Who's who in der antiken Mythologie
Sibyllen
SibyllenGottbegeisterte Frauen, die die Zukunft kündeten. Man unterschied je nach Herkunft und Aufenthalt verschiedene Sibyllen; am berühmtesten wurde, durch Vergils Äneis, die Sibylle von Cumae bei Neapel, die Aeneas/Aineias* durch die Unterwelt in die Gefilde der Seligen zu seinem Vater Anchises* führte. Sie hauste in einer Grotte, die man heute noch zeigt; aus ihren hundert Ein- und Ausgängen hallten hundertfach die Worte der Prophetin: »Sprüche zu fordern ist nun die Zeit! Der Gott, schau, der Gott!« (Vergil, Aeneis VI 42–900) Nach Ovid war die Sibylle damals schon siebenhundert Jahre alt und wußte noch dreihundert vor sich. So lange Lebenszeit hatte ihr Apollon* verliehen, als er um ihre Liebe warb. Er hätte ihr sogar ewige Jugend geschenkt, doch sie blieb spröde, und nun »naht sich mit zitterndem Schritt das gebrechliche Alter«; dahinschwinden wird sie, bis nichts mehr bleibt als ihre Stimme (Ovid, Metamorphosen XIV 103–155). Die will eine der zwielichtigen Figuren in Petrons groteskem Roman, dem ›Satyricon‹, noch gehört und die kläglich zusammengeschrumpfte Sibylle sogar gesehen haben, die in einem Fläschchen an der Decke ihrer Höhle hing. »Sibylle, was willst du?« fragten sie die Leute, und sie antwortete: »Sterben will ich!« (Satyricon 48, 8) Dem letzten römischen
König soll eine Sibylle neun Bücher mit Weissagungen angeboten und dafür einen immensen Preis gefordert haben; als er dankend ablehnte, verbrannte sie drei Buchrollen und fragte, ob er den Rest für den gleichen Preis kaufen wolle. Der Gefragte lachte höhnisch und hielt die Alte für verrückt. Die aber verbrannte gelassen weitere drei Bücher und stellte dann dieselbe Frage wie vorher. Nun war der König irritiert und zahlte. Die Bücher wurden im Staatsheiligtum verwahrt und in Krisenzeiten von einer aus fünfzehn Experten bestehenden Kommission konsultiert (Gellius, Noctes Atticae I 19).
In Wirklichkeit stellten die »Sibyllinischen Bücher« eine im Laufe der Jahrhunderte entstandene Sammlung von Weissagungen dar, die bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. befragt und erst 408 n. Chr. auf Befehl des kaiserlichen Heermeisters Stilicho, eines Vandalen, verbrannt wurde. Ungefähr zur gleichen Zeit entstanden die Sibyllinischen Orakel, die Antikes mit Jüdisch-Christlichem verschmolzen und die Sibyllen unter oder sogar neben die Propheten des Alten Testaments stellten, mit denen sie Michelangelo in den Deckenfresken der vatikanischen Capella Sistina in Rom um 1510 vereinte. Auch das Gemälde von Antoine Caron ›Kaiser Augustus und die tiburtinische Sibylle‹ (um 1580, Paris, Louvre) zeigt die Ankündigung der Geburt des Heilands inmitten einer phanta-
stischen Architektur. Eine alte, vorzeiten wegen einer Liebesgeschichte aus dem Tempel von Delphi vertriebene Frau ist die Sibylle in dem gleichnamigen Roman des Schweden Pär Lagerkvist (1956); von Apollon, der sie in Gestalt eines Ziegenbocks heimsuchte, hat sie einen schwachsinnigen Sohn; dieser macht sich auf den Weg in eine andere Welt, als seine Mutter dem ewigen Juden Ahasver ihre Geschichte erzählt. Wie in den »Orakeln« wird in diesem Roman antikes, jüdisches und christliches Gedankengut zu einem bizarren Gleichnis verbunden.
