelreden vorgebracht«.    Wer also kein Blatt vor den Mund nimmt, will sich nicht verstecken, sondern offen seine Meinung bekennen. Bei der Redensart kann wohl auch an ein Laub- oder Papierblatt gedacht worden sein, das man zur Abdämpfung der Stimme vor den Mund hält, so wie sonst die Hand, wenn man eine unangenehme Wahrheit nicht zu laut hören lassen will.
   Ähnlich drückt es Johann Fischart im ›Gargantua‹ aus: »sie spotteten durch ein Rebblatt mit abgestollener Stimme«, d.h. mit verhaltener Stimme (vgl. niederländisch ›geen blad voor de mond nemen‹). Die Redensart findet sich schon mittelhochdeutsch bei Wirnt von Grafenberg in dem Artusroman ›Wigalois‹
(V. 10166): »Der rede wil ich dehein blat legen für mînen munt«; dann in lateinischer Form in der Sprichwörter-Sammlung des Humanisten Heinrich Bebel (Nr. 579); »Nullum folium ori apponere; id est: libere loqui«; deutsch 1541 bei Sebastian Franck: »Der wein nimpt keyn blat für das maul«, und 1534 bei Luther: »Aber David feret heraus vnd nimpt kein blat für das maul, machts grob vnd unvernunfftig gnug, vnd wil nichts verbeißen«, sowie 1545: »so nimpt Christus kein blad für den mund«.
   Ein unbeschriebenes Blatt sein: unwissend, unerfahren, harmlos sein, noch nichts erlebt haben. Die der literarischen Sprache der Gebildeten angehörende sprichwörtliche Redensart geht auf die Antike zurück. Aristoteles schreibt in ›De anima‹ III,4: »osper en grammateio o mhden yparxei entelexeia gegrammenon« (= wie auf einer Tafel, auf der in Wirklichkeit nichts geschrieben steht). Plutarch setzt in ›Aussprüche der Philosophen‹ (4,11) ›Blatt‹ (cartíon) für ›Tafel‹. Auf dieselbe Aristoteles-Stelle wird auch der lateinische Ausdruck ›tabula rasa‹ zurückgeführt (vgl. Büchmann).
   Eine etwas andere Bedeutung hat die Redensart Ein unbeschriebenes Blatt für jemanden sein. Gemeint ist ein nur oberflächlich bekannter Mensch, von dem der andere so gut wie nichts weiß, dessen Fehler und Vorzüge er noch nicht durchschaut hat.
   Kein unbeschriebenes Blatt mehr sein: nicht mehr naiv, unschuldig, unvoreingenommen, d.h. ohne Vorwissen sein
   meist gebraucht im Sinne von aufgeklärt sein, keiner sexuellen Aufklärung mehr bedürfen.
   Das Blatt (Blättchen) hat sich gewendet: die Verhältnisse haben sich (zum Guten oder zum Schlimmen) geändert. Die Redensart scheint in den meisten deutschen Mundarten üblich und noch allgemein lebendig zu sein: schweizerisch ›'s Blettli het si c'chêrt‹; schwäbisch ›Wenn sich's Blättle wende tät!‹; siebenbürgisch ›Det Bliet hut sich gedrêt‹; niederländisch ›Het blad (blaadje) is (om) gekeerd‹. Es fällt auf, daß der Gebrauch der präteritalen Form bei weitem überwiegt, vor allem in den älteren Belegen: ›Da wandte sich das Blatt‹ heißt es gewöhnlich. Es ist außerdem festzustellen, daß die Redensart vorwiegend die Wendung zum Schlimmen, den Beginn des Niedergangs bezeichnet. Andere Sprachen scheinen die Redensart nicht in entsprechenden Wendungen zu kennen, vgl. französisch ›La médaille est renversée‹ (veraltet), ›Les camps sont intervertis‹ (wörtlich: Die Lager sind vertauscht); englisch ›The tables are turned‹; spanisch ›Volvióse la tortilla‹ (der Eierkuchen ist gedreht).
