Who's who in der antiken Mythologie
Odysseus
OdysseusKönig der Insel Ithaka, Sohn des Laertes* oder des Sisyphos*, der Antikleia, die Mutter des Odysseus, vor ihrer Heirat mit Laertes verführt haben soll. Als junger Mann wurde Odysseus auf einer Eberjagd verwundet und behielt jene Narbe, an der ihn viele Jahre später seine alte Amme wiedererkannte. Mit seiner Werbung um die schöne Helena* hatte er zwar kein Glück, doch gab er ihrem Vater Tyndareos* einen guten Rat: Er solle alle Freier schwören lassen, demjenigen, der die Braut heimführe, Beistand zu leisten, sofern sie ihm jemand streitig mache. Zum Dank bekam er Penelope*, eine Nichte des Tyndareos, zur Frau, die ihm den Telemachos* gebar. Als Paris* Helena entführte und auch Odysseus in den Krieg gegen Troja ziehen sollte, stellte er sich wahnsinnig, pflügte mit einem Ochsen und einem Pferd und säte Salz aus. Palamedes* aber zwang ihn, diese Komödie zu beenden, indem er den kleinen Telemach vor den Pflug legte. Dafür nahm Odysseus später tückisch Rache. Auf dem Weg nach Troja holte Odysseus den jungen Helden Achilleus* bei seinem Vater ab oder entdeckte ihn – nach jüngerer Sage – unter den Töchtern des Königs Lykomedes*. Iphigenie* wurde von ihm mit ihrer Mutter ins Lager der Griechen gelockt; auf seinen Rat hin setzten die Griechen den verwundeten
Philoktetes* auf der Insel Lemnos aus. Odysseus suchte, mit Menelaos* zusammen, die Trojaner zur Herausgabe Helenas zu überreden. Seine Redekunst erprobte er auch – vergeblich – an dem grollenden Achilleus. Daß Philoktetes später zum Heer zurückkam und daß Neoptolemos* sich ihm anschloß, war im wesentlichen das Werk des listenreichen Odysseus, der auf einem nächtlichen Streifzug den trojanischen Spion Dolon* gefangennahm, den Thraker Rhesos* im Schlaf überfiel, den Seher Helenos* kidnappte und aushorchte, das Palladion, ein Bild der Athene*, das Troja beschützte, aus der Stadt entführte und schließlich jenes Trojanische* Pferd bauen ließ.
»Wozu soll ihm eine Rüstung taugen«, fragt Aias (1)* bei Ovid, »da er immer nur heimlich, immer unbewaffnet seine Taten verrichtet und nur durch seine Ränke den arglosen Feind überlistet?« (Metamorphosen XIII 103f.) Trotzdem wurden die Waffen des gefallenen Achilleus nicht dem Aias, sondern Odysseus zugesprochen, der in der ›Ilias‹, aufs Ganze gesehen, positiver dargestellt ist als in den kleineren »homerischen« Epen und bei den Tragikern. In der ›Odyssee‹ erscheint er als »großer Dulder«, der auch in schwierigen Lagen einen kühlen Kopf behält, der Poseidons* Sohn Polyphem** blendet und sich vor den Laistrygonen* rettet, der mit göttlicher Hilfe sogar der Zauberin Kirke* gewachsen ist, der ins Totenreich hinab-
steigt, den Gesang der Sirenen* hört und Skylla (1)* samt Charybdis* übersteht. Er wäre längst daheim, doch die Torheit seiner Begleiter macht ihm mehrfach einen Strich durch die Rechnung: Sie sind es, die den Schlauch des Aiolos* öffnen und die darin eingesperrten widrigen Winde herauslassen, sie schlachten gegen ausdrückliches Verbot die heiligen Rinder des Helios* und besiegeln damit ihren Untergang. Auf den Trümmern seines letzten Schiffs treibt Odysseus zur Insel der Kalypso*, die ihn unbedingt zum Mann haben will und sieben Jahre festhält. Als die Götter in Abwesenheit Poseidons* seine Rückkehr beschließen und er endlich auf einem Floß losfahren kann, sieht ihn der Meergott, der ihm wegen Polyphems Blendung grollt, und entfesselt einen fürchterlichen Sturm. Odysseus wäre verloren, gäbe ihm nicht die Göttin Leukothea* ihren Schleier. Mit dessen Hilfe rettet er sich an den Strand des Phaiakenlands, wo er die Königstochter Nausikaa* trifft. Sie weist ihm den Weg zum Palast ihres Vaters, der ihn freundlich aufnimmt, ihn seine Abenteuer erzählen und schließlich zu Schiffin seine Heimat bringen läßt.
