Who's who in der antiken Mythologie
Orpheus
OrpheusSohn eines Thrakers namens Oiagros oder des Apollon* und der Muse* Kalliope*, ein begnadeter Sänger zur Kithara, der sogar Tiere, Bäume und Felsen durch seine Lieder bewegte. Als seine junge Frau, Eurydike*, durch einen Schlangenbiß starb, stieg er in die Unterwelt hinab und sang so rührend vor Pluton* und Persephone*, daß sie ihm die Geliebte zurückgaben, freilich mit der Einschränkung, er dürfe sich auf dem Weg zur Oberwelt nicht nach ihr umblicken, sonst sei die Gabe verwirkt. Aus Furcht, Eurydike zu verlieren, sieht er sich trotzdem um, und die kaum Gewonnene sinkt wieder ins Totenreich hinab. Sieben Tage klagt Orpheus am Acheron*, dann kehrt er zu den Lebenden zurück, doch von Frauen will er nichts mehr wissen und wird zum Erfinder der Knabenliebe. Weil seine Verachtung sie kränkt, zerreißen ihn Thrakerinnen in bacchantischer Raserei. Erneut, nunmehr als Schatten, geht er in den Hades; er sucht überall seine Eurydike, findet sie in den Gefilden der Seligen und »umfängt sie mit liebenden Armen« – nun endlich gehört sie ihm ganz (Ovid, Metamorphosen X 1 – XI 64).
Vor Ovid hat Vergil in dem Kleinepos ›Culex‹ (268–295) und in den ›Georgica‹ (IV 453–527), gewiß nach heute verlorenen Vorbildern, die Or-
pheussage behandelt. Er steuert das makabre Detail bei, das abgerissene Haupt des Sängers habe, als es schon in dem thrakischen Fluß Hebros dahintrieb, immer noch um Eurydike geklagt. Ovids Fassung ist mit Abstand die ausführlichste, die uns erhalten ist, und wohl auch die tiefsinnigste: Orpheus glaubt, durch den Tod Eurydikes um sein Glück betrogen zu sein, und klagt vor den Göttern der Unterwelt sein Recht auf ein kurzes Leben mit der Geliebten ein – doch was ist Leben anderes als Leiden? Erst nach dem Tod ist er seiner Geliebten ganz sicher, nun erst ist er wahrhaft glücklich. Das relativ hohe Alter der Orpheussage bezeugen ein Fragment des griechischen Lyrikers Simonides und eine Stelle in der 438 v. Chr. aufgeführten ›Alkestis*‹ des Euripides (357–362): »Ach, hätte ich den süßen Mund des Orpheus«, spricht hier Admetos* im Gedanken an seine verlorene Frau, »seine Sangeskunst, daß meines Liedes Feuer der Persephone und ihres mächtigen Gatten Ohr bezauberte! Ja, in den tiefen Hades stieg. ich dann hinab und holte dich von dort zurück! Mich schreckte weder Plutons Hund, der Kerberos, noch Charon, jener Fährmann mit dem Totenschiff: Ich brächte lebend dich zum Licht herauf!« Im ›Hippolytos‹ (427 v. Chr.) legt Euripides dem Theseus eine bemerkenswerte Scheltrede in den Mund: Sein Sohn Hippolytos hält sich zu seinem Ärger für »auserwählt«, er lebt vegeta-
risch, schwärmt für Orpheus und steckt den Kopf in heilige Bücher. Vor solchen Leuten kann man nur warnen! Die Attacke zielt offenkundig auf die im 6. Jahrhundert v. Chr. entstandene Geheimlehre der Orphiker, die Orpheus als ihren Gründer verehrten und von deren Schrifttum unter anderem fast hundert angebliche Hymnen des Orpheus erhalten sind. Einen solchen Hymnos auf die Entstehung der Welt und der Götter läßt Apollonios Rhodios den Sänger zur Unterhaltung der Argonauten* vortragen (Argonautika I 494–515).