   Die deutsche Redensart ist am frühesten 1534 in Sebastian Francks ›Weltbuch‹ (Vorrede) bezeugt: »Das blätlin wirt sich umbkören«. Johannes Gerling verdeutscht ›Nemesis‹ in des Erasmus ›Adagia‹ mit den Worten: »Es wird sich das blat einmal umbkeren. Er wird der straffe nicht entgehen«. J.J. Müller schreibt 1665: »Der gottlose Schlämmer empfahet sein Gutes in seinem Leben, der fromme Lazarus aber das Böse, und wirt das Blat erst nach diesem Leben umbgewendt, daß der Gottlose gepeiniget, der Fromme aber getröstet wird«. In gereimter Form predigt Abraham a Sancta Clara:

   Wenn das Blätlein sich wendet,
   und der Wohlstand sich endet.

   »Wenn sich das Blatt nicht völlig wendet«, so will sich Lessings wackrer Teilheim nicht von seinem Entschlusse abbringen lassen. Die Redensart ist auf mannigfache Weise erklärt worden. Dabei hat man unter anderem an das Kartenspiel gedacht: wer lange eine gute Karte bekommen hat, erhält nun eine schlechte und umgekehrt. Man hat zur Erklärung auch an die Guckkastenmänner gedacht, die, wenn sie auf den Jahrmärkten ihre Moritaten vorzeigten, gerufen haben könnten: ›Das Blatt wendet sich‹, um mit dem neuen Bild auf eine neue spannende Wendung ihrer gruseligen Geschichte aufmerksam zu machen. Aber für eine solche Erklärung ist die Redensart zu alt. Man hat schließlich auch an das Blatt eines Buches gedacht. Dafür spräche, daß es auch redensartlich heißt: ›Das steht auf einem andern Blatt‹, das ist etwas ganz anderes (s.u.); badisch ist für 1634 die erweiterte Form belegt: »wie hat sich das blädtlin so bald gewendt und umbgeschlagen«. Doch muß sich die Redensart primär auf ein Blatt bezogen haben, das ›sich‹, d.h. von selber, ohne menschliches Zutun, ›wendet‹; aber weder das Blatt eines Buches noch ein Kartenblatt wendet sich von selbst.
   Eigenbewegung hat nur das lebendige Blatt eines Baumes. In der Landwirtschaft hat man es zweifellos schon in verhältnismäßig früher Zeit bemerkt, daß um Johannis die Blätter sich etwas senken oder auch auf die Seite legen (besonders die der Pappel). Aus der veränderten Stellung der Blätter erklärt es sich auch, wenn die Bäume nach Johannis den Regen durchlassen. Auch antike Naturkundige, wie Gellius und vor allem Plinius, haben diese Beobachtung schon beschrieben. Theophrast bespricht in der Pflanzengeschichte eine Eigentümlichkeit einiger Laubbäume. Ölbaum, Linde, Ulme und Weißpappel, sagt er da, kehren nach der Sommersonnenwende ihre Blätter um; an den gewendeten Blättern kann man feststellen, daß der längste Tag gewesen ist. In stärkerem oder schwächerem Grad geschieht das bei allen Bäumen: In diese Reihe von Naturbeobachtungen gehören auch einige deutsche Wetterregeln, die sich auf den Veitstag (15. Juni) beziehen. So sagt ein hessischer Vers: »Sankt Veit legt sich das Blatt auf die Seit«.
   In der Dahlenberger Gegend sagt man: ›Na Jehanns wen't sik't Blatt na 'n Bom‹. Hier wird die Wendung mit der Einzahl ›dat Blatt dreiht sik‹ noch von dem Naturvorgang gebraucht, der ja mit einem wichtigen Wendepunkt des Jahres zusammenfällt, dem Kürzerwerden der Tage, der Sonnenwende. Auf das Blatt des Baumes paßt also, was auf die papierenen Blätter nicht passen wollte: es dreht sich, und diese Zeit ist eine Zeitenwende: der längste Tag, die beste Zeit war gewesen, der Höhepunkt des Jahres ist überschritten. Der Ausdruck ›Das Blatt hat sich gewendet‹, der zunächst nur den Wechsel der Jahreszeit, das Kürzerwerden der Tage bezeichnete, wurde allmählich zur Bezeichnung jedes bedeutsamen Wechsels.
