Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch
Religion
Religion hat aus der Lateinischen Sprache, aus der es ursprünglich abzuleiten ist, in die unsrige nur eine einzige Bedeutung von den mehrern, die dieses Wort hatte, mit herüber genommen. Wir bezeichnen damit in der Sprache des Umgangs den Inbegriff von Belehrungen und Behauptungen über Gott, seine Natur, seine Verhältnsse zu uns oder die unsrigen zu ihm, welchen einzelne Menschen oder ganze Völker für den Inbegriff ihrer eignen Ueberzeugungen von diesen Dingen ausgeben. In diesem Sinne spricht man von Heidnischer, Jüdischer, Christlicher und Muhamedanischer Religion. Diesen Begriff kann man mit einem einzigen Worte unserer Sprache nicht füglich ausdrücken, wenn man sich nicht etwa unter Gottesglaube dasselbe denken kann. So fern diese Belehrungen und Behauptungen aus eignen Betrachtungen über die Natur hervorgehen, welche durch die Gesetze unsrer Vernunft und ihrer Wirksamkeit aus einzelnen Erfahrungen zu allgemeinen Grundsätzen umgebildet werden, nennt man den Inbegriff derselben die natürliche Religion; behaupten aber die ersten Verbreiter und Urheber derselben durch unmittelbar göttlichen Einfluß darauf geleitet worden zu sein, so giebt man ihren Belehrungen den Namen geoffenbarte Religion. Genau erwogen ist dieser Unterschied von sehr geringer Bedeutung, und der Naturgläubige und der Offen-————
barungsgläubige treffen bei einer sorgfältigen Zergliederung ihrer Begriffe am Ende doch zusammen. Denn jede Religion, wenn sie diesen Namen verdienen soll, muß die Lehren vortragen: es ist ein Gott, der mit Allmacht die Welt schuf, sie mit Güte erhält und mit Weisheit regiert; Tugend ist die Bestimmung des Menschen für diese Erde, und immerwährende Annäherung an das Ziel der Vollkommenheit ihm Pflicht, worauf eine unermüdete Ausbildung aller der verschiedenen Anlagen des Geistes hinleitet; Tod ist nicht Vernichtung des Menschen, sondern Uebergang in eine andre Periode seiner stufenweisen Entwickelung, er wird ewig dauern. Dieß sind die Hauptgrundsätze der oben genannten Religionen; und es sind keine andern, keine bessern Entdeckungen, welche wir den Bemühungen der sich selbst überlaßnen Vernunft jemahls zu verdanken haben werden. Unter so mannichfaltigen Namen und Formen diese Grundsätze auch immer unter den Menschen erscheinen mögen, so sind sich doch ihre Bekenner überall in der Behauptung gleich, daß sie die Kenntniß derselben einem unmittelbar göttlichen Unterrichte schuldig wären. Bei den mehrsten Völkern soll dieser göttliche Unterricht ihren frühesten Vorfahren in dunkler Vorzeit zu Theil geworden sein, als noch die Gotter unter den Menschen wandelten; Andere aber glauben, daß ihre Priester in beständigem Verkehr mit der himmli-
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schen Weisheit stehen, und jedes ihrer Worte unmittelbar aus ihrer Quelle schöpfen. Leicht ist es, das Unwahre und Betrügerische der letzten Behauptung zu entdecken, aber schwerer zu entscheiden der Streit über den Grund oder Ungrund der ersten Erklärung. Von jeher gab es Männer, welche an der Wahrheit und Möglichkeit eines unmittelbar von Gott kommenden Unterrichts zweifelten, weil sie an die Prüfung desselben mit dem Grundsatze gingen, Religion, als solche, dürfe nichts enthalten, worauf die Menschen nicht selbst durch ihre eigne Vernunft und durch die Anforderung ihres Gewissens hingeleitet werden könnten. Und es läßt sich nichts mit Grund ihren Zweifeln entgegen setzen, wenn die Behauptung wahr ist, daß die Religion dem Menschen nie zur Erweiterung der Kenntnisse, sondern bloß zur Unterstützung seines Pflichteifers gegeben worden sei, und daß sie ihm nur neue und starke Gründe für die Ausübung dessen an die Hand gebe, wozu er ohnedieß schon durch die Anlagen seiner vernünftigen Natur verbunden sei. Das möchte sich indessen wohl nicht beweisen lassen, daß unser Wissenstrieb gar kein Interesse an der Religion haben sollte, und daß mithin Religion für die Erweiterung unserer Kenntnisse gar nicht geeignet sei. Aber wahr ist es, daß sie weit mehr zur Ermunterung unsers Willens und zur Belebung unserer Gefühle gegeben ist, und daß die Definition, welche