Dort kommt Odysseus, von Athene* in einen alten Bettler verwandelt, zunächst zu dem treuen Schweinehirten Eumaios. Seinem Sohn Telemachos, der sich dort ebenfalls einfindet, gibt er sich nach einigem Zögern zu erkennen. Als er am folgenden Tag seinen Pa-
last aufsucht, erkennt ihn, sterbend, sein Jagdhund Argos*. Die vielen jungen Männer aber, die Penelope umwerben und dabei den Besitz des Odysseus verprassen, verhöhnen den abgerissenen Vagabunden und hetzen den Bettler Iros* gegen ihn, was diesem allerdings schlecht bekommt. Am Abend spricht Odysseus wie ein Fremder mit seiner Penelope und behauptet, ihr Mann komme bald wieder. Er findet damit keinen rechten Glauben, doch plötzlich entdeckt seine Amme Eurykleia, die ihm die Füße wäscht, jene alte Narbe. Mit Mühe bringt er die freudig Überraschte zum Schweigen.
Tags darauf findet der Wettkampf der Freier um die Hand Penelopes statt. Sieger wird sein, wer den Bogen des Odysseus spannen und einen Pfeil durch die Löcher von zwölf eisernen Äxten schießen kann, die Telemach mit der Richtschnur hintereinander plaziert. Keinem gelingt das – außer dem fremden Bettler, der sich unter dem Spott der jungen Männer den Bogen reichen ließ. Nach seinem Meisterschuß erlegt er mit einem zweiten Pfeil den frechsten der Freier, Antinoos, und gibt sich zu erkennen. Dann hält er zusammen mit wenigen Getreuen grausam Gericht. Penelope, die es immer noch nicht glauben will, daß Odysseus tatsächlich heimgekehrt ist, überzeugt er durch einen genauen Bericht darüber, wie er einst Schlafzimmer und Ehebett selbst gebaut und gezim-
mert hat. Nun wäre alles gut, wenn nicht die Bevölkerung Ithakas wegen des Mordes an den Freiern in Aufruhr wäre. Den schlichtet aber Athene und stiftet dauernden Frieden (Odyssee I–XXIV). Die spätere Überlieferung läßt Odysseus gemäß einer Weissagung des von ihm in der Unterwelt befragten Sehers Teiresias* auf dem Festland bei den Thesprotern, die Poseidon noch nicht kennen, einen Kult des Gottes begründen, um diesen zu versöhnen. Dabei verliebt sich die Königin des Landes in den Helden, und Odysseus bleibt als König bei ihr. Erst nach dem Tod der neuen Geliebten kehrt er wieder zu seiner Penelope zurück. In der Zwischenzeit ist sein Sohn von Kirke*, Telegonos*, herangewachsen und macht sich auf die Suche nach dem Vater. Zufällig landet er auf Ithaka, wo ihn Odysseus trifft, als der junge Mann eben einige Rinder rauben will; die beiden geraten aneinander, und Telegonos tötet den eigenen Vater (Apollodor, Bibliothek X 33–36).
