Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch
Genlis, Die Gräfin von
Die Gräfin von Genlis, eine in mehrerer Rücksicht merkwürdige Frau, die Erzieherin der Kinder des ehemahligen Herzogs von Orleans, und eine sehr geschätzte Schriftstellerin. Ihr Gemahl, Marquis de Sillery (ein Mann, der mit sehr vielem Verstande einen durchdringenden Beobachtungsgeist verband), war ein Vertrauter von Orleans und ein muthmaßlicher Beförderer seiner ehrgeitzigen Absichten. Als Convents-Deputirter erhielt er verschiedene wichtige Aufträge; weil er aber die Girondepartei zu begünstigen schien, so wurde er mit den Häuptern derselben (am 31. Oct. 1793) hingerichtet. Er schleppte sich auf seinen Krücken zum Blutgerüste, und brachte seinen mit Narben bedeckten Körper, mit dem er in Indien so glücklich gefochten hatte, dem Vaterlande mit der größten Standhaftigkeit zum Opfer dar. Seine Gemahlin hatte damahls Frankreich schon längst perlassen müssen, und wurde als eine Ausgewanderte angesehen. Sie war zwar eigentlich nie in das Gewebe der Revolution verwickelt gewesen, hatte sich vielmehr seit dem Ende des Jahres 1791 mit ihren Zöglingen in England aufgehalten; allein als Führerin der jungen Herzogin von Orleans und als angebliche Vertraute ihres Vaters war sie doch sehr verdächtig geworden, und würde in Frankreich nie haben sicher leben können. Sie ging daher nach den Niederlanden, kam da-————
selbst in abermahligen Verdacht, mit Dumouriez in Verbindungen zu stehen, und mußte nach der Schweiz flüchten. Dort lebte sie ganz eingezogen in einem Kloster zu Bremgarten, einige Meilen von Zürich. Da sich aber nachher die Tochter des Herzogs von Orleans zu ihrer Tante, der Prinzessin von Condeʼ, nach Freiburg begab; so reiste sie mit ihrer noch einzig übrigen Pflegetochter, der Henriette Sercey, ab, und traf im Jul. 1794 in Altona ein, wo sie in einem abgelegenen Hause in klösterlicher Einsamkeit für die Wissenschaften lebte und einige Schriften ausarbeitete. Daß ihr vor kurzem der Aufenthalt in den Preußischen Staaten versagt wurde, war eine Folge der dort bestehenden Verordnungen gegen alle Französische Ausgewanderte. Die Verdienste der Frau von Genlis sind sehr groß. Sie ist eine liebenswürdige Schriftstellerin, deren Werke im Fache der Erziehung desto größeres Aufsehen machten, je weniger man etwas Vorzügliches in dieser Art in Frankreich erwartete. Ihre Werke, welche bis zu zwanzig Bänden angewachsen sind, charakterisiren sich durch eine leichte und gefällige Schreibart und durch edle und moralische Grundsätze, welche die Verfasserin überall zu verbreiten sucht. Die meisten davon sind ins Deutsche übersetzt worden, und verdienen besonders von den gebildeten Ständen beherzigt zu werden. Als practische Erzieherin hatte die Gräfin Genlis neun Zöglinge aufzuzei-
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gen, unter denen die liebenswürdige Prinzessin von Orleans allein die Rechtschaffenheit der übrigen verbürgen kann. Dieses unglückliche Mädchen hat sich unter der Leitung ihrer Gouvernante zu einem Muster weiblicher Vollkommenheit gebildet, an welcher man die seltne Vereinigung vorzüglicher Geistesgaben und trefflicher Eigenschaften des Herzens bewundern muß. Fern von aller Anhänglichkeit an den Glanz des ehemahligen Hoflebens unterzieht sie sich allen weiblichen Arbeiten, und findet ihre Erholung in Lectüre, Musik und Mahlerei, worin sie die Gräfin Genlis von der frühesten Jugend an unterrichtete. Ihre beständigen Gesellschafterinnen waren die bekannte Pamela (eine adoptirte Tochter der Gräfin und jetzt Gemahlin des Lord Edward Fitzgerald in London) und die oben erwähnte Henriette Sercey. Man gab vor, die Genlis habe mit Hülfe der Schönheit dieser drei Grazien auf manchen wichtigen Mann in Frankreich mächtig gewirkt, und den allgewaltigen Maire Petion dadurch für Orleans Partei gewonnen: allein diese Erdichtungen sind nie bewiesen worden; und Petion konnte mit seiner gewöhnlichen heuchlerischen Miene wohl auch die Gräfin Genlis täuschen und von ihr auf einige Zeit für einen rechtschaffenen Mann gehalten werden. Ueberhaupt war diese Frau den Neckereien aller Parteien ausgesetzt, und mußte besonders von den Emigranten auf ihrer Flucht viele Kränkungen ertragen.
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Jetzt wünscht sie wieder in ihr Vaterland zurück zu kehren, und hat deßwegen eine Schrift aufgesetzt, worin sie ihr Betragen während der Revolution rechtfertigt. So gern gewiß Jedermann, der nur einige Achtung für ihre Verdienste hat, ihre Wünsche erfüllt sehen möchte, so wenig steht jedoch zu erwarten, daß man in Frankreich ihre Bitte gewähren wird, wo man alle Ausgewanderte mit schelen Augen ansieht, und die Gräfin von Genlis schon deßwegen nicht begünstigt, weil sie ehemahls zum Hause Orleans gehörte.
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Ansicht: Genlis, Die Gräfin von