Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Zeit
I Zeit, das Nacheinander der Dinge, die Abfolge der Geschehnisse, erfahrbar als nicht umkehrbare Aufeinanderfolge sowie Dauer von Veränderungen und Ereignissen in Natur und Geschichte. Je nach wiss. (philosoph.) Anschauung wird Z. als endl. oder unendl. homogenes, teilbares Kontinuum angesehen, die unter bestimmten Gesichtspunkten und Zwecksetzungen eingeteilte Z. als Ordnungsschema. Unterschieden wird das Zeiterleben (Z.-Bewusstsein) von der physikal. Z. und der Z.-Ordnung als geschichtl. Z.-Einteilung. In Letzterer sucht die Chronologie, die histor. (Kalender), die vorgeschichtl., die geolog. (geologische Systeme) und schließlich auch die kosmolog. Z.-Räume und -Folgen abzugrenzen und zu bestimmen.In der Philosophie finden sich die ältesten Überlegungen zur Natur der Z. bei den Griechen, als Gegenüberstellung von dem unveränderl., ewigen Sein (Parmenides) und dem Werden, dem Wandel als Grundzug der Erscheinungen (Heraklit). Platon gab einen Hinweis, dass der Ursprung der Z. mit der Struktur des Kosmos zusammenhängt (in »Timaios«). Aristoteles erkannte die Abhängigkeit von Z. und Bewegung; Z. kann nicht von den Prozessen der Welt getrennt verstanden werden. Dagegen sah I. Kant (um 1800) in der Z. eine reine Anschauungsform, eine vor aller Erfahrung (a priori) liegende formale Bedingung aller Erscheinungen überhaupt. Das Verhältnis von objektiver und erlebter Z. wurde u. a. von E. Husserl und H. Bergson behandelt; Letzterer erklärte die erlebte Z. als urspr. und schöpferisch, die objektive Z. dagegen als Konstruktion des Verstandes unter dem Gesichtspunkt des Raumes.Naturwiss. Zeitbegriff: Die Erforschung der objektiven Naturwiss. ist eng mit der Entwicklung der Astronomie, der modernen theoret. Physik und der Technik der Z.-Messung verbunden.In der Physik ist die Z. eine nach allen Erfahrungen unbeeinflussbare, jedoch nach der Relativitätstheorie vom Bewegungszustand eines zeitmessenden Beobachters abhängige Grundgröße; Formelzeichen t, SI-Einheit Sekunde (s). In der klass. (nichtrelativist.) Physik wird die Z. nach I. Newton als absolute Zeit angesehen, die, unabhängig von der Materie und den materiellen Veränderungen, mit eindeutiger Kausalordnung (»Früher-später-Relation«) an allen Orten des Universums gleich abläuft (Gleichzeitigkeit). Sie wird präzisiert durch die Festlegung des Z.-Intervalls zw. Beginn und Ende eines beliebig oft reproduzierbaren, von der Art der Messung unabhängigen Experiments als Maßeinheit der Z.-Dauer. Die Voraussetzung der Gleichzeitigkeit versagt, wenn die zur Z.-Messung benutzten Uhren sich relativ zueinander mit einer Geschwindigkeit bewegen, die vergleichbar ist mit der Vakuumlichtgeschwindigkeit. Von A. Einstein wurde die Relativität der Gleichzeitigkeit als Folge der endl. Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts und aller Wirkungen sowie die sich hieraus ergebende untrennbare Verknüpfung von Raum und Z. zum vierdimensionalen Raum-Z.-Kontinuum der speziellen Relativitätstheorie (1905) erkannt. Zu einer weiteren Relativierung des Z.-Begriffs führt die allg. Relativitätstheorie (A. Einstein, 1915), nach der eine von der Materieverteilung und deren Bewegung unabhängige absolute Z. nicht existiert, sondern eine Verknüpfung zw. der Geometrie des physikal. Raum-Z.-Kontinuums und der Materie besteht.
Ereignisse, die durch Signale miteinander verbunden sind, heißen zeitartig zueinander: Zw. solchen Ereignissen gibt es eine vom Bezugssystem unabhängige, unsymmetr., transitive Zeitordnung. Empirisch zeigt sich die Einsinnigkeit der Z. in der Nichtumkehrbarkeit (Irreversibilität) aller realen makroskop. Prozesse (Entropie). Lange konnte für mikroskop. Prozesse wegen der Invarianz aller für sie bekannten Grundgesetze gegenüber der Zeitumkehr keine Z.-Richtung ausgezeichnet werden. Die 1964 entdeckte Verletzung der CP-Invarianz wird heute als Verletzung der Z.-Umkehr und damit als Auszeichnung der Z.-Richtung bei Mikroprozessen angesehen. Kosmologisch ist die Z.-Richtung an der Expansion des Weltalls ablesbar.Bei der Zeitmessung werden Z.-Intervalle bzw. Z.-Punkte durch streng period., beliebig reproduzierbare Vorgänge hinreichend konstanter Frequenz (Standardfrequenz), wie die Schwingungen eines Pendels, Quarzkristalls (Quarzuhr), Atoms oder Moleküls (Atomuhr), bestimmt. Ein unveränderl. gleichförmiges Z.-Maß konnte bis zur Entwicklung von Atomuhren nur durch die auf der Rotation der Erde beruhende astronom. Zeitmessung definiert werden, deren grundlegende Z.-Skalen die Periode der Eigenrotation der Erde bezogen auf den Meridiandurchgang der Sonne (Sonnenzeit) bzw. der Sterne (Sternzeit) sowie die Dauer des Umlaufs der Erde um die Sonne (Ephemeridenzeit, Abk. ET) sind. Die natürl. biologische Z.-Skala ist die Sonnenzeit. Die an einem Ort beobachteten tägl. Höchststände der wahren oder »mittleren Sonne« definieren jeweils die Z.-Punkte 12h in der wahren oder mittleren Sonnen-Z. des betreffenden Ortes. Einem Längenunterschied von 1º zw. zwei Orten entspricht ein Z.-Unterschied von vier Minuten. Der Z.-Unterschied zw. der wahren und der mittleren Sonnen-Z. ist die Zeitgleichung. Die mittlere Sonnen-Z. des Nullmeridians heißt Weltzeit (WZ; engl. Universal Time, UT) oder auch noch Mittlere Greenwich-Zeit (MGZ; engl. Greenwich Mean Time, GMT).