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die Kanrische Philosophie von der Religion giebt, sie sei eine Darstellung unsrer Pflichten als göttlicher Gebote, gar sehr wohl gegen Einwendungen vertheidigt werden kann, gesetzt auch, daß sich gegen die Art manches erinnern ließe, auf die sie es versucht hat, die Lehren der Religion innerhalb den Gränzen der bloßen Vernunft einzuschließen. – Wenn man aber, um jenen Einwand zurückzuweisen, gesagt hat, Religion dürfe wohl Belehrungen enthalten, welche über die Vernunft, wenn sie nur nicht wider sie wären; so hat man damit entweder gar nichts gesagt, oder man hat dadurch die sehr wahre Behauptung ausdrucken wollen, die Religion enthalte Belehrungen, Gründe und Antriebe zur Ausübung dessen, was das Gewissen fordert, welche durch Anstrengungen bloß menschlicher Vernunft nicht leicht, oder nur sehr spät und nach vielen mißlungenen äußerst nachtheiligen Versuchen wurden aufgefunden worden sein. Denn es ist gewiß, daß die menschliche Vernunft Jahrtausende gebraucht hat, um diese oder jene Entdeckung zu machen, wozu sie doch weit dringendere Veranlassungen hatte, und die ihr weit näher lagen, als diese übersinnlichen Religionswahrheiten; und die Erfahrungen, die man an einzelnen auf der niedrigsten Stufe der menschlichen Cultur stehenden Menschen oder auch an ganzen Volkern gemacht hat, lehren es zur Genüge, daß sie sich ohne äußre Veranlassung nur selten
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zu jenen Fragen gereitzt fühlen, deren Beantwortung in der Religion liegt, die aber auch für den Menschen in mehr als einer Rücksicht ungemein wichtig ist. Es ist also gar nichts Unverständiges und Gottes Unwürdiges in der Behauptung, daß er den Menschen jene Veranlassungen zugeführt, und in ihnen den Wunsch nach der Beantwortung jener Fragen auf irgend eine Art rege gemacht habe. Freilich aber ist und war mit jenem Wunsche nach Antwort die Antwort selbst bei weiten noch nicht gegeben; und es ist nun immer noch erst auszumachen, woher diese mit der Bestimmtheit und Zuverläßigkeit gekommen sei, die man bei den übrigen Auflösungen und Begriffen aus jener Zeit so sehr vermißt. Denn möchten sich aus dem dringenden Gefühle der Schwäche und Ohnmacht, der Furcht, der Hülflosigkeit und der Unerklärlichkeit der täglichsten Ereignisse einiger Maßen die Begriffe von Gott herleiten lassen, die wir bei den frühesten Menschen finden, so führt denn doch keines dieser Bedürfnisse auf die Idee eines gerechten Gottes, der nach einem moralischen Plane das Ganze regiert – und dennoch liegen auch von dieser Idee in den ältesten Denkmählern der Religon die deutlichsten Spuren vor Augen. Und so steht man denn hier freilich auf dem Punkte, entweder die Echtheit jener Erzählungen von den ersten Religionsbegriffen der Menschen zu bezweifeln, oder zu glauben, daß der Urheber ihrer Natur ihnen diese Be-
