Duden - Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bänden
sehen
se|hen [mhd. sehen, ahd. sehan, eigtl. = (mit den Augen) verfolgen (verw. mit lat. sequi = folgen), wahrsch. liegt ein altes Wort der Jägersprache zugrunde, das sich auf den verfolgenden u. spürenden Hund bezog]: 1. mit dem Gesichtssinn, mit den Augen optische Eindrücke wahrnehmen: gut, schlecht, scharf, weit s.; sehe ich recht? (Ausruf der Überraschung); er kann wieder sehen (ist nicht mehr blind); sie sieht nur noch auf/mit einem Auge; *jmdn. sehend machen (geh.; jmd. dazu bringen, die Wahrheit zu erkennen). 2. a) den Blick irgendwohin richten, gerichtet halten; blicken [um etw. festzustellen, zu ermitteln]: auf die Uhr, den Bildschirm s.; alle sahen gespannt, erwartungsvoll auf sie; aus dem Fenster s.; durchs Schlüsselloch, Fernrohr s.; durch die Brille, den Sucher s.; in alle Schubladen s.; in die Sonne, ins Licht s.; jmdm. [fest, tief] in die Augen s.; seine Augen sehen in die Ferne; nach der Uhr s.; nach oben, unten, vorn, hinten, links, rechts s.; zum Himmel s.; [nach] rückwärts s.; *sieh[e] da/(ugs. scherzh.:) sieh mal [einer] guck (Ausruf der Überraschung, des überraschten Erkennens): Sieh da, der Marquis trainiert solo (Th. Mann, Krull 393); Man wird älter, ist nicht mehr ganz jung und siehe da, die Zeit beschleunigt sich (K. Mann, Wendepunkt 335); sieh mal einer guck, das ist ja unser Freund Kalle!; b) durch Sehen, Blicken, Ausschauhalten in einen bestimmten Zustand kommen: sie hat sich müde, matt [danach] gesehen; c) Aufmerksamkeit, Interesse, Erwartung auf jmdn., auf etw. richten od. gerichtet halten: alles sah auf den kommenden Präsidenten; hoffnungsvoll in die Zukunft s.; Ich finde, dass jeder erst mal auf sich selbst s. sollte, ehe er auf die Eisenbahner sieht (Freie Presse 22. 12. 89, 4); Es schien also auch Klavierlehrer zu geben, die mehr aufs Alltägliche sahen (Kempowski, Immer 198). 3. aus etw. ragen u. zu sehen sein; hervorsehen: das Boot sah nur ein Stück aus dem Wasser; diesen niedlichen Revolver ..., der ihm aus der Potasche sah (Schnurre, Ich 67). 4. eine Lage mit Blick in eine bestimmte Richtung haben: die Fenster sehen auf den Garten/nach dem Garten, zur Straße; die Küche sieht zum Hof, nach hinten raus, nach Osten. 5. a) erblicken, bemerken [können], als vorhanden feststellen [können]: jmdn. plötzlich, oft, den ganzen Tag, jeden Tag, schon von weitem, nur flüchtig, im Büro, vom Fenster aus s.; es war so neblig, dass man die Hand nicht vor den Augen sah; jmdn., etw. [nicht] zu s. bekommen; niemand war zu s.; die Berge waren kaum, nur verschwommen zu s.; aber der Pfad war frei von Gestrüpp und gut zu s. (Schnabel, Marmor 91); ... erzählt, es wären Schwarze vor uns. Das ist unangenehm, man kann sie schlecht s. (Remarque, Westen 148); hast du [es] gesehen? Er hat ihn gefoult!; Draußen auf der Straße (durch ein ... Fensterloch war es zu s.) flackerte ein Infanteriegefecht (Plievier, Stalingrad 314); Der war wohl vom Lande, tat halb, als ob er's nicht sieht, aber kuckte doch, wie die Sache ausgeht (Kempowski, Uns 82); von jmdm., etw. ist nichts zu s. (jmd., etw. ist nicht da); ich sehe es [un]deutlich, mit