Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Wahlrecht
Wahlrecht,1) die Befugnis, jemanden zu wählen (aktives W., Stimmrecht), sowie die Befähigung, in ein Amt oder Mandat gewählt zu werden (passives W., Wählbarkeit).
2) die Gesamtheit der Vorschriften über die Wahl. Die Rechtsgrundlagen für das W. sind meist in den Verfassungen enthalten, die Einzelheiten, bes. das Wahlverfahren, in Wahlgesetzen und -ordnungen festgelegt.
Die Befugnis zur Wahl knüpft i. d. R. an die Staatsbürgerschaft an. Im Rahmen der EU führte der EG-Vertrag (EGV) 1992 eine Unionsbürgerschaft ein, als deren Folge jeder Unionsbürger in einem Mitgl.staat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem er aber seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive W. bei Kommunalwahlen haben soll; in Dtl. umgesetzt durch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG. Bestrebungen, das W. auch für andere Ausländer (bes. Türken), die ihren Wohnsitz und damit den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen im Gastland haben, zuzulassen, hatten in Dtl. bislang keinen Erfolg. Wahlgrundsätze: 1) allg. W.: alle Staatsbürger, die bestimmten unerlässl. Voraussetzungen genügen (Mindestalter, Besitz des Bürgerrechts, volle Handlungsfähigkeit u. a.), besitzen Stimmrecht; Ggs.: beschränktes W.: die Stimmberechtigung hängt von bestimmten Voraussetzungen hinsichtlich Vermögen, Bildung usw. ab. 2) gleiches W.: alle abgegebenen Stimmen werden gleich bewertet; Ggs.: ungleiches W.: die Stimmen werden abgestuft nach Besitz, Alter u. a., z. B. Dreiklassenwahlrecht, Pluralwahlrecht. 3) direkte Wahl: der Wähler wählt unmittelbar den Abg., Staatspräs. usw.; Ggs.: indirekte Wahl: die Wähler (Urwähler) wählen Wahlmänner, die ihrerseits ihr Votum abgeben (z. B. USA: Wahl des Präs.). 4) geheime Wahl: Abstimmung durch Abgabe verdeckter Wahlzettel; Ggs.: öffentl. (mündl.) Stimmabgabe. 5) freie Wahl: jede Art von Druck auf die Wahlberechtigten von öffentl. oder privater Seite ist untersagt; jeder Wähler wählt freiwillig. In Dtl. gelten für die Wahlen zu allen Volksvertretungen die Grundsätze der allg., unmittelbaren (direkten), freien, gleichen und geheimen Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG).Wahlsysteme: Es wird zw. Mehrheits-, Verhältnis- und Mischwahlsystemen unterschieden. Bei der Mehrheitswahl bestehen u. a. folgende Verfahren: In Einerwahlkreisen (pro Wahlkreis wird ein Abg. gewählt) ist derjenige Kandidat gewählt, der die relative bzw. absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Bei absoluter Mehrheitswahl wird ein 2. Wahlgang erforderlich (Stichwahl; oft zw. den beiden Bestplatzierten), wenn im 1. Wahlgang keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit erreicht. In Mehrfachwahlkreisen (pro Wahlkreis wird eine festgelegte Anzahl von Abg. gewählt) hat bei Persönlichkeitswahl i. d. R. jeder Wähler so viele Stimmen, wie Mandate im Wahlkreis zu vergeben sind. Bei der Verhältniswahl (Proportionalwahl, Listenwahl) stellen die Parteien für das ganze Land (Einheitswahlkreis) Listen auf, zw. denen die Wähler zu entscheiden haben. Mischwahlsysteme kombinieren Mehrheits- und Verhältniswahlsysteme. Die Verhältniswahl will verhindern, dass die in der Minderheit Verbliebenen ohne Einfluss bleiben. Der ihr innewohnenden Gefahr der Stimmen- und Parteienzersplitterung kann bis zu einem bestimmten Grad durch die Sperrklausel vorgebeugt werden, wonach Mandate nur auf solche Listen zugeteilt werden, die einen bestimmten Prozentsatz der Gesamtstimmenzahl erreichen (Fünfprozentklausel).In Dtl. gelten für die Wahl zum Bundestag das Bundeswahl-Ges. (Neufassung vom 23. 7. 1993) und die Bundeswahlordnung. Wahlberechtigt und wählbar ist jeder Deutsche, der das 18. Lebensjahr vollendet hat (Art. 38 Abs. 2 GG). Abstimmen darf nur, wer in der Wählerliste (Stimmliste) des Wahlbezirks eingetragen ist oder einen Wahlschein für die Briefwahl erhalten hat. Aufgrund des Mischwahlsystems hat jeder Wähler zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten, eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste, wobei er mit beiden Stimmen versch. Parteien wählen kann (sog. Splitting). Seit 1985 werden die auf die Parteien entfallenden Mandate auf der Grundlage der Zweitstimmen nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren errechnet, das das bis dahin praktizierte d'hondtsche Höchstzahlverfahren abgelöst hat. Wenn feststeht, wie viele Sitze auf jede Partei entfallen, werden von dieser Gesamtzahl die durch die Erststimmenauszählung bereits gewonnenen Direktmandate abgezogen. Die restl. Sitze werden aus den Landeslisten in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt (Überhangmandat).
Manche Wahl-Ges. (z. B. in Bad.-Württ. für Kommunalwahlen) erlauben dem Wähler eine stärkere Differenzierung seiner Präferenzen. Er kann z. B. so viele Stimmen haben, wie Abg. zu wählen sind, und sie wenigstens z. T. auf einen Bewerber häufen (kumulieren) oder, ohne an die Liste einer Partei gebunden zu sein, versch. Kandidaten verschiedener Listen berücksichtigen (panaschieren).
Eine Nachwahl ist erforderlich, wenn in einem Wahlbezirk die Wahl nicht durchgeführt worden ist oder wenn ein Wahlkreisbewerber nach Zulassung des Kreiswahlvorschlags, aber vor der Wahl, stirbt; eine Wiederholungswahl ist erforderlich, wenn bei der Wahlprüfung eine Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklärt wird.In Österreich und in der Schweiz wird der Nationalrat nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt; in der Schweiz wird das Hagenbach-Bischoff-Verfahren angewandt.
Literatur:
E. Boettcher Landeswahlgesetz, Bezirkswahlgesetz, Landeswahlordnung. Handkommentar, bearb. v. u. R. Högner. München 141994.
Schreiber, W.: Hb. des W. zum Dt. Bundestag. Köln u. a. 51994.
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