Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch
Gall, D. Franz Joseph
D. Franz Joseph Gall, aus Wien, geb. 1758, unstreitig durch sein System der Gehirn- und Organenlehre einer der merkwürdigen Gelehrten, welche zu Anfange des jetzigen Jahrhunderts eine bedeutende Epoche in den Wissenschaften gemacht haben. Ein gebornes Genie, hatte er schon als Knabe für alles um sich her eine hohe Aufmerksamkeit, und jede Blume, jeder Strauch wurde von ihm untersucht. So erregte es denn auch in der frühsten Jugend seine ganze Aufmerksamkeit, daß mehrere seiner Mitschüler ihn, trotz seiner angewandten Mühe, und andere im Auswendiglernen übertrafen. Er glaubte bald an jenen Knaben große Augen zu entdecken, wurde in der Folge auch bei großen Schauspielern dieselbe Eigenschaft gewahr, und kam denn endlich auf das Resultat: daß wohl die Anlage dazu gerade an diese Stelle gelegt sein müsse; und ungeachtet er nachher von dieser Idee abging, so kam er doch zuletzt wieder darauf zurück: daß es bei einzelnen Anlagen wirklich auf den Bau einzelner Stellen des Kopfs ankomme. Jetzt fing er nun an, Schädel zu sammlen, verglich sie sorgfältig mit einander, welche Erhabenheiten sie mit einander gemein und nicht gemein hätten, verglich auch die Thier- Schädel, studirte das Leben der Thiere sowohl als der Menschen, den Bau ihres Körpers und Gehirns, und entdeckte so nach und nach die Anlage für einige 20————
Organe. Nachdem er nun lange Zeit darüber studirt hatte, und in seinen Untersuchungen mehr vorgedrungen war, so trug er sie erst mehreren seiner Freunde, dann im größern Publikum vor, und ging von nun an auf Reisen in die bedeutendsten Städte und Länder, um über sein System Vorlesungen zu halten. Ohne nun hier auf die mancherlei Urtheile, welche theils über diese literarische Reise, theils und besonders auch über dies System selbst gefällt worden, weiter einzugehen – wozu hier ohnehin gar nicht der Ort sein möchte – sei es genug, nur mit wenigem seine Gehirn- oder Gehirnschädel-Lehre aufzuführen. Diese ist denn nun also: die Darstellung des consequenten Baues im Gehirn, und der durch dasselbe hervorgehenden Verrichtungen, wodurch die Möglichkeit, mehrere Geistesanlagen auf der äußern Schädelfläche zu entdecken, begründet wird. Gall untersuchte das Gehirn nicht, wie die übrigen, von oben nach unten, sondern von dem Rückenmark aus nach der Peripherie des Gehirns. Alle Nerven entspringen, nach ihm, aus dem verlängerten Rückenmark, mit einzelnen unter einander verbundenen Nervenfäden. Er nimmt hinauf- und zurücktretende, oder in die Höhe und herabsteigende Nervenfäden an. Erstere steigen vom Rückenmark aus in die Schädelhöhle, laufen durch Anschwellungen (ganglia), die sie selbst bewirken, und wohin die Varols-Brücke (pons Varo-
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li), Sehehügel u. a. gehören, hindurch, verbreiten sich zur Peripherie der Hemisphärien, beugen sich um und laufen nun als zurücktretende oder herabsteigende zur Schädelhöhle heraus. Daher ist das große und kleine Gehirn blos Verwickelung einzelner Nervenfäden, die im Rückenmarke ihren Ursprung hatten. – Die Organenlehre anlangend, so glaubt Gall, daß die geistigen Anlagen, als angeborne Fähigkeiten, in den einzelnen Gehirnganglien ihren Sitz haben; daß, je hervortretender dieses Gehirnganglium ist, desto größer die ihm zukommende Geistesverrichtung Statt findet. Die Kenntniß dieser Organe erwarb er sich, wie schon angeführt worden, durch gegenseitige Beobachtung vieler Schädel verschiedener Völker. Denn er meint, daß der Theil des Gehirns, in welchem die Geistesverrichtung vorsticht, die Schädelmasse nach außen treibt und auf der convexen Seite des Schädels eine Erhabenheit bildet, die er Organ nennt. Die Benennung dieser Organe wird dann von der Fähigkeit oder der Leidenschaft selbst entlehnt: so das Organ des Tonsinns, des Ortsinns, des Zahlensinns etc., oder das Organ der Kinder- und Jungenliebe, des Würg-, des Mordsinns, des Diebsinns u. s. f.