Staunen, verwundert; ich sehe alles doppelt; er wurde von mehreren Zeugen [am Tatort, beim Verlassen der Wohnung] gesehen; ich habe sie davonlaufen sehen/(selten:) gesehen; »Hör auf, Fanny«, flüsterte Sabina, als sie Lotta kommen sah (Thor [Übers.], Ich 41); den möchte ich s. (den gibt es nicht), der das kann!; Sogar Tobbe, der mich sonst gar nicht sah (bemerkte), klopfte mir auf den Rücken (Thor [Übers.], Ich 42); sich am Fenster s. lassen (zeigen); wann sehen wir uns (wann treffen wir uns, wann kommen wir zusammen)?; Deshalb hatten wir uns zwei Monate nicht gesehen (waren uns nicht begegnet; Thor [Übers.], Ich 6); wir sehen sie häufig bei uns [zu Besuch] (geh.; sie ist oft bei uns zu Besuch); wir sehen (geh.; haben) häufig Gäste [bei uns] zum Tee; überall gern gesehen (willkommen) sein; gesehen (zur Kenntnis genommen; Vermerk auf Schriftstücken, Akten); (Verweise in Texten:) siehe (Abk.: s.) dies, Seite 99, beiliegenden Prospekt, oben, unten; *etw. gern s. (etw. gern haben): meine Eltern sehen diese Freundschaft nicht gern; sie sieht es gern, wenn man sie fragt; gern gesehen werden/sein (auf Zustimmung stoßen): so etwas wird/ist hier, an dieser Schule nicht gern gesehen; jmdn., etw. nicht mehr s. können (ugs.; jmds., einer Sache überdrüssig sein): ich kann ihn, seine Visage, das Kleid nicht mehr s.; ich kann das Kantinenessen [allmählich] nicht mehr s.; [und] hast du nicht gesehen (ugs.; unversehens): [und] hast du nicht gesehen, war sie verschwunden; sich s. lassen können (beachtlich sein): diese Leistung kann sich s. lassen; sein Vorstrafenregister kann sich s. lassen; sich mit jmdm., etw. s. lassen können (gewiss sein können, mit jmdm., etw. einen guten Eindruck zu machen): mit ihm, dieser Figur, dieser Leistung kann sie sich s. lassen; mit ihr kann ich mich überall, nirgends s. lassen; sich [bei jmdm., irgendwo] s. lassen (ugs.; bei jmdm., irgendwo erscheinen, einen Besuch machen): lass dich mal wieder [bei uns] s.!; in der Kneipe kann ich mich [seitdem] nicht mehr s. lassen; jmdn. vom Sehen kennen (jmdm. schon [öfter] begegnet sein, ihn aber nicht persönlich kennen): ich kenne sie, wir kennen uns nur vom Sehen; diese paar Stammgäste, die ich vom Sehen alle kannte (Hesse, Steppenwolf 46); b) sich (jmdn., etw.) deutlich, lebhaft vorstellen [können], sich (an jmdn., etw.) deutlich erinnern [können]: ich sehe sie noch deutlich vor mir; ich sehe noch deutlich, wie er sich verabschiedete; Ich sehe noch das Telegramm vor mir, in dem André Gide seine Glückwünsche aussprach (K. Mann, Wendepunkt 193); und zum ersten Mal ... sah er vor sich die neue große Straße, die nun gebaut werden musste (Schneider, Erdbeben 110); sie sah ihren Sohn schon als großen Künstler; Ich sah mich schon von den Panzerketten zermalmt (Spiegel 9, 1977, 46); er sah sich schon als der neue Chef/(selten:) als den neuen Chef, schon am Ziel angelangt; ich sehe [noch] kein baldiges Ende des Krieges (halte es nicht für wahrscheinlich); c) nachsehen: es hat geklopft. Ich werde s., wer es ist; ich rufe erst mal an, um zu s. (festzustellen), ob sie überhaupt da ist. 6. a) sich (etw., jmdn.) ansehen; betrachten: den Film habe ich [schon dreimal] gesehen; den