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griffe auf irgend eine Art ertheilt habe, von der wir freilich gar nichts Näheres zu bestimmen wissen. Gegen das erste sträubt sich die ganze Geschichte, selbst nach den scharfen Prüfungen und Sichtungen, welche ernste Wahrheitsliebe und erbittertes Vorurtheil über sie ergehen ließen: und gegen das letztere macht unsre Vernunft mancherlei Einwendungen, um in der Entwickelung der Ursachreihe nicht etwa einen Sprung zu machen, der gegen ihre eignen Gesetze sein würde; sie wagt es sogar kühn genug, sich selbst für die erste Quelle jener Begriffe anzugeben. Allein so sehr dieses Unternehmen von ihrer göttlichen Kraft zeugt, so mancherlei sind die Einwendungen, die sich gegen die Rechtmäßigkeit desselben machen lassen. Zwar wird es jetzt unserer Vernunft leicht, sich durch sich selbst und ihre Kräfte, und durch die Betrachtung der Natur, in deren geheime wunderbare Werkstatt sie so tief eingedrungen ist, über die Welt der Sinne zu erheben, und Gott in seinem Lichte, die moralische Weltordnung in ihren Verhüllungen, und die ewige Dauer des menschlichen Geistes über den Gränzen dieses Lebens hinaus zu entdecken; aber wie viel hat auch nicht unsere Vernunft vor der Vernunft jener frühern Zeiten voraus, wo man denn doch auch von Gott, von Tugend und Laster, von ihrem nothwendigen Zusammenhange mit Glückseligkeit und Unglückseligkeit und von ewiger Dauer des Geistes sprach, ob-
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wohl in dunkeln Reden und in geheimnißvollen Bildern. Wie fand nun jene Vernunft in Gott den unparteiischen Richter menschlicher Handlungen, den gerechten Austheiler von Lohn und Strafe – den schwersten Begriff für die sich selbst überlaßne Vernunft, den sie vielleicht nie gefunden haben würde, wenn nicht die dunkle Erinnerung daran in den Sagen oder Denkmählern der Vorzeit sie darauf geleitet hätte? Wollte man die frühe Entstehung von diesen aus den Träumen und Gesichten der Folgezeit erklären, so haben diese größten Theils die Spuren ihrer sehr menschlichen Entstehung so deutlich an sich, daß man es leicht nachweisen kann, wie sie alle durch die Wirksamkeit gewisser in der Seele schon vorhandenen Ideen hervorgebracht wurden, die also schon durch andre Mittel in ihr rege gemacht sein mußten. – Unerklärlich also bleibt uns der erste Ursprung religiöser Vorstellungen und Begriffe, so sehr sie auch immer dem menschlichen Geiste unentbehrlich sind, und so unwiderstehlich diesen auch alle seine Anlagen und Bedürfnisse darauf hinleiten. Indessen vermindert diese Dunkelheit, die über dem Ursprunge liegt, die Vortrefflichkeit der Sache selbst nicht im geringsten; und es würde einen sehr parteiischen Ekel verrathen, wenn man etwas an sich Schätzbares und Gutes deßwegen verwerfen wollte, weil man den ersten Urheber desselben und die Art, wie es auf unsre
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Zeiten gekommen ist, nicht angeben kann. Gerade dasselbe Schicksal haben ja die mehresten für das Leben unentbehrlichsten Erfindungen, die man dankbar benutzt, ohne sich durch die Unbekanntschaft ihres Urhebers beunruhigen zu lassen. Wir bedürfen nun einmahl der Religion; und ihre Hülfe ist uns unentbehrlich, wenn wir unsre Menschenbestimmung erreichen wollen: sie ist – nach Spaldings kräftigem Ausdrucke – Angelegenheit des Menschen1. Er kann sich ohne sie nicht glücklich durch das Gewirre des Lebens hindurch winden; er bleibt ohne sie überall von Räthseln umgeben, die durch ihre Unbegreiflichkeit den Verstand ermüden und irre leiten, und dabei, was das Allerschlimmste ist, seinem Herzen die Wärme und die Lebendigkeit des Gefühls rauben, mit dem das Gute ergriffen werden muß, wenn es als das letzte Ziel aller unserer Bestrebungen uns überall und unter jeden Umständen theurer und heiliger sein soll, als alles. Denn wo sonst anders als in der Religion findet der menschliche Geist eine befriedigende Beantwortung der Frage, die ihn überall ängstlich herumtreibt: wer soll den schreienden Mißklang zwischen Schicksal und Tugend zu der Harmonie stimmen, ohne welche alles, alles, was Philosophen und Theologen sagen und fordern mögen, leeres Geschwätz und thörichte Forderung bleibt? – Unläugbar durch die Geschichte aller Zeiten bestätigt ist der Ein-
