Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch
Retz
Retz, (Cardinal, Paul von Gondy) geb. 1613, einer der merkwürdigsten Männer des 17. Jahrhunders, bekannt durch die politische Rolle, die er während der Minderjährigkeit Ludwigs XIV. spielte, durch seine eben so räthselhaften als unbeständigen Schicksale, aber nicht minder bekannt durch die schwankende und launische Unbestimmtheit eines mit edeln Grundzügen bezeichneten Charakters. – Sein Vater, General der Galeeren, bestimmte ihn früh gegen seine Neigung zu dem geistlichen Stande. Das freie Betragen des jungen Gondy, der Beifall, mit dem er selbst als Prediger am Hofe auftrat, der Schatten, in den er einige Günstlinge des allmächtigen Richelieu setzte, und seine Verbindungen mit einigen Häuptern der Volkspartei zogen ihm den Haß des despotischen Cardinals zu, einen Haß, der bei Richelieus Nachfolger, Mazarin, dessen Herrschsucht in dem Coadjutor Gondy noch einen gefährlichen Nebenbuhler sah, durch Eifersucht und Antipathie des Charakters zur unauslöschlichen Feindschaft ward. Wie konnte der engherzige, vorsichtige Italiäner den populären, zwanglosen, verschwenderischen Coadjutor dulden, der einen Trost für seine zerrütteten Umstände in dem Gedanken fand, Cäsar habe in seinem Alter doch 6mahl mehr Schulden als er gehabt, und der seine Unordnungen, die Unheiligkeit seines Betragens selbst bei————
Frömmlingen durch äußere Ehrerbietung und demüthigen Anstand, den er ihnen bewies, abzubüßen und auszusöhnen wußte. Retz widersetzte sich dem schlauen Mazarin, besonders wenn er Eingriffe in die Rechte des Parlaments that, und ward durch diesen Widerstand der Abgott des Volks – aber nimmer gebrauchte er diese Volksgunst, um Aufruhr zu erregen; immer dämpfte er durch seine Beredsamkeit die wildeste Gährung. Jedoch ließ er sich in die Fronde ein, deren Häupter, den einzigen Condeʼ ausgenommen, schlaffe, charakterlose Menschen, den raschen Coadjutor in den bedenklichsten Lagen im Stich ließen, wo er der Schlauigkeit Mazarins und der Regentin zum Opfer ward. Als Condeʼ aus dem Gefängnisse entlassen wurde, (s. den Art. Condeʼ) und Mazarin aus Frankreich entweichen mußte, suchte sich die Regentin an Retz anzuschließen; und dieser hatte Hoffnung, den Platz, den Mazarin in ihrem Herzen und am Ruder des Staates eingenommen hatte, zu ersetzen. Ein sonderbares Verhängniß fügte es, das Retz, ohne es zu wollen, an der Zurückberufung seines Feindes, und Mazarin an der Erhebung seines Nebenbuhlers Retz zur Cardinalswürde arbeiten mußte; zu spät merkte Retz, daß die Annäherung der Königin nicht aufrichtig, daß mit Mazarins triumphirender Rückkehr an den Hof sein Einfluß auf sie vernichtet war. Zwar erhielt er die Cardinalsmürde 1651, die ihn ge-
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wisser Maßen unverletzlich machte; zwar blieb Mazarin der Französischen Nation ein Abscheu: aber Retz, Gaston, des Königs Oheim, Beaufort, der Enkel Heinrichs IV. und Condeʼ, alle Häupter der Volkspartei, trugen zu Mazarins Vergrößerung bei – die Fronde löste sich auf. Retz, der immer den Volksaufruhr verhütet hatte, sich immer eben so sicher glaubte, als er sich schuldlos fühlte, wurde in das Gefängniß zu Vincennes, und nach 15monathlicher Gefangenschaft in weitern Verhaft gesetzt, aus dem er jedoch entsprang und nach Spanien flüchtete. Er wollte von den Feinden seines Landes keine Unterstützung annehmen, sondern nur Vorschub zu seiner Reise nach Rom, wo er nach romanhaften Schicksalen endlich anlangte, und am Papst Innocenz eine mächtige Stütze fand.