Sonnenuntergang hättest du s. sollen!; sie macht große Reisen, um die Welt zu s.; ich habe ihn leider nie auf der Bühne, live gesehen; Er hat Nijinski tanzen gesehen (Riess, Cäsar 338); Wenn man mich von der Seite sieht (Thor [Übers.], Ich 44); das muss man gesehen haben (das ist sehenswert)!; von der Altstadt haben wir leider nicht viel zu s. gekriegt; Aber möglichst viel von seinem bisherigen Schaffen zu s., sei ich entschlossen (Th. Mann, Krull 341); Der Mann hat bisher nichts vom Krieg gesehen (mitbekommen; Plievier, Stalingrad 174); die Krypta ist nur für Geld zu s. (zu besichtigen); da gibt es nichts [Besonderes] zu s.; lass [es] [mich] s. (zeige es mir)!; erste Ehejahre ..., in denen Mann und Frau noch gerne zusammen ausgehen und sich s. lassen, damit man sie beneidet (Gaiser, Schlußball 148); sich als Hungerkünstler s. lassen (als Hungerkünstler auftreten); b) durch Sehen (6 a) in einen Zustand kommen: sich [an etw.] satt, müde s. 7. erleben: wir haben sie selten so fröhlich, so guter Laune gesehen; nie zuvor hatte ich eine solche Begeisterung gesehen; hat man so etwas schon gesehen! (Ausruf der Verwunderung); ihr habt sie in Not gesehen und habt ihr nicht geholfen; Noch nie hatten sie ihn in einer solchen Erregung gesehen (Ott, Haie 317); sie hat schon bessere Zeiten, Tage gesehen (es ging ihr früher besser); dieser Schrank hat auch schon bessere Zeiten gesehen (scherzh.; war einmal in einem besseren Zustand). 8. a) [be]merken; feststellen: überall nur Fehler s.; nur seinen Vorteil s.; von der einstigen Begeisterung war nichts mehr zu s.; wir sahen, mussten mit Bestürzung s., dass wir nicht mehr helfen konnten; ich sehe schon, so ist das nicht zu machen; wie ich sehe, ist hier alles in Ordnung; hast du gesehen? Er weiß es nicht; da sieht mans wieder!; siehst du [wohl]/(ugs.:) siehste (merkst du jetzt, dass ich Recht habe; Äußerung, mit der jmd. darauf hinweist, dass sich eine Ansicht, Befürchtung, Hoffnung bestätigt hat); ich möchte doch [einmal] s. (feststellen, herausfinden), ob er es wagt; wir werden [ja, schon] s./wir wollen s. (warten wir ab, das wird sich dann schon herausstellen); mal s. (ugs.; warten wir einmal ab), wie das Wetter morgen ist, wie lange es dauert, ob sie es merkt; ihr werdet schon s. [was geschieht]! (warnende Äußerung); seht (ihr müsst wissen), das war folgendermaßen; wir sahen unsere Wünsche alle erfüllt, unsere Erwartungen enttäuscht; wir sahen uns betrogen (stellten fest, dass wir betrogen worden waren); wir sehen uns (verblasst: sind) genötigt, nicht in der Lage, die Kosten zu erstatten; b) beurteilen, einschätzen: alles falsch, verzerrt, negativ s.; Hier schaltet sich Frau Schmidt ein. Sie sieht das anders (Grossmann, Liebe 89); Eine Stellungnahme wollen Sie nicht schreiben, sehe ich das richtig? (Spiegel 44, 1977, 220); so darfst du das nicht s.; wir müssen die Lage ganz nüchtern s.; das dürfen Sie nicht so eng s.!; die Dinge s., wie sie sind; man muss die Tat im richtigen Zusammenhang s.; Die Stadtväter sehen Singapur vor allem als lukratives Konglomerat aus Einkaufsparadies, Schlemmerland und Disney World (a & r 2, 1997, 62); Eigentlich sehe ich mich als eine