   Das Blättlein umkehren: sich von einer neuen, meist unangenehmen Seite zeigen. Die Redensart findet sich schon in Murners ›Narrenbeschwörung‹, 70 (vgl. ›Den Spieß umdrehen‹). Seinen Charakter oder seine Gesinnung grundlegend ändern, heißt im Niederländischen ›omgekeerd (veranderd) als een blad‹. Die westfälische Redensart ›dat Bleaeken noa dem Winne dreggen‹ entspricht der hochdeutschen Wendung ›den Mantel nach dem Winde hängen (tragen)‹, Mantel.
   Das steht auf einem andern Blatt: das gehört nicht in diesen Zusammenhang, das ist eine ganz andere Frage. Diese Redensart geht im Unterschied zur vorher erwähnten deutlich auf das Blatt im Buch zurück. Mir schoß das Blatt: ich ahnte etwas. Herkunft und Entstehung dieser Redensart sind nicht sicher. Henisch erklärt 1616 in ›Teutsche Sprach und Weißheit‹ (S. 407): »Das Blatt schoß ihm. Er ward bestürzt, aufgeregt, ahnte Wichtiges«. Er erklärt Blatt mit ›Herzblatt, Diaphragma‹, d.i. Zwerchfell. Die Wendung steht in diesem Sinne schon um 1600 im Tagebuch des Ritters Hans von Schweinichen: »Da schoß i.f.g. (Ihrer fürstlichen Gnaden) das blatt, und wären diese Nacht gern fort gewesen«. Frisch (1741) und Adelung (1774) in ihren Wörterbüchern erklären Blatt als den Wirbel auf dem Kopf, der beim Kind offen steht und nur mit dünner Haut bezogen ist. Nun begegnet die Redensart aber gar nicht selten in der Bedeutung ›aufmerksam werden‹, ohne daß dabei an ein Angstgefühl gedacht wird, so z.B. 1801 in J.J. Engels Roman ›Herr Lorenz Stark‹ (Kapitel 30): »Der Doktorin schoß auf der Stelle das Blatt«, und in Kleists ›Zerbrochenem Krug‹ (7. Auftritt, V.938 ff.), wo Ruprecht sagt:

   Nun schießt,
   da ich Glock eilf das Pärchen hier begegne,
   – Glock zehn Uhr zog ich immer ab – das Blatt mir, ebenso wie bei Fritz Reuter in ›Schurr-Murr‹ (Werke, hrsg. von Seelmann, Band 6, S. 7): »Den Ratsherren schütt dat Blatt bi dere Red«. Freilich ist auch aus der Bedeutung ›Wirbel auf dem Kopf, Fontanelle‹ für Blatt kaum eine Erklärung der Redensart zu gewinnen, ebensowenig wie aus dem Blatt an der Scheibe, woran man auch gedacht hat. Es könnte in der Redensart auch ein Zusammenhang zwischen Blatt und Blut bestehen, da beide Wörter auf eine gemeinsame indogermanische Wurzel *bhlo- (blühen) zurückgehen. Die Germanen hatten eine abergläubische Scheu vor dem Blut und nannten es deshalb euphemistisch ›das purpurrot Blühende‹. Verwechslungen zwischen Blatt und Blut sind durch mundartlich verschiedene Aussprache (bloat) denkbar. Außerdem besteht in der Redensart ›Jemandem schoß das Blut ins Gesicht‹, die bei einem Bericht über Erregung, Zorn oder Scham eines anderen gebraucht wird, ebenfalls die auffällige Verbindung von ›Blut‹ und ›schießen‹. Würde man nun Blatt durch Blut in den angeführten Textstellen ersetzen, blieben sie trotzdem verständlich.
