Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Weißrussland
Weißrussland Fläche: 207 595 km2
Einwohner: (1997) 10,41 Mio.
Hauptstadt: Minsk
Verwaltungsgliederung: 6 Gebiete und Hptst.-Region
Amtssprache: Weißrussisch
Nationalfeiertag: 27. 7.
Währung: 1 Belarus-Rubel (BYR) = 100 Kopeken
Zeitzone: OEZ
(Belorussland, Belarussland, weißruss. Belarus, amtlich Respublika Belarus), Binnenstaat in Osteuropa, grenzt im N und O an Russland, im SO und S an die Ukraine, im W an Polen und im NW an Litauen und Lettland.
Staat und Recht: Nach der Verf. vom 15. 3. 1994 (per Referendum vom 24. 11. 1996 revidiert) ist W. eine präsidiale Rep. mit Mehrparteiensystem. Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist der mit weitgehenden Vollmachten ausgestattete, auf sieben Jahre direkt gewählte Präsident. Er bestimmt die Richtlinien der Politik, ist Inhaber der Notstandsgewalt, verfügt über ein weit reichendes Verordnungsrecht sowie im Gesetzgebungsverfahren über Initiativ- und Vetorecht und ernennt (entlässt) die Mitgl. des Kabinetts, das von einem MinPräs. geleitet wird. Die Legislative liegt beim Zweikammerparlament (Nationalversammlung; vierjährige Legislaturperiode), bestehend aus Repräsentantenhaus (110 Abg.) und Rat der Rep. (64 Mitgl., davon 8 vom Präs. ernannt). Die 199 Abg. des derzeitigen Repräsentantenhauses wurden allerdings nicht gewählt, sondern stammen aus dem Kreis des 1995 gewählten Obersten Rats. Einflussreichste Parteien: Kommunist. Partei (PKB), Agrarpartei, Partei der Volkseintracht, Partei der Volksfront.
Landesnatur: W. liegt zum größten Teil im Bereich der Osteurop. Ebene. Die Oberflächenformen werden wesentlich durch die pleistozänen Inlandvereisungen geprägt. Die Polozker Niederung im äußersten N ist eine von Sanden und Bändertonen erfüllte, vermoorte und seenreiche glaziale Stauseeausfüllung. Nach S folgen weitere, von Moränenzügen unterbrochene Ebenen, die von der Höhenzone des Weißruss. Landrückens (bis 346 m ü. M.) begrenzt werden. Im S dehnt sich die flache Sumpfregion Polesien aus. Das Klima ist im W maritim, im O zunehmend kontinentaler. Rd. ein Drittel der Fläche sind Wälder (bes. Mischwälder), über 20 % Moorflächen. W. ist reich an Oberflächenwasser, repräsentiert in etwa 10 000 Binnenseen, 130 Staubecken und 20 000 großen und kleinen Flüssen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. 4. 1986 hatte verheerende Auswirkungen für W. Etwa die Hälfte des Territoriums der Rep. wurde kontaminiert. Bislang wurden etwa 120 000 Menschen aus hoch belasteten Gebieten evakuiert.
Bevölkerung: Sie setzt sich (1989) zu rd. 78 % aus Weißrussen, 13 % Russen, 4 % Polen, 3 % Ukrainern, 1 % Juden, u. a. zusammen. Von der Bev. leben 72 % in Städten. W. gehört mit 50 Ew. je km2 zu den schwächer bevölkerten Staaten Europas. Am dichtesten besiedelt sind die nördl., westl. und östl. Landesteile, am geringsten Polesien im S. - Die Schulpflicht umfasst zehn Jahre (ab dem 7. Lebensjahr), wovon acht Jahre von allen Kindern in der allgemeinen Mittelschule absolviert werden. W. verfügt über eine Akademie der Wiss.; der staatl., öffentlich zugängl. Hochschulsektor umfasst zwölf Univ., fünf Akademien und 16 Institute. Darüber hinaus gibt es zwölf private Hochschulen. - Eine herausgehobene Stellung im öffentl. Leben nimmt die (als Repräsentantin weißruss. nat. Identität staatlich geförderte) orth. Kirche ein, der die amtl. Religionsstatistik rd. 72 % der Bev. zurechnet. Über 10 % der Bev. gehören der kath. Kirche an (darunter eine sehr kleine griechisch-kath. Minderheit), rd. 1 % prot. Kirchen und Gemeinschaften.