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fluß der Religion auf die Veredlung einzelner Menschen und ganzer Völker, auf ihre Bildung und auf die Erhöhung ihres bürgerlichen und sittlichen Wohlstandes. Deßwegen sind aber Religion und Moralität noch immer nicht gleichbedeutend; und es ist eine ungerechte Tyrannei des Sprachgebrauchs, daß er mit demselben Worte Religion auch religiöse und damit zugleich sittlich gute Gesinnungen bezeichnet: der wahrhaft religiöse Mensch ist auch sittlich gut; aber der wahrhaft sittlich Gute könnte es auch ohne Religion sein. Die Sittlichkeit beruht auf ihren eignen Gründen, und kann ihre Forderungen an den Menschen auch ohne Rücksicht auf Religion thun. Aber wo ist unter den Millionen Menschen auch nur einer, der sich stark genug fühlt, ohne den Glauben an Gott zu thun, was die Pflicht mit unerbittilcher Strenge fordert, und im schwersten aller Kämpfe, im Kampfe mit sich selbst, glücklich zu bestehen? Freilich also verräth der ein zu großes Vertrauen auf sich selbst, der die Religion entbehren zu können glaubt – ein Vertrauen, das nur allzu bald verschwindet, wenn man eine genauere Prüfung seiner eignen Kräfte und der Waffen anstellt, die ihnen zu Gebote stehen. Aber dadurch sind wir noch gar nicht berechtigt, diesem Kurzsichtigen Haß und Verachtung der Wahrheit und des Guten selbst Schuld zu geben; und verbannt müsse aus unsern Unterhaltungen das Urtheil sein: »er ist ein schlechter
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Mensch, er hat keine Religion.« Thut er nur als Mensch und Bürger, was die Pflicht gebietet, können wir ihn nur keiner offenbar niedriger Absichten anklagen, so vermindert das seinen Werth für die Welt und uns nicht, wenn er auch nicht aus religiösen Gründen gehandelt haben sollte. Ob er ein Recht hatte sie zu verschmähen, ob er nicht, durch sie gestärkt, mehr Gutes und dieß glücklicher würde haben thun können, ob er in einer andern Periode seiner Existenz diesen Mißgriff werde entgelten müssen – das sind Fragen, deren Entscheidung vor einen andern Richterstuhl, nicht vor den unsrigen gehört, am wenigsten vor den, welchen die nie unparteiische Conversation mit anmaßendem Selbstvertrauen aufrichtet. – Eben so wenig kann uns Verschiedenheit des äußern Religionsbekenntnisses zu einem solchen Urtheile ein Recht geben. Die wenigsten Menschen sind in den Umständen, die äußre Form ihrer Religionsüberzeugungen nach freier Willkühr wählen zu können; diese hängt ja größten Theils von den Aeltern und von dem Unterrichte ab. Durch beide wird entweder der Glaube an die unumgängliche Nothwendigkeit dieser Form erzeugt, oder wenigstens wird doch das ganze Schicksal des Menschen mit der Beibehaltung derselben eng verflochten. Im ersten Falle haben wir deßwegen schon kein Recht, einen festen Anhänger an seine Kirche zu tadeln, weil wir an die unsrige vielleicht nur
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durch dieselben Bande gefesselt sind; und im zweiten sollten wir bedenken, daß es dem Menschen unmöglich zur Sünde oder zur Erniedrigung gereichen kann, durch willige Anbequemung an eine gewisse äußre Regel sein Schicksal zu sichern. Bei der wahren Religion kommt alles auf die Ueberzeugung von ihren Grundwahrheiten an; wenn diese im Herzen lebt und den Menschen zu guten Thaten antreibt, so ists gleich viel, durch welche äußre Gebräuche er seinen Glauben an Gott und Freiheit und Unsterblichkeit an den Tag legt. Verschiedenheit der Gebräuche und Formen wird bleiben, so lange die Menschen Menschen sind, wenn auch ein glücklicheres Jahrhundert sie dereinst reif zu einem Glauben und zu einer Hoffnung vereinigen sollte.