   Die Wendung Das Blatt fiel ihm läßt an die Bedeutung von Blatt als ›Herz‹ oder ›Sitz des Lebens‹ denken. In Luthers Tischreden (171a) heißt es: »weil er aber nu sihet, das unsre kirche teglich wechst und seine pfarren werden wüst, möcht ihm das blatt auch schier fallen«. In diesem Zusammenhang bedeutet die Wendung: sich fürchten, bange werden. Sie entspricht damit der heutigen Redensart ›Jemandem fällt das Herz in die Hosen‹.
   Wenn der Jäger dem Wild ›Aufs Blatt schießt‹, gibt er ihm den tödlichen Schuß ins Herz. Vielleicht besteht hierin eine Beziehung zu unserer Redensart ›Mir schoß das Blatt‹, die dann inhaltlich der Wendung ›Es gab mir einen Stich‹ nahekäme. Eine Textstelle in der ›Insel Felsenburg‹ (1202): »das herzblatt begunte mir zu schieszen«, weist mit der Zusammensetzung ›Herzblatt‹ ebenfalls auf das ›Herz‹. Dieser Text legt aber noch den weiteren Gedanken nahe, daß mit dem ›herzblatt‹ das wichtigste, innere Blatt einer Pflanze gemeint sein kann, das sie unbedingt zu ihrem weiteren Wachstum braucht. Der Vergleich des Menschen mit Wachstum, Blühen und Vergehen der Pflanzen ist ja allgemein beliebt und schon in der Bibel bezeugt:

   Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,
   er blühet wie eine Blume auf dem Felde
   (Ps 103,15).

Von dem Bild her, daß ›der Salat schießt‹ oder sogar ›etwas ins Kraut schießt‹, wäre auch die Redensart Das Blättchen schoß mir: die Augen gingen mir auf, zu erklären: eine schon vorhandene Ahnung, die nur im Verborgenen da war (wie das Herzblatt, das von den anderen Blättern verdeckt wurde), wird zur plötzlichen Gewißheit und so sichtbar, wie das innerste Blatt einer Pflanze, das auf einmal geschossen ist.
   Gut Blatt! ist als Skatspielergruß bekannt. Auch die Redensart Ein gutes Blatt haben stammt aus der Sprache der Kartenspieler und bedeutet: mit der Zusammensetzung der Spielkarten zufrieden sein ( Karte). Mit Blatt wird vielfach auch die Tageszeitung bezeichnet. Es handelt sich um eine Verkürzung des Begriffs ›Nachrichtenblatt‹ oder ›Intelligenzblatt‹. Daher auch die schwäbische Wendung: ›etwas uf'm Blättle habe‹: sehr gescheit sein. Wenn es dagegen heißt: Der ist das reinste (Nachrichten-) Blättchen, ist ein schwatzhafter Kerl gemeint.
   Im Blatt (Blättchen) stehen: in der Zeitung stehen. Mit der Redensart ist zumeist die Verlobungsanzeige gemeint. Etwas ins Blatt setzen: ein Zeitungsinserat aufgeben.
   Neueren Datums ist der Begriff ›Blätterwald‹, der die ganze Presse umfaßt. Wenn es heißt: Es rauscht im Blätterwald, kann man sicher sein, daß sich alle Zeitungen einer bestimmten Sache angenommen haben und sie an die Öffentlichkeit bringen, d.h., Es (das Ereignis) wandert durch den Blätterwald: es wird großes Aufhebens davon gemacht.
• E. KÜCK: Wetterglaube in der Lüneburger Heide (1915), S. 72; K. MEULI: ›Das Blatt hat sich gewendet‹, in: Schweizer Archiv für Volkskunde 30 (1930), S. 41-50; M. RUMPF: Zur Entwicklung der Spielkartenfarben in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich, in: Schweizer Archiv für Volkskunde 72 (1976), S. 1-32.

Kein Blatt vor den Mund nehmen. Bauer und Mohr von 1485 vom Schembartlaufen in Nürnberg, aus: Fritz Brüggemann: Vom Schembartlaufen, Leipzig 1936.
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