  Der Tod dieses Papstes, die Wankelmuth und der Undank seines Nachfolgers, Alexanders VI. zu dessen Wahl Retz sehr viel beigetragen hatte, vereitelte die schönen Hoffnungen des letztern. Jedoch belohnte ihn die Treue der ihm untergebenen Geistlichkeit, die weder seinen Sitz für erledigt ansehen, noch sich vom Papste und Mazarin einen Vicar aufdringen lassen wollte. Seine Feinde suchten ihn in Rom durch die Beschuldigung des Jansenismus zu stürzen; und das große Gefolge, welches seine Sicherheit nöthig machte, erschöpfte sein Vermögen so ganz, daß er eine
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Schuldenlast von 5 Millionen auf sich lud. Spanien bot ihm vergebens eine Freistätte an; er wollte den Feinden seiner Nation nicht seine Sicherheit zu verdanken haben, und irrte, immer von Mazarins Kundschaftern und Emissarien verfolgt und bedroht, über Ulm, Augsburg und Cölln nach Holland, wo er den größten Theil seiner Dienerschaft entließ, und nun anfing, sich aus Mißmuth in Ausschweifungen zu stürzen, bis der Pyrenäische Friede, der zugleich den innern Krieg dämpfte, ihm heitere Aussichten öffnete. Auf Carls II. Einladung begab er sich nach London. Dieser König hatte zwar die Dienste, die ihm Retz in den bedrängtesten Umständen durch Fürsprache und Verwendung geleistet, nicht vergessen, aber doch befolgte er die Rathschläge des weisen Cardinals nicht. Retz kehrte unwillig auf das feste Land zurück, und war im Begriff, einen Brief seiner Freunde an alle katholische Prälaten, worin sie das Schreckliche seiner Lage und die Grausamkeit seiner Verfolger schilderten, in alle Sprachen übersetzt drukken zu lassen, als ihn die Nachricht von Mazarins näherndem Tode entwaffnete. Die edle Seele wollte nicht die letzten schrecklichen Augenblicke eines Feindes verbittern, der im Begriff stand, vor einem höhern Richterstuhle zu erscheinen. Mazarins Tod schien ihm zwar die Thore Frankreichs zu öffnen; aber Ludwig XIV. der jeden Widerstand gegen willkührliche Gewalt haßte,
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erschwerte ihm die Rückkehr. Allmählig nur durchdrang er den Schleier der Verleumdung, lernte Retz milder beurtheilen, und berief ihn auf die Bedingung zurück, daß er allen politischen Verbindungen entsagen und an Beförderung der kirchlichen Einheit mit ihm arbeiten solle. Nach einer Abwesenheit von 7½ Jahren kehrte Retz nach Frankreich zurück, vertauschte aber sein Erzbisthum gegen 2 Abteien, deren reiche Einkünfte, mit Simplicität und Genügsamkeit vereinbart, ihn in den Stand setzten, seine Schulden, die sich auf 3½ Millionen beliefen, ehe er starb, zu tilgen, seine Anhänger und treuen Gefährten seines Exils zu belohnen und in einen gemächlichen Wohlstand zu versetzen. Von seinen politischen Freunden trennte ihn seine abgeschiedne Lebensart und der Tod. Retz, mit allen Parteien versöhnt, hatte noch an 3 Papstwahlen Antheil, besonders 1676 an der Wahl des Odeschalchi, dem er leicht die dreifache Krone streitig machen konnte. In seiner Abgeschiedenheit arbeitete er an seinen vortrefflichen Memoires und an der Geschichte der bürgerlichen Unruhen, die er im Gefängniß zu Vincennes angefangen hatte und nie vollenden konnte. Niemand klagte ihn als Urheber seines Unglücks an. Er hat als Bürger gefehlt, als Priester gesündigt; aber die Wuth seiner Verfolger und seine Abneigung gegen den Priesterstand entschuldigen die Ausschweifungen seiner Ehrsucht.
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Heiter war der Abend seines Lebens. Er starb 1679, 66 Jahre alt.
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