Zu diesen literarischen Zeugnissen kommen ein um 420 v. Chr. von einem attischen Künstler geschaffenes berühmtes Relief, das jenen verhängnisvollen Augenblick zeigt, in dem Orpheus sich nach Eurydike umsieht und der Totengeleiter Hermes* sie wieder mit sich nimmt (römische Kopien in der Villa Albani in Rom, im Nationalmuseum von Neapel und im Pariser Louvre), sowie zahlreiche Vasenbilder, von denen ›Orpheus unter den Thrakern‹ (um 420 v. Chr., Berlin, Antikensammlungen) wohl am besten die Faszination seiner Kunst zum Ausdruck bringt. Den Sänger inmitten von Tieren zeigt ein Steinrelief aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. (Rom, Konservatorenpalast); in die Nähe zu Christus rückt ihn eine Wandmalerei in der römischen Domitilla-Katakombe aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Seit der Renaissance haben die
Schicksale des Orpheus zahlreiche Bildhauer und Maler inspiriert, darunter Peter Vischer d. J. zu seinem Bronzerelief ›Orpheus und Eurydike‹ (um 1520, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe), Luca Signorelli zu dem Fresko ›Orpheus in der Unterwelt‹ (um 1500, Dom von Orvieto) und Jan Breughel den Älteren zu seinem gleichnamigen Gemälde (um 1620, Florenz, Palazzo Pitti); ›Orpheus und Eurydike‹ malten u.a. Peter Paul Rubens (um 1635, Madrid, Prado) und Anselm Feuerbach (1868, Wien, Österreichische Galerie), Gustave Moreau ›Das thrakische Mädchen, das den Kopf des Orpheus trägt‹ (1865, Paris, Louvre).
Noch größer war die Nachwirkung der Orpheussage in der Dichtung und auf der Bühne; Jacopo Peris ›Euridice‹ (1600) und Claudio Monteverdis ›Orfeo‹ (1607) gehören zu den ältesten europäischen Opern, von Christoph Willibald Glucks ›Orfeo ed Euridice‹ (1762) gingen neue Impulse für diese musikalische Gattung aus, Jacques Offenbachs Travestie ›Orpheus in der Unterwelt‹ (1858) unterstellt frech, Orpheus hätte von Herzen gern auf seine Eurydike verzichtet, wenn ihn nicht die »öffentliche Meinung« durch Himmel und Hölle getrieben hätte. Ähnlich spielerisch geht Jean Cocteau in seiner Tragödie ›Orphée‹ (1926; Filmfassungen 1950/1960) mit dem Stoff um: Orpheus vernachlässigt zugunsten eines Pferds, das poe-
tische Sätze spricht, seine Frau, diese macht ihm Szenen, zerschlägt Fensterscheiben und verschafft so einem Glaser sichere Einkünfte. Eine andere Art der Verfremdung wählte Vitorio do Canto bei ›Orpheu negro‹ (1956). Der gleichnamige Film (1958) fasziniert durch großartige Bilder des Karnevals von Rio, in dessen Verlauf ein schwarzer Orpheus seine schwarze Eurydike verliert. Expressionistische Weltdeutung versuchte Oskar Kokoschka in seinem Schauspiel ›Orpheus und Eurydike‹ (1915/1917), wobei er sich selbst, den Künstler, in der Person des Hades* verkörpert sah; als heruntergekommenen Kaffeehausgeiger erleben wir Orpheus in Jean Anouilhs Stück ›Eurydice‹ (1942); einen heftigen Theaterskandal löste Tennessee Williams. psychoanalytisches Drama ›Orpheus Descending‹ (Orpheus steigt herab, 1957) aus, das seinen Helden an der vergifteten Atmosphäre einer Kleinstadt im Süden der USA zugrundegehen läßt – wir sehen, wie sich die Zeitlosigkeit des Mythos gerade in der Fülle seiner Metamorphosen und Spiegelungen erweist. Dazu gehören Goethes ›Urworte: Orphisch‹ (1817) und Rainer Maria Rilkes ›Sonette an Orpheus‹ (1923) ebenso wie Franz Liszts symphonische Dichtung ›Orpheus‹ (1856) und Igor Strawinskys gleichnamiges Ballett (1947).
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