Wirtschaft, Verkehr: Die Umstrukturierung zur Marktwirtschaft setzte in W. spät ein (Privatisierungs-Ges. im Febr. 1993) und vollzieht sich langsam. Die verheerenden Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl für die Wirtschaft, die stark verteuerten russ. Energielieferungen sowie der Verlust westl. Absatzmärkte und fehlende Modernisierungs- und Privatisierungsbemühungen, gepaart mit undemokrat. und reformfeindl. Haltung verantwortl. Kräfte in Reg. und Verw., führte zu einem lang anhaltenden Wirtschafsabschwung, den umfangreiche Kredite aus Russland abschwächen. Seit Mai 1995 besteht mit Russland eine Zollunion, weitere Bemühungen für einen Verbund beider Staaten sind im Gange. In der Landwirtschaft dominieren weiterhin die aus der Sowjetzeit stammenden Kolchosen und Sowchosen, die noch etwa 80 % der landwirtsch. Nutzfläche (LN) bewirtschaften. Etwa 15 % der LN werden in persönl. Hauswirtschaften von Kolchosmitgliedern bestellt. Durch den Reaktorunfall von Tschernobyl sind etwa ein Viertel der LN, die etwa 12 Mio. ha beträgt, kontaminiert und der landwirtsch. Nutzung somit weitgehend entzogen. Angebaut werden v. a. Kartoffeln, Getreide, Zuckerrüben und Gemüse; im N wird v. a. Flachs angebaut, im S auch Hanf. Führend ist die Viehhaltung, bes. von Rindern (Milcherzeugung) und Schweinen. - An Bodenschätzen werden Kalisalze, Steinsalz, Torf und Phosphate, in geringen Mengen Erdöl und Erdgas gefördert. Der hohe Anteil von Torf bei der Energieerzeugung führt zu starken Umweltbelastungen. Der Aufbau einer Ind. begann erst in den 50er- und 60er-Jahren. Sie verfügt über ein relativ gut ausgebautes verarbeitendes Gewerbe, ist aber stark von Rohstoff- und Energieimporten abhängig. Wichtigste Zweige sind der Maschinen- (Land-, Werkzeugmaschinen), Fahrzeug- (Pkw, Traktoren, Motor-, Fahrräder) und Gerätebau (bes. Geräte der Nachrichtentechnik), die chem. Ind. (Chemiefaser-, Düngemittelproduktion) einschl. Erdölverarbeitung (Raffinerien in Mosyr und Nowopolozk) sowie die Nahrungsmittelind. und Lederverarbeitung. Traditionelle Ind.zweige auf einheim. Rohstoffbasis sind Textil- (bes. Leinen- und Seidenstoffherstellung), Holz- und Baustoffindustrie. - Ausgeführt werden Kalidüngemittel, Chemieerzeugnisse und Konsumgüter (bes. Textilien) sowie Maschinenbauprodukte. Hauptimportgüter sind neben Energierohstoffen und Elektroenergie auch Maschinen, Ind.ausrüstungen und Fahrzeuge, Lebensmittel sowie metallurg. Erzeugnisse. Der hohe Bedarf an Nahrungsmitteln wie Getreide, Zucker und Pflanzenöl sowie an Medikamenten für radioaktiver Strahlung ausgesetzte Menschen kann im Wesentlichen nur durch Kompensationsgeschäfte gedeckt werden. Haupthandelspartner sind Russland (55 % des Außenhandelsumsatzes), die Ukraine, Dtl., Polen, Litauen und die USA. - W. ist ein wichtiges Transitland im Eisenbahn- (Streckennetz 5 523 km, davon 889 km elektrifiziert) und Straßenverkehr (51 547 km Autostraßen, davon 50 825 befestigt). Das Binnenwasserstraßennetz umfasst 2 500 km. Internat. Flughafen in Minsk. Durch das Land führen wichtige russ. Exportleitungen für Erdöl (2 909 km, darunter ein Abschnitt der Erdölleitung Freundschaft) und Erdgas (1 980 km, darunter die Erdgasleitung Jamal-Westeuropa).