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Fußnoten
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1 Die Religion, eine Angelegenheit des Menschen, von J. F. Spalding, 3te Aufl. Berlin 1799. Dieß ist das vortreffliche Buch des würdigen Greises, welches niemand ungelesen lassen sollte, der bei der Frivolität unsrer Zeit in ihren Urtheilen über die Religion mit sich selbst einig bleiben will.
barungsgläubige treffen bei einer sorgfältigen Zergliederung ihrer Begriffe am Ende doch zusammen. Denn jede Religion, wenn sie diesen Namen verdienen soll, muß die Lehren vortragen: es ist ein Gott, der mit Allmacht die Welt schuf, sie mit Güte erhält und mit Weisheit regiert; Tugend ist die Bestimmung des Menschen für diese Erde, und immerwährende Annäherung an das Ziel der Vollkommenheit ihm Pflicht, worauf eine unermüdete Ausbildung aller der verschiedenen Anlagen des Geistes hinleitet; Tod ist nicht Vernichtung des Menschen, sondern Uebergang in eine andre Periode seiner stufenweisen Entwickelung, er wird ewig dauern. Dieß sind die Hauptgrundsätze der oben genannten Religionen; und es sind keine andern, keine bessern Entdeckungen, welche wir den Bemühungen der sich selbst überlaßnen Vernunft jemahls zu verdanken haben werden. Unter so mannichfaltigen Namen und Formen diese Grundsätze auch immer unter den Menschen erscheinen mögen, so sind sich doch ihre Bekenner überall in der Behauptung gleich, daß sie die Kenntniß derselben einem unmittelbar göttlichen Unterrichte schuldig wären. Bei den mehrsten Völkern soll dieser göttliche Unterricht ihren frühesten Vorfahren in dunkler Vorzeit zu Theil geworden sein, als noch die Gotter unter den Menschen wandelten; Andere aber glauben, daß ihre Priester in beständigem Verkehr mit der himmli-
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schen Weisheit stehen, und jedes ihrer Worte unmittelbar aus ihrer Quelle schöpfen. Leicht ist es, das Unwahre und Betrügerische der letzten Behauptung zu entdecken, aber schwerer zu entscheiden der Streit über den Grund oder Ungrund der ersten Erklärung. Von jeher gab es Männer, welche an der Wahrheit und Möglichkeit eines unmittelbar von Gott kommenden Unterrichts zweifelten, weil sie an die Prüfung desselben mit dem Grundsatze gingen, Religion, als solche, dürfe nichts enthalten, worauf die Menschen nicht selbst durch ihre eigne Vernunft und durch die Anforderung ihres Gewissens hingeleitet werden könnten. Und es läßt sich nichts mit Grund ihren Zweifeln entgegen setzen, wenn die Behauptung wahr ist, daß die Religion dem Menschen nie zur Erweiterung der Kenntnisse, sondern bloß zur Unterstützung seines Pflichteifers gegeben worden sei, und daß sie ihm nur neue und starke Gründe für die Ausübung dessen an die Hand gebe, wozu er ohnedieß schon durch die Anlagen seiner vernünftigen Natur verbunden sei. Das möchte sich indessen wohl nicht beweisen lassen, daß unser Wissenstrieb gar kein Interesse an der Religion haben sollte, und daß mithin Religion für die Erweiterung unserer Kenntnisse gar nicht geeignet sei. Aber wahr ist es, daß sie weit mehr zur Ermunterung unsers Willens und zur Belebung unserer Gefühle gegeben ist, und daß die Definition, welche