Es ist wohl nicht zu läugnen, daß diese durch so vielfache Beobachtungen Galls begründete Organenlehre, deren gänzliche Evidenz aber noch spätern Untersuchungen aufgehoben sein dürfte, viel wahres hat,
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daß aber auch, da besonders seine Entdeckungen das allgemeine Interesse fast aller Menschen auf sich ziehen, eben daher Gall sehr oft mißverstanden, theils auch gerade das Gröbste und Sinnlichste aus seinen Lehren herausgehoben und zur Hauptsache gemacht worden ist: – daher auch die vielen Gegner, die sein System gefunden hat, die aber das viele Gute, das es in sich faßt, doch nimmer vertilgen werden.
Organe. Nachdem er nun lange Zeit darüber studirt hatte, und in seinen Untersuchungen mehr vorgedrungen war, so trug er sie erst mehreren seiner Freunde, dann im größern Publikum vor, und ging von nun an auf Reisen in die bedeutendsten Städte und Länder, um über sein System Vorlesungen zu halten. Ohne nun hier auf die mancherlei Urtheile, welche theils über diese literarische Reise, theils und besonders auch über dies System selbst gefällt worden, weiter einzugehen – wozu hier ohnehin gar nicht der Ort sein möchte – sei es genug, nur mit wenigem seine Gehirn- oder Gehirnschädel-Lehre aufzuführen. Diese ist denn nun also: die Darstellung des consequenten Baues im Gehirn, und der durch dasselbe hervorgehenden Verrichtungen, wodurch die Möglichkeit, mehrere Geistesanlagen auf der äußern Schädelfläche zu entdecken, begründet wird. Gall untersuchte das Gehirn nicht, wie die übrigen, von oben nach unten, sondern von dem Rückenmark aus nach der Peripherie des Gehirns. Alle Nerven entspringen, nach ihm, aus dem verlängerten Rückenmark, mit einzelnen unter einander verbundenen Nervenfäden. Er nimmt hinauf- und zurücktretende, oder in die Höhe und herabsteigende Nervenfäden an. Erstere steigen vom Rückenmark aus in die Schädelhöhle, laufen durch Anschwellungen (ganglia), die sie selbst bewirken, und wohin die Varols-Brücke (pons Varo-
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li), Sehehügel u. a. gehören, hindurch, verbreiten sich zur Peripherie der Hemisphärien, beugen sich um und laufen nun als zurücktretende oder herabsteigende zur Schädelhöhle heraus. Daher ist das große und kleine Gehirn blos Verwickelung einzelner Nervenfäden, die im Rückenmarke ihren Ursprung hatten. – Die Organenlehre anlangend, so glaubt Gall, daß die geistigen Anlagen, als angeborne Fähigkeiten, in den einzelnen Gehirnganglien ihren Sitz haben; daß, je hervortretender dieses Gehirnganglium ist, desto größer die ihm zukommende Geistesverrichtung Statt findet. Die Kenntniß dieser Organe erwarb er sich, wie schon angeführt worden, durch gegenseitige Beobachtung vieler Schädel verschiedener Völker. Denn er meint, daß der Theil des Gehirns, in welchem die Geistesverrichtung vorsticht, die Schädelmasse nach außen treibt und auf der convexen Seite des Schädels eine Erhabenheit bildet, die er Organ nennt. Die Benennung dieser Organe wird dann von der Fähigkeit oder der Leidenschaft selbst entlehnt: so das Organ des Tonsinns, des Ortsinns, des Zahlensinns etc., oder das Organ der Kinder- und Jungenliebe, des Würg-, des Mordsinns, des Diebsinns u. s. f.
Es ist wohl nicht zu läugnen, daß diese durch so vielfache Beobachtungen Galls begründete Organenlehre, deren gänzliche Evidenz aber noch spätern Untersuchungen aufgehoben sein dürfte, viel wahres hat,
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daß aber auch, da besonders seine Entdeckungen das allgemeine Interesse fast aller Menschen auf sich ziehen, eben daher Gall sehr oft mißverstanden, theils auch gerade das Gröbste und Sinnlichste aus seinen Lehren herausgehoben und zur Hauptsache gemacht worden ist: – daher auch die vielen Gegner, die sein System gefunden hat, die aber das viele Gute, das es in sich faßt, doch nimmer vertilgen werden.