Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Widerstandsrecht
Widerstandsrecht,i. e. S. ein Abwehrrecht des Bürgers gegenüber einer rechtswidrig ausgeübten Staatsgewalt mit dem Ziel der Wiederherstellung des (alten) Rechts. I. e. S. richtet sich das W. auch gegen Einzelne oder Gruppen, wenn diese die Verf. gefährden; es dient dann der Unterstützung der Staatsgewalt, etwa wenn diese zu schwach ist, die verfassungsmäßige Ordnung aufrechtzuerhalten (»Verfassungshilfe«).In der langen Geschichte des W. haben sich bestimmte Kriterien für einen legitimen Widerstand gegen ein Unrechtssystem herauskristallisiert, nämlich: 1) Es muss sich um einen Akt sozialer Notwehr gegenüber einer verbrecher. Obrigkeit, der das Unrecht »auf der Stirn geschrieben« steht, handeln. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Staatsmacht fundamentale Grund- und Menschenrechte ungeschützt lässt oder selbst verletzt. Demnach gilt auch, dass ein Gesetz, das in grober Weise gegen die Gerechtigkeit verstößt, (ungültiges) »gesetzl. Unrecht« ist, ein Gesetz, das Gerechtigkeit gar nicht bezweckt, ist »Nichtrecht« (G. Radbruch). Demgemäß hält auch das Bundesverfassungsgericht (im KPD-Urteil vom 17. 8. 1956) ein W. gegen ein evidentes Unrechtsregime für gegeben, wenn normale Rechtsbehelfe nicht wirksam sind. 2) Widerstand kommt nur subsidiär in Betracht, d. h., wenn alle legalen und friedl. Mittel erschöpft sind. 3) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein. Die angewandten Mittel müssen in einer angemessenen Relation zu dem angestrebten Zweck stehen. 4) Es muss begründete Aussicht auf ein Gelingen des Widerstands bestehen, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch faktisch gescheiterter Widerstand einen sehr hohen moral. Wert und insofern »Erfolg« haben kann. 5) Der Widerstand Leistende muss die nötige Einsicht besitzen, um die Lage richtig beurteilen zu können. 6) Widerstand darf nur um des Rechts willen geleistet werden, nicht zur Befriedigung persönl. Interessen. 7) Eine Pflicht zum Widerstand kann es von Rechts wegen nicht geben; dadurch würde der Einzelne überfordert. Bestrebungen, das W. zu institutionalisieren, gab es verschiedentlich, z. B. im frühneuzeitl. Naturrecht und in der frz. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. In Dtl. hat die Erfahrung mit der nat.-soz. Diktatur dazu geführt, dass das W. in einigen Länder-Verf. verankert worden ist: Hessen (1946), Bremen (1947), Berlin (1950), nach der Wiedervereinigung auch in Sachsen-Anhalt (1992) und Sachsen (1992). In das GG ist das W. am 24. 6. 1968 im Rahmen der Notstandsverfassung aufgenommen worden, und zwar aus Furcht vor einem Missbrauch der Notstandsbefugnisse durch die Staatsgewalt; in Art. 20 Abs. 4 GG heißt es: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese (d. h. die freiheitlich-demokrat.) Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist« (gegen »jeden«; erfasst ist also auch die Verfassungshilfe). In der Staatsrechtlehre wird jedoch hervorgehoben, dass Art. 20 Abs. 4 GG keine instrumentelle Norm sei, die etwas regele, sondern nur ein symbol. Gesetz, das den Rechtswillen des Staates zum Ausdruck bringe; auch eine Aufhebung dieser Bestimmung würde wegen ihrer überpositiven Herleitung nichts am Recht auf Widerstand ändern. - In der österr. und der schweizer. Verf. ist das W. nicht ausdrücklich niedergelegt, wird jedoch auf rechtsphilosoph. Grundlage allg. anerkannt.
Literatur:
A. Köpcke-Duttler Vom Recht des Widerstehens. Neue Perspektiven zu einem alten Dilemma, hg. v. u. G. Metz. Frankfurt am Main 1988.
Spindelböck, J.: Aktives W. Die Problematik der sittl. Legitimität von Gewalt in der Auseinandersetzung mit ungerechter staatl. Macht. St. Ottilien 1994.
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