Geschichte: Nach der Besiedlung durch Ostslawen bildeten sich auf dem Gebiet von W. in der 2. Hälfte des 1. Jt. n. Chr. die Stämme der Dregowitschen, Radimitschen und Kriwitschen heraus. Die von ihnen begründeten Fürstentümer (z. B. Polozk) gerieten ab dem 9. Jh. unter die Herrschaft des Kiewer Reiches, dessen Großfürsten das Christentum in W. einführten. Im 11. Jh. entstanden u. a. die Städte Brest, Minsk, Witebsk. Im 12. Jh. zerfiel das Kiewer Reich in die Fürstentümer Polozk-Minsk, Tmow-Pinsk, Smolensk u. a. Seit dem 13./14. Jh. gehörten diese zum Großfürstentum Litauen, in dem die weißruss. Sprache längere Zeit Kanzleisprache war. Mit der Union von Lublin (1569) zw. Litauen und Polen wuchs der poln. Einfluss in W., dessen Adel überwiegend die poln. Sprache annahm und zum Katholizismus konvertierte, während die übrige (vorwiegend bäuerl.) Bev. der orth. Kirche verbunden blieb. Mit den Poln. Teilungen (1772, 1793 und 1795) kam W. zum Russ. Reich; während des Russlandfeldzuges von Napoleon I. fand 1812 auf weißruss. Territorium die Schlacht an der Beresina statt. Im 19. Jh. bildeten sich Anfänge einer weißruss. Nationalbewegung heraus; 1898 wurde in Minsk die »Sozialdemokrat. Arbeiterpartei Russlands« gegründet. Im Ersten Weltkrieg besetzten dt. Truppen 1915 zunächst westl. Teile, im Febr. 1918 weitere Gebiete von W. einschl. der Hptst. Minsk. Die nach dem Sturz des Zaren 1917 gebildete bürgerl. »Weißruss. Rada« strebte ein selbstständiges W. an; eine im März 1918 von ihr ausgerufene Volksrep. wurde jedoch von der dt. Besatzungsmacht nicht anerkannt. Bis Anfang Jan. 1919 etablierte sich die Sowjetmacht in ganz W. (Ausrufung der Weißruss. SSR am 1. 1. 1919); von Febr. bis Aug. 1919 bestand die Litauisch-Weißruss. SSR. Nach dem Polnisch-Sowjet. Krieg musste W. im Frieden von Riga (18. 3. 1921) seine westl. Gebiete an Polen abtreten. Im Dez. 1922 gehörte es zu den Gründungsmitgl. der UdSSR. In den 30er-Jahren war W. stark von den stalinschen Säuberungen und Repressalien betroffen (Erschießung von rd. 100 000 Weißrussen zw. 1939 und 1941). Nach der militär. Niederlage Polens zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gliederte die Sowjetunion aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts die 1921 an Polen gefallenen Gebiete wieder der Weißruss. SSR ein (Nov. 1939). 1941-44 von dt. Truppen besetzt, erlitt die Bev. durch den Krieg und den Terror der SS schwere Verluste (rd. 2,7 Mio. Tote, v. a. Juden). Im Gegenzug entwickelte sich eine starke Partisanenbewegung. Der Grenzverlauf zw. Polen und dem weißruss. Territorium entspricht seit der 1945 erfolgten Rückgabe des Gebietes Białystok an Polen der Curzon-Linie. W. war 1945 Gründungsmitgl. der UN. Am 27. 7. 1990 erklärte W. seine Souveränität innerhalb der UdSSR, am 26. 8. 1991 seine Unabhängigkeit. Im Sept. 1991 wurde S. Schuschkjewitsch Parlamentspräs. (Staatsoberhaupt) und der Staatsname in »Rep. W.