SibyllenGottbegeisterte Frauen, die die Zukunft kündeten. Man unterschied je nach Herkunft und Aufenthalt verschiedene Sibyllen; am berühmtesten wurde, durch Vergils Äneis, die Sibylle von Cumae bei Neapel, die Aeneas/Aineias* durch die Unterwelt in die Gefilde der Seligen zu seinem Vater Anchises* führte. Sie hauste in einer Grotte, die man heute noch zeigt; aus ihren hundert Ein- und Ausgängen hallten hundertfach die Worte der Prophetin: »Sprüche zu fordern ist nun die Zeit! Der Gott, schau, der Gott!« (Vergil, Aeneis VI 42–900) Nach Ovid war die Sibylle damals schon siebenhundert Jahre alt und wußte noch dreihundert vor sich. So lange Lebenszeit hatte ihr Apollon* verliehen, als er um ihre Liebe warb. Er hätte ihr sogar ewige Jugend geschenkt, doch sie blieb spröde, und nun »naht sich mit zitterndem Schritt das gebrechliche Alter«; dahinschwinden wird sie, bis nichts mehr bleibt als ihre Stimme (Ovid, Metamorphosen XIV 103–155). Die will eine der zwielichtigen Figuren in Petrons groteskem Roman, dem ›Satyricon‹, noch gehört und die kläglich zusammengeschrumpfte Sibylle sogar gesehen haben, die in einem Fläschchen an der Decke ihrer Höhle hing. »Sibylle, was willst du?« fragten sie die Leute, und sie antwortete: »Sterben will ich!« (Satyricon 48, 8) Dem letzten römischen
König soll eine Sibylle neun Bücher mit Weissagungen angeboten und dafür einen immensen Preis gefordert haben; als er dankend ablehnte, verbrannte sie drei Buchrollen und fragte, ob er den Rest für den gleichen Preis kaufen wolle. Der Gefragte lachte höhnisch und hielt die Alte für verrückt. Die aber verbrannte gelassen weitere drei Bücher und stellte dann dieselbe Frage wie vorher. Nun war der König irritiert und zahlte. Die Bücher wurden im Staatsheiligtum verwahrt und in Krisenzeiten von einer aus fünfzehn Experten bestehenden Kommission konsultiert (Gellius, Noctes Atticae I 19).
In Wirklichkeit stellten die »Sibyllinischen Bücher« eine im Laufe der Jahrhunderte entstandene Sammlung von Weissagungen dar, die bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. befragt und erst 408 n. Chr. auf Befehl des kaiserlichen Heermeisters Stilicho, eines Vandalen, verbrannt wurde. Ungefähr zur gleichen Zeit entstanden die Sibyllinischen Orakel, die Antikes mit Jüdisch-Christlichem verschmolzen und die Sibyllen unter oder sogar neben die Propheten des Alten Testaments stellten, mit denen sie Michelangelo in den Deckenfresken der vatikanischen Capella Sistina in Rom um 1510 vereinte. Auch das Gemälde von Antoine Caron ›Kaiser Augustus und die tiburtinische Sibylle‹ (um 1580, Paris, Louvre) zeigt die Ankündigung der Geburt des Heilands inmitten einer phanta-
stischen Architektur. Eine alte, vorzeiten wegen einer Liebesgeschichte aus dem Tempel von Delphi vertriebene Frau ist die Sibylle in dem gleichnamigen Roman des Schweden Pär Lagerkvist (1956); von Apollon, der sie in Gestalt eines Ziegenbocks heimsuchte, hat sie einen schwachsinnigen Sohn; dieser macht sich auf den Weg in eine andere Welt, als seine Mutter dem ewigen Juden Ahasver ihre Geschichte erzählt. Wie in den »Orakeln« wird in diesem Roman antikes, jüdisches und christliches Gedankengut zu einem bizarren Gleichnis verbunden.