Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Zigeuner
Zigeuner[Wortherkunft nicht sicher geklärt; vermutlich aus dem südosteurop. Raum] (auch Sinti und Roma), im dt. Sprachraum vorherrschende Gesamtbez. für weltweit verbreitete, überwiegend aber in Europa (v. a. im Jugoslawien in seiner 1918 begründeten Form, in Rumänien, Ungarn, Frankreich, Spanien und Dtl.) beheimatete ethn. Minderheitsgruppen ind. Herkunft mit vermutlich 12 Mio. (Europa: 8 Mio.) Angehörigen. - Zahlenangaben zu den Z. schwanken sehr und beruhen alle auf Schätzungen. - Von einigen dieser Gruppen wird die Bez. Z. als diskriminierend abgelehnt.
Die Bez. Sinti (für die mitteleurop. Gruppen) leitet sich möglicherweise von der Herkunft ihrer Vorfahren aus der Region Sindh im NW Indiens (heute Pakistan) ab; die Bez. Roma (Sg. der Rom, »Mann«, »Mensch«) ist ein allgemeiner Sammelname außerhalb des dt. Sprachraums; in Dtl. überwiegend für Gruppen südosteurop. Herkunft gebraucht. Im engl. Sprachraum werden Z. als Gypsies, im spanischen als Gitanos, im französischen als Tsiganes bezeichnet. In Dtl. leben etwa 100 000 Z. (60 000 bis 70 000 Sinti und 40 000 Roma), überwiegend kath. Konfession; in südost- und osteurop. Ländern gibt es auch muslim., griechisch-orth. und russisch-orth. Z. - Mit Geschichte, Kultur und Herkunft der Z. befasst sich die Ziganologie (Tsiganologie).Selbst innerhalb von Nationalstaaten bilden Z. keine homogene Einheit. Träger der sozialen Organisation und kultureller Überlieferung ist die Familie. Die ältere Generation genießt die besondere Achtung der Jüngeren. Die kulturelle Identität gründet in der eigenen Sprache (Romani), in der eigenständigen Auseinandersetzung mit der Kultur der Mehrheitsbev. und in der Erfahrung jahrhundertelanger Verfolgung. Sie ist u. a. gekennzeichnet durch einen reichen Schatz an Erzählungen, Märchen und Liedern, durch künstler., bes. musikal. Fähigkeiten und handwerkl. Traditionen (v. a. Kupfer- und Goldschmiedekunst, Korbflechterei, Holz- und Lederbearbeitung).
Geschichte: Erste Abwanderungen aus Indien werden zw. dem 5. und 7. Jh. n. Chr. angenommen. Durch das Eindringen arab. Volksstämme und die dadurch bedingte ökonom. Existenzunsicherheit wurden die Z. wohl zw. 800 und 1000 zur Auswanderung gezwungen. Die Mehrheit der Vorfahren der heutigen europ. Z. ließ sich zw. dem 11. und 14. Jh. auf dem Balkan (um 1100 erstmals erwähnt), im Mittleren Osten und in Osteuropa nieder. Die Westwanderung erreichte um 1400 Mitteleuropa, bald nach 1500 England und 1715 Nordamerika. Da sie auch in ihren Aufnahmeländern, von kurzen Perioden der Duldung (mit sozialer Ausgrenzung) abgesehen, meist - analog den Juden - vertrieben und verfolgt wurden, waren sie seitdem zu einem Wanderleben (Fahrende) genötigt bzw. gezwungen, sich in entlegene Gebiete zurückzuziehen oder in einheim. Bev.gruppen mit ähnl. Lebensweise aufzugehen. Dadurch bildeten sich seit dem 16./17. Jh. in nahezu allen westeurop. Ländern kleinere Gruppen (z. B. in Frankreich die Manouches, in Polen die Kalderasch).Dem Beispiel Maria Theresias und Josephs II., die Roma in Österreich zwangsweise zu Bauern machen wollten, folgte der preuß. König Friedrich II., d. Gr., 1775 mit der Gründung eines »Z.-Dorfs« in Friedrichslohra (heute zu Großlohra, Kr. Nordhausen). Obwohl dieses Projekt der »Umerziehung« endgültig 1837 scheiterte, war es Teil und Beispiel des Ende des 18. Jh. einsetzenden Versuchs, die Z. nicht mehr zu vertreiben, sondern in die (dt.) Gesellschaft und Kultur einzugliedern und zu assimilieren. Protorassist., antiziganist. Vorurteilen zufolge (die eine große Parallelität zu judenfeindl. bzw. antisemit. Sichtweisen aufweisen) galt ihre Kultur als »minderwertig« und deshalb als nicht bewahrenswert. Seit 1899 setzte im Dt. Reich eine systemat. Bekämpfung der Z. ein; seit 1906 bestand in Preußen eine »Z.-Gesetzgebung«.