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die Kanrische Philosophie von der Religion giebt, sie sei eine Darstellung unsrer Pflichten als göttlicher Gebote, gar sehr wohl gegen Einwendungen vertheidigt werden kann, gesetzt auch, daß sich gegen die Art manches erinnern ließe, auf die sie es versucht hat, die Lehren der Religion innerhalb den Gränzen der bloßen Vernunft einzuschließen. – Wenn man aber, um jenen Einwand zurückzuweisen, gesagt hat, Religion dürfe wohl Belehrungen enthalten, welche über die Vernunft, wenn sie nur nicht wider sie wären; so hat man damit entweder gar nichts gesagt, oder man hat dadurch die sehr wahre Behauptung ausdrucken wollen, die Religion enthalte Belehrungen, Gründe und Antriebe zur Ausübung dessen, was das Gewissen fordert, welche durch Anstrengungen bloß menschlicher Vernunft nicht leicht, oder nur sehr spät und nach vielen mißlungenen äußerst nachtheiligen Versuchen wurden aufgefunden worden sein. Denn es ist gewiß, daß die menschliche Vernunft Jahrtausende gebraucht hat, um diese oder jene Entdeckung zu machen, wozu sie doch weit dringendere Veranlassungen hatte, und die ihr weit näher lagen, als diese übersinnlichen Religionswahrheiten; und die Erfahrungen, die man an einzelnen auf der niedrigsten Stufe der menschlichen Cultur stehenden Menschen oder auch an ganzen Volkern gemacht hat, lehren es zur Genüge, daß sie sich ohne äußre Veranlassung nur selten
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zu jenen Fragen gereitzt fühlen, deren Beantwortung in der Religion liegt, die aber auch für den Menschen in mehr als einer Rücksicht ungemein wichtig ist. Es ist also gar nichts Unverständiges und Gottes Unwürdiges in der Behauptung, daß er den Menschen jene Veranlassungen zugeführt, und in ihnen den Wunsch nach der Beantwortung jener Fragen auf irgend eine Art rege gemacht habe. Freilich aber ist und war mit jenem Wunsche nach Antwort die Antwort selbst bei weiten noch nicht gegeben; und es ist nun immer noch erst auszumachen, woher diese mit der Bestimmtheit und Zuverläßigkeit gekommen sei, die man bei den übrigen Auflösungen und Begriffen aus jener Zeit so sehr vermißt. Denn möchten sich aus dem dringenden Gefühle der Schwäche und Ohnmacht, der Furcht, der Hülflosigkeit und der Unerklärlichkeit der täglichsten Ereignisse einiger Maßen die Begriffe von Gott herleiten lassen, die wir bei den frühesten Menschen finden, so führt denn doch keines dieser Bedürfnisse auf die Idee eines gerechten Gottes, der nach einem moralischen Plane das Ganze regiert – und dennoch liegen auch von dieser Idee in den ältesten Denkmählern der Religon die deutlichsten Spuren vor Augen. Und so steht man denn hier freilich auf dem Punkte, entweder die Echtheit jener Erzählungen von den ersten Religionsbegriffen der Menschen zu bezweifeln, oder zu glauben, daß der Urheber ihrer Natur ihnen diese Be-
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griffe auf irgend eine Art ertheilt habe, von der wir freilich gar nichts Näheres zu bestimmen wissen. Gegen das erste sträubt sich die ganze Geschichte, selbst nach den scharfen Prüfungen und Sichtungen, welche ernste Wahrheitsliebe und erbittertes Vorurtheil über sie ergehen ließen: und gegen das letztere macht unsre Vernunft mancherlei Einwendungen, um in der Entwickelung der Ursachreihe nicht etwa einen Sprung zu machen, der gegen ihre eignen Gesetze sein würde; sie wagt es sogar kühn genug, sich selbst für die erste Quelle jener Begriffe anzugeben. Allein so sehr dieses Unternehmen von ihrer göttlichen Kraft zeugt, so mancherlei sind die Einwendungen, die sich gegen die Rechtmäßigkeit desselben machen lassen. Zwar wird es jetzt unserer Vernunft leicht, sich durch sich selbst und ihre Kräfte, und durch die Betrachtung der Natur, in deren geheime wunderbare Werkstatt sie so tief eingedrungen ist, über die Welt der Sinne zu erheben, und Gott in seinem Lichte, die moralische Weltordnung in ihren Verhüllungen, und die ewige Dauer des menschlichen Geistes über den Gränzen dieses Lebens hinaus zu entdecken; aber wie viel hat auch nicht unsere Vernunft vor der Vernunft jener frühern Zeiten voraus, wo man denn doch auch von Gott, von Tugend und Laster, von ihrem nothwendigen Zusammenhange mit Glückseligkeit und Unglückseligkeit und von ewiger Dauer des Geistes sprach, ob-