Art Handwerker (a & r 2, 1997, 72); so gesehen hat sie nicht ganz Unrecht; menschlich gesehen (in menschlicher Hinsicht) ist es ein großartiges Team; auf die Dauer gesehen (für die Dauer), ist dies wohl die bessere Lösung; R ... oder wie seh ich das? (ugs.; oder wie verhält es sich damit?, oder täusche ich mich?, nicht wahr?); c) erkennen, erfassen: das Wesen, den Kern einer Sache s.; Man sah klar und lockend das Positive, die Schwierigkeiten traten zurück (Feuchtwanger, Erfolg 782); doch der eine sah nicht die Zielrichtung der anzusetzenden Generalattacke (Plievier, Stalingrad 276); ich sehe nur allzu deutlich, wie es gemeint ist; sie hat in ihrem Roman einige Figuren sehr gut gesehen (erfasst u. gestaltet); sie sieht in ihm nur den (betrachtet ihn nur als) Gegner; Kein Grieche hat darin etwas Befremdliches gesehen (hat es durchaus nicht für befremdlich gehalten; Thieß, Reich 47); Sie sehen (ersehen) daraus, dass ich nicht ganz falsch lag; daran lässt sich s. (ermessen), wie schwer sie sich tut; d) überlegen; prüfen; festzustellen suchen: s., ob es einen Ausweg gibt; [ich will] mal s., was sich tun lässt. 9. a) [zu jmdm., etw. hingehen u.] sich um jmdn., etw. kümmern: nach den Kindern, nach dem Kranken s.; Er meint, er braucht jemand, der immer für ihn sorgt, der für ihn da ist, nach ihm sieht (Hörzu 5, 1972, 102); ich musste doch nach der Heizung s., weil Else heute ihren freien Nachmittag hat (Fallada, Trinker 7); sieh bitte mal nach den Kartoffeln auf dem Herd; b) suchen, forschen, Ausschau halten: nach neuen Möglichkeiten s. müssen. 10. a) (auf etw.) besonders achten, besonderen Wert legen: auf Ordnung, Sauberkeit s.; Die Diva sah auf Formen (Ott, Haie 163); Der Kaiser ... sah auf Nutzen mehr als auf Ritterlichkeit (Feuchtwanger, Herzogin 75); er sieht nur auf seinen Vorteil, aufs Geld; du solltest mehr auf dich selbst s.; nicht auf den Preis s. (sich unabhängig vom Preis für od. gegen etw. entscheiden); wir müssen darauf s., dass die Bestimmungen eingehalten werden; b) (landsch.) auf jmdn., etw. aufpassen; jmdn., etw. im Auge behalten: bitte sieh auf das Kind. 11. sich darum kümmern, etw. Bestimmtes zu erreichen: sieh, dass du bald fertig wirst; Ich ... griff mein Eigentum und sah, dass ich davonkam (Hagelstange, Spielball 72); sie soll [selbst] s., wie sie das Problem löst; ich muss s., dass ich etwas Festes habe, bevor ich keine Engagements mehr finde (Remarque, Obelisk 301); Die Frau muss s., wie sie an die Unterstützung kommt, die ihr zusteht (Kronauer, Bogenschütze 289); R man muss s., wo man bleibt (ugs.; man muss zusehen, dass man nicht zu kurz kommt); jmd. soll/kann s., wo er bleibt (jmd. muss selbst für sich sorgen). 12. "aussehen" (1 a): Du erschreckst mich, Fernando. Du siehst wild (Goethe, Stella I, 4); sie haben ihm den violetten Rock so lang geklopft, bis er abfärbte und auch sein Rücken violett geworden ist und nicht mehr menschenähnlich sieht (Heine, Rabbi 470); Aber ist euch auch wohl, Vater? Ihr seht so blass (Schiller, Räuber I, 1). ∙ 13. Das letzte Mal, da ich sie sahe, hatte ich nicht mehr Sinne als ein Trunkener (Goethe, Götz I).
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