Ihren Höhepunkt erreichten die Verfolgungen der Z. während der nat.-soz. Zeit in Dtl.; seit 1935 galten die Z. ebenso wie die jüd. Bev. als »Artfremde« (Nürnberger Rassengesetze). Bereits ab 1936 (Olymp. Sommerspiele in Berlin) erfolgte die zwangsweise Unterbringung in Sammellagern, 1940 die Deportation in Konzentrations- und Vernichtungslager (Grundlage: »Z.-Grunderlass« von 1938, »Festsetzungserlass« von 1939, »Auschwitz-Erlass« Himmlers von 1942); etwa 500 000 Z. wurden damals in Europa umgebracht (zweitgrößte Opfergruppe des Holocaust; in Romani »Porajmos«). Parallel und als Vorstufe zur nat.-soz. Ausrottungspolitik wurden in bestimmten KZ Zwangssterilisationen vorgenommen; in O-Europa starben viele Z. auch bei Mordaktionen von Einsatzgruppen sowie Wehrmachtseinheiten.
Auch nach 1945 waren die Sinti und Roma in der Bundesrep. Dtl. vielfach Diskriminierungen ausgesetzt. In jüngster Zeit mehren sich Forderungen, sie als rassisch Verfolgte anzuerkennen und entsprechende Entschädigungszahlungen zu leisten.
Die kommunistisch geführten Reg. betrieben eine Politik der Zwangsassimilierung. In einigen Staaten Osteuropas kam es z. T. zu massiven Menschenrechtsverletzungen (Zwangssterilisation, Sprachverbot). Nach dem Sturz der kommunist. Regierungen zw. 1989 und 1991 kamen unter dem Druck weiter bestehender Diskriminierung und drückender sozialer Bedingungen zahlreiche Z., v. a. Roma aus Südosteuropa, nach Dtl. und bemühen sich unter Wahrnehmung des dt. Asylrechts um einen Aufenthaltserlaubnis.
Die Ende der 70er-Jahre entstandenen Interessenverbände der Sinti und Roma, seit 1982 z. T. im »Zentralrat Dt. Sinti und Roma« zusammengeschlossen, setzten bei der dt. Bundesregierung die Anerkennung der nat.-soz. Verfolgung als Völkermord durch und fordern eine veränderte Entschädigungspraxis, seit 1991 unter Hinweis auf eine weiterhin bestehende Verfolgung, v. a. im südöstl. Europa, die Anerkennung als Staatenlose und das Recht auf Freizügigkeit, was ein Bleiberecht in allen Staaten bedeuten würde. 1995 wurden von der Bundesregierung mit der Unterzeichnung des Europ. Minderheitenschutzabkommens (1997 vom Dt. Bundestag ratifiziert) die Z. als nat. Minderheit anerkannt. Seit 1997 besteht in Heidelberg offiziell ein eigenes »Dokumentations- und Kulturzentrum der Sinti und Roma«.
Literatur:
Hohmann, J. S.: Geschichte der Zigeunerverfolgung in Dtl. Neuausg. Frankfurt am Main u. a. 1988.
Die Z. Reisende in Europa, Beiträge v. R. Gronemeyer u. a. Köln 1988.
Wittich, E.: Beiträge zur Zigeunerkunde. Frankfurt am Main u. a. 1990.
Krausnick, M.: »Wo sind sie hingekommen?« Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma. Gerlingen 1995.
Der nat.-soz. Völkermord an den Sinti u. Roma, hg. v. R. Rose. Heidelberg 21995.
Die gesellschaftl. Konstruktion des Z.hg. v. J. Giere. Frankfurt am Main 1996.
Gilsenbach, R.: Weltchronik der Z. auf mehrere Tle. ber. Frankfurt am Main 21997 ff.
Gypsies. An interdisciplinary reader, hg. v. D. Tong. New York 1998.
Kenrick, D.: Historical dictionary of the gypsies (Romanies). Lanham, Md., 1998.
Lucassen, L. u. a.: Gypsies and other itinerant groups. A socio-historical approach. Basingstoke 1998.
Stichwort: Z. Zur Stigmatisierung von Sinti u. Roma in Lexika u. Enzyklopädien, hg. v. A. Awosusi. Heidelberg 1998.
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