Die schillernde Gestalt des Odysseus faszinierte Dichter aller Epochen: Wir begegnen ihm in den Tragödien ›Aias‹ und ›Philoktetes‹ des Sophokles (um 450 bzw. 409 v. Chr.), in der ›Hekabe‹ des Euripides (424 v. Chr.) und in dessen Satyrspiel ›Kyklops‹ (um 410 v. Chr.), in Senecas ›Troerinnen‹ (um 50 n. Chr.), dazu, im Rededuell mit Aias, bei Ovid (Metamorphosen XII 620 – XIII 383). In den mittelalterli-
chen Trojaromanen spielt er eine wichtige, aber meist zwielichtige Rolle; in Dantes ›Commedia‹ büßt er im achten Kreis der Hölle inmitten anderer »betrügerischer Ratgeber«, wie eine Flamme brennend, für seine Sünden; auch Shakespeare zeichnet in ›Troilus und Cressida‹ kein freundliches Bild von ihm. Calderуn de la Barca behandelte das Abenteuer mit Kirke in der Komödie ›El mayor encanto amor‹ (Der größte Zauber: Liebe, 1637), das Werner Egks Oper ›Circe‹ (1948) zugrunde liegt. Wichtig für die Entwicklung der Oper als Kunstform wurde Claudio Monteverdis ›Il ritorno d'Ulisse in patria‹ (Die Heimkehr des Odysseus, 1641), ein Werk, mit dem sich 1948 Luigi Dallapiccola in seinem ›Ulisse‹ messen wollte.
Gerhart Hauptmann verlegte in seinem Schauspiel ›Der Bogen des Odysseus‹ (1914) die gesamte Handlung, auch die Rache an den Freiern, in die Hütte des Eumaios und ließ alle Wiedererkennungsszenen – bis auf die mit Telemachos – weg. In Jean Giraudoux. Drama ›Der trojanische Krieg findet nicht statt‹ (1935) sucht Odysseus zusammen mit Hektor die drohende Auseinandersetzung zu verhindern – und scheitert. Das Stück, das auf den Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich abzielte, erwies sich, blickt man auf den Zweiten Weltkrieg, geradezu als prophetisch. Genau 33333 Verse umfaßt das neugriechische Epos ›Odissia‹ (1938), in dem Nikos Kazant-
zakis die Odysseehandlung weiterspinnt: Dem Helden wird es bald nach seiner Heimkehr in Ithaka langweilig; so geht er wiederum auf große Fahrt, die ihn über Ägypten bis ins innerste Afrika führt und schließlich an einem Eisberg endet. Eine Odyssee ganz eigener Art ist der gewaltige Roman ›Ulysses‹ des irischen Dichters James Joyce (1922), der ungemein detailliert und in wechselnder Erzähltechnik beziehungsvoll einen knappen Tag im Leben eines Dubliner Kleinbürgers schildert. Motive aus dem 11. Gesang der Odyssee erscheinen in Hans Erich Nossacks Nachkriegsroman ›Nekyia‹ (1947).
Geradezu unübersehbar ist die Nachwirkung der Odysseussage in der bildenden Kunst; wir beschränken uns daher auf besonders Bekanntes wie jenen Odysseus mit der Filzkappe, der, ursprünglich wohl Teil einer Gruppe, einem nicht mehr vorhandenen Polyphem die Schale voll Wein reicht (1. Jahrhundert n. Chr.; römische Kopie eines griechischen Originals, Rom, Vatikanische Museen), und die etwa gleich alte Skylla-Gruppe aus der Höhle von Sperlonga (Sperlonga, Museum). Die Blendung des Polyphem ist auf einer Hydria aus der Etruskerstadt Caere lebendig geschildert (6. Jahrhundert v. Chr.; Rom, Museo Nazionale di Villa Giulia), das Sirenenabenteuer auf einem Stamnos aus Attika (um 460 v. Chr., London, British Museum), der Freiermord auf einem attischen Sky-
phos (um 450 v. Chr., Berlin-Mitte, Antikensammlungen): Vor den Pfeilen des Rächers sucht einer der jungen Männer Deckung hinter einem Tisch, ein anderer ist bereits getroffen, einer erhebt sich eben von der Kline. Bilder zur Odyssee aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. wurden in einem römischen Haus auf dem Esquilin gefunden. Sie befinden sich nun in den Vatikanischen Sammlungen und zeigen unter anderem die Begegnung der Griechen mit dem Riesentöchterchen des Laistrygonenkönigs sowie den Angriff der menschenfressenden Riesen auf die Flotte des Odysseus. Das Erstaunen der Penelope über die Rückkehr ihres Mannes hat Francesco Primaticcio wundervoll zum Ausdruck gebracht (Odysseus und Penelope, um 1550, Toledo/Ohio, Museum of Fine Arts), den Frust des bei Kalypso Festgehaltenen Max Beckmann (Odysseus und Kalypso, 1943, Hamburg, Kunsthalle).
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