« (Bjelarus) geändert. Im Dez. 1991 gehörte W. zu den Mitbegründern der GUS. Das nach dem Moskauer Putschversuch 1991 verhängte Verbot der KP in W. wurde 1993 per Parlamentsbeschluss wieder aufgehoben. In dem 1990 (noch z. Z. des Bestehens der UdSSR) berufenen Parlament konnte die altkommunist. Nomenklatura ihre Macht weitgehend erhalten und verhinderte tief greifende wirtschaftlich-gesellschaftl. Reformen. Die Reg. unter MinPräs. W. Kebitsch (seit 1990) nahm Kurs auf die Wiederherstellung einer engen wirtschaftlich-militär. Bindung an Russland; 1993 beschloss das Parlament den Beitritt zum Beistandspakt der GUS. Außenpolitisch kam es zu einer Annäherung an Polen, mit dem W. 1992 einen Nachbarschaftsvertrag abschloss (Bestätigung der bestehenden Grenzen und Einigung über die Rechte der poln. bzw. weißruss. Minderheit). W., auf dessen Territorium ein größeres Atomwaffenarsenal der früheren Sowjetunion lagerte, optierte für eine künftige Atomwaffenfreiheit und ratifizierte im Febr. 1993 den Vertrag über die Reduzierung strateg. Kernwaffen (START). Im Jan. 1994 setzte das Parlament den als Staatsoberhaupt fungierenden, reformorientierten Parlamentspräs. Schuschkjewitsch durch ein Misstrauensvotum ab. Nach Einführung der Verf. wurde im Juli 1994 A. Lukaschenka, ein altkommunist. Verfechter der Orientierung an Russland, zum Staatspräs. gewählt; dieser suchte in der Folgezeit eine Präsidialdiktatur zu errichten und unterdrückte zunehmend die Opposition (u. a. im Aug. 1995 Verbot der freien Gewerkschaften, zunehmende Pressezensur); dennoch kam es immer wieder zu polit. Demonstrationen, aber auch wirtschaftlich-sozial motivierten Streiks. Im Nov. 1996 setzte Lukaschenka gegen heftigen Widerstand ein Verf.referendum durch, das die Einführung eines Zweikammerparlaments sowie eine stärkere Stellung des Präs. autorisierte.
In der Außenpolitik hielt Lukaschenka an der engen Kooperation mit Russland fest (am 2. 4. 1996 Begründung einer russ.-weißruss. »Gemeinschaft Souveräner Republiken«). Die Krise um die Minsker Diplomatensiedlung »Drosdy« (Aufforderung der weißruss. Reg. an Diplomaten, diese zu verlassen) führte im Sommer 1998 seitens der EU-Staaten, ebenso seitens der USA, Japans und Polens zum Abzug ihrer Botschafter und zu einer weitgehenden außenpolit. Isolierung W.s (im Dez. 1998 Beilegung des Streits durch Einlenken der weißruss. Regierung).
Literatur:
Statistischen Bundesamt. Länderbericht Weißrußland, hg. vom Stuttgart 1994.
Holtbrügge, D.: Weißrußland. München 1996.
Förster, H. L.: Von der Diktatur zur Demokratie - und zurück? Eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Systemtransformation am Beispiel der ehemaligen Sowjetrepublik Belarußland. Hamburg 1998.
W. u. der Westen, hg. v. F. Scholz. Dresden 1998.
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