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wohl in dunkeln Reden und in geheimnißvollen Bildern. Wie fand nun jene Vernunft in Gott den unparteiischen Richter menschlicher Handlungen, den gerechten Austheiler von Lohn und Strafe – den schwersten Begriff für die sich selbst überlaßne Vernunft, den sie vielleicht nie gefunden haben würde, wenn nicht die dunkle Erinnerung daran in den Sagen oder Denkmählern der Vorzeit sie darauf geleitet hätte? Wollte man die frühe Entstehung von diesen aus den Träumen und Gesichten der Folgezeit erklären, so haben diese größten Theils die Spuren ihrer sehr menschlichen Entstehung so deutlich an sich, daß man es leicht nachweisen kann, wie sie alle durch die Wirksamkeit gewisser in der Seele schon vorhandenen Ideen hervorgebracht wurden, die also schon durch andre Mittel in ihr rege gemacht sein mußten. – Unerklärlich also bleibt uns der erste Ursprung religiöser Vorstellungen und Begriffe, so sehr sie auch immer dem menschlichen Geiste unentbehrlich sind, und so unwiderstehlich diesen auch alle seine Anlagen und Bedürfnisse darauf hinleiten. Indessen vermindert diese Dunkelheit, die über dem Ursprunge liegt, die Vortrefflichkeit der Sache selbst nicht im geringsten; und es würde einen sehr parteiischen Ekel verrathen, wenn man etwas an sich Schätzbares und Gutes deßwegen verwerfen wollte, weil man den ersten Urheber desselben und die Art, wie es auf unsre
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Zeiten gekommen ist, nicht angeben kann. Gerade dasselbe Schicksal haben ja die mehresten für das Leben unentbehrlichsten Erfindungen, die man dankbar benutzt, ohne sich durch die Unbekanntschaft ihres Urhebers beunruhigen zu lassen. Wir bedürfen nun einmahl der Religion; und ihre Hülfe ist uns unentbehrlich, wenn wir unsre Menschenbestimmung erreichen wollen: sie ist – nach Spaldings kräftigem Ausdrucke – Angelegenheit des Menschen1. Er kann sich ohne sie nicht glücklich durch das Gewirre des Lebens hindurch winden; er bleibt ohne sie überall von Räthseln umgeben, die durch ihre Unbegreiflichkeit den Verstand ermüden und irre leiten, und dabei, was das Allerschlimmste ist, seinem Herzen die Wärme und die Lebendigkeit des Gefühls rauben, mit dem das Gute ergriffen werden muß, wenn es als das letzte Ziel aller unserer Bestrebungen uns überall und unter jeden Umständen theurer und heiliger sein soll, als alles. Denn wo sonst anders als in der Religion findet der menschliche Geist eine befriedigende Beantwortung der Frage, die ihn überall ängstlich herumtreibt: wer soll den schreienden Mißklang zwischen Schicksal und Tugend zu der Harmonie stimmen, ohne welche alles, alles, was Philosophen und Theologen sagen und fordern mögen, leeres Geschwätz und thörichte Forderung bleibt? – Unläugbar durch die Geschichte aller Zeiten bestätigt ist der Ein-