Gegen Ende des 19. Jh. wurden die Orts-Z. abgeschafft (in Dtl. am 1. 4. 1893) und stattdessen Zonenzeit als Einheitsuhrzeit eingeführt. Innerhalb jeder Zeitzone, die sich an die Zonen-Z. anlehnt, gilt einheitlich die mittlere Sonnen-Z. eines vereinbarten Längengrades (die Mitteleurop. Zeit, MEZ, für den 15. Längengrad östlich von Greenwich, die Osteurop. Zeit, OEZ, für den 30. Längengrad östlich von Greenwich und die Westeurop. Zeit, WEZ, als Zonenzeit des Meridians von Greenwich). Die Zonen-Z. gingen aus der Welt-Z. durch Addition (östlich des Nullmeridians) oder Subtraktion (westlich des Nullmeridians) eines meist ganzzahligen Vielfachen einer Weltstunde hervor; MEZ zeigende Uhren gehen 1 h, OEZ zeigende 2 h gegenüber der WEZ vor. Basiseinheit des Internat. Einheitensystems ist seit 1967 die Atomsekunde. Seit 1955 berechnet das Internat. Büro für die Zeit (frz. Bureau Internationale de l'Heure, BIH) in Paris auf der Grundlage der Anzeigen versch. Atomuhren eine »integrierte Atom-Z.«, die seit 1971 als Internat. Atomzeit (frz. Temps Atomique International, TAI; engl. International Atomic Time, IAT) bezeichnet wird. Diese wurde so festgelegt, dass sie mit der Welt-Z. am 1. 1. 1958 00 : 00 Uhr übereinstimmte. Da die Atomsekunde etwa 3 · 10—8 kürzer ist als die gegenwärtige Sekunde der mittleren Sonnen-Z., findet eine wachsende Verschiebung der TAI gegenüber der UT statt. Durch gelegentl. Einfügen einer zusätzl. Schaltsekunde seit 1972 erhält man eine als koordinierte Weltzeit (engl. Universal Time Coordinated, UTC) bezeichnete Z.-Skala, die von der UT nie mehr als 0,9 s abweicht. Die koordinierte Welt-Z. wird heute praktisch weltweit angewandt; sie bildet die Grundlage der Zonen-Z. und der Verbreitung der Zeitzeichen. In der Bundesrep. Dtl. gilt die von der Physikalisch-Techn. Bundesanstalt hergestellte und zus. mit dem Dt. Hydrograph. Institut in Hamburg verbreitete amtl. Z.-Skala (UTC + 1 h). - Frequenzstandards für hochpräzise Z.-Messungen basieren heute u. a. auf der Atomstrahlresonanzmethode, auf der Bestimmung der Resonanzfrequenz eingefangener und lasergekühlter Ionen (Ionenfallen) bzw. Atome (Atomfallen) oder auf der Trennung der Atomzustände durch opt. Pumpen; die Abweichung einer optisch gepumpten Cäsium-Atomuhr beträgt heute ca. 1 s in 1 Mio. Jahren.
Literatur:
Wendorff, R.: Z. u. Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Opladen 31985.
Fraser, J. T.: Die Z. Auf den Spuren eines vertrauten u. doch fremden Phänomens. A. d. Amerikan. München 14.-18. Tsd. 31993.
Hawking, S. W.: Eine kurze Geschichte der Z. A. d. Engl. Tb.-Ausg. Reinbek 391.-420. Tsd. 1996.
Mainzer, K.: Z. Von der Urzeit zur Computerzeit. München 21996.
Das Rätsel der Z. Philosoph. Analysen, hg. v. H. M. Baumgartner, Beiträge v. W. Büttemeyer u. a. Freiburg im Breisgau u. a. 21996.
II Zeit, Die,
unabhängige Wochenzeitung, gegr. 1946 in Hamburg, geleitet seit 1968 von Gräfin Dönhoff (seit 1972 Mitherausgeberin); seit 1983 ist Helmut Schmidt Mitherausgeber; 1996 Übernahme durch die Holtzbrinck-Gruppe.
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