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fluß der Religion auf die Veredlung einzelner Menschen und ganzer Völker, auf ihre Bildung und auf die Erhöhung ihres bürgerlichen und sittlichen Wohlstandes. Deßwegen sind aber Religion und Moralität noch immer nicht gleichbedeutend; und es ist eine ungerechte Tyrannei des Sprachgebrauchs, daß er mit demselben Worte Religion auch religiöse und damit zugleich sittlich gute Gesinnungen bezeichnet: der wahrhaft religiöse Mensch ist auch sittlich gut; aber der wahrhaft sittlich Gute könnte es auch ohne Religion sein. Die Sittlichkeit beruht auf ihren eignen Gründen, und kann ihre Forderungen an den Menschen auch ohne Rücksicht auf Religion thun. Aber wo ist unter den Millionen Menschen auch nur einer, der sich stark genug fühlt, ohne den Glauben an Gott zu thun, was die Pflicht mit unerbittilcher Strenge fordert, und im schwersten aller Kämpfe, im Kampfe mit sich selbst, glücklich zu bestehen? Freilich also verräth der ein zu großes Vertrauen auf sich selbst, der die Religion entbehren zu können glaubt – ein Vertrauen, das nur allzu bald verschwindet, wenn man eine genauere Prüfung seiner eignen Kräfte und der Waffen anstellt, die ihnen zu Gebote stehen. Aber dadurch sind wir noch gar nicht berechtigt, diesem Kurzsichtigen Haß und Verachtung der Wahrheit und des Guten selbst Schuld zu geben; und verbannt müsse aus unsern Unterhaltungen das Urtheil sein: »er ist ein schlechter
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Mensch, er hat keine Religion.« Thut er nur als Mensch und Bürger, was die Pflicht gebietet, können wir ihn nur keiner offenbar niedriger Absichten anklagen, so vermindert das seinen Werth für die Welt und uns nicht, wenn er auch nicht aus religiösen Gründen gehandelt haben sollte. Ob er ein Recht hatte sie zu verschmähen, ob er nicht, durch sie gestärkt, mehr Gutes und dieß glücklicher würde haben thun können, ob er in einer andern Periode seiner Existenz diesen Mißgriff werde entgelten müssen – das sind Fragen, deren Entscheidung vor einen andern Richterstuhl, nicht vor den unsrigen gehört, am wenigsten vor den, welchen die nie unparteiische Conversation mit anmaßendem Selbstvertrauen aufrichtet. – Eben so wenig kann uns Verschiedenheit des äußern Religionsbekenntnisses zu einem solchen Urtheile ein Recht geben. Die wenigsten Menschen sind in den Umständen, die äußre Form ihrer Religionsüberzeugungen nach freier Willkühr wählen zu können; diese hängt ja größten Theils von den Aeltern und von dem Unterrichte ab. Durch beide wird entweder der Glaube an die unumgängliche Nothwendigkeit dieser Form erzeugt, oder wenigstens wird doch das ganze Schicksal des Menschen mit der Beibehaltung derselben eng verflochten. Im ersten Falle haben wir deßwegen schon kein Recht, einen festen Anhänger an seine Kirche zu tadeln, weil wir an die unsrige vielleicht nur
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durch dieselben Bande gefesselt sind; und im zweiten sollten wir bedenken, daß es dem Menschen unmöglich zur Sünde oder zur Erniedrigung gereichen kann, durch willige Anbequemung an eine gewisse äußre Regel sein Schicksal zu sichern. Bei der wahren Religion kommt alles auf die Ueberzeugung von ihren Grundwahrheiten an; wenn diese im Herzen lebt und den Menschen zu guten Thaten antreibt, so ists gleich viel, durch welche äußre Gebräuche er seinen Glauben an Gott und Freiheit und Unsterblichkeit an den Tag legt. Verschiedenheit der Gebräuche und Formen wird bleiben, so lange die Menschen Menschen sind, wenn auch ein glücklicheres Jahrhundert sie dereinst reif zu einem Glauben und zu einer Hoffnung vereinigen sollte.
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1 Die Religion, eine Angelegenheit des Menschen, von J. F. Spalding, 3te Aufl. Berlin 1799. Dieß ist das vortreffliche Buch des würdigen Greises, welches niemand ungelesen lassen sollte, der bei der Frivolität unsrer Zeit in ihren Urtheilen über die Religion mit sich selbst einig bleiben will.