Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Wachstum
Wachstum,1) Biologie: an die Lebenstätigkeit der Zellen gebundene irreversible Formveränderung von Organismen, die durch eine bleibende Volumen- und Substanzzunahme bis zu einer genetisch festgelegten Endgröße charakterisiert ist. Das W. beruht auf dem Aufbau körpereigener Substanz und ist daher eine Grundeigenschaft des Lebens; es wird bei mehrzelligen Lebewesen hormonell gesteuert. Bei den Wirbeltieren und beim Menschen z. B. wirken das W.-Hormon Somatotropin und das Schilddrüsenhormon Thyroxin wachstumssteigernd, während die Geschlechtshormone das W. beenden. Bei den höheren Pflanzen wird das W. durch versch. Phytohormone geregelt. Das W. ist in seiner Intensität auch abhängig von äußeren Faktoren (v. a. Ernährung, Temperatur, bei Pflanzen auch Licht). Einzellige Lebewesen wachsen nur durch Zunahme ihrer Masse (Erhöhung der Eiweißkonzentration, der Packungsdichte von Zellorganellen); nach Erreichen einer bestimmten Kern-Plasma-Relation ist das W. abgeschlossen. Bei mehrzelligen Tieren und beim Menschen beruht das W. auf Zellteilung und daraus resultierender Zellvermehrung verbunden mit Plasmaneubildung. Die W.-Geschwindigkeit der einzelnen Organe und Körperteile ist unterschiedlich. - Bei Pflanzen hält das W. die gesamte Lebensdauer über an, bewirkt durch ständig teilungsfähige, undifferenzierte (embryonale) Zellen. Das W. der Pflanzen beruht im Unterschied zu dem der Tiere weniger auf der Zunahme der Zellenzahl als vielmehr auf einer starken Streckung der Zellen.
2) Wirtschaft: (Wirtschaftswachstum) i. w. S. die Zunahme einer wirtsch. Größe (z. B. Sozialprodukt, Umsatz, Staatsausgaben) im Zeitablauf. W. wird i. d. R. angegeben als prozentuale Veränderung im Zeitablauf (W.-Rate). Wenn die betrachtete Größe abgenommen hat und die prozentuale Veränderung negativ ist, spricht man von »Minus-W.« und bei ausbleibender Veränderung entsprechend von »Nullwachstum«. W. ist im wirtsch. und sozialen Leben ein grundlegender und i. d. R. positiv besetzter Begriff. W. des Sozialprodukts wurde lange mit der Zunahme von Wohlstand und Lebensqualität gleichgesetzt. Da das Sozialprodukt hierfür aber nur bedingt als Indikator tauglich ist, wird inzwischen von qualitativem W. gesprochen. Damit kommt zum Ausdruck, dass eine allgemeine Betrachtung oder Verfolgung von W. nicht genügt, sondern dessen Bestimmungsfaktoren und deren Zusammenhang mit anderen Prozessen (z. B. Einkommensverteilung, Umweltqualität) genau untersucht werden müssen. Die W.-Theorie untersucht, von welchen Produktionsfaktoren das W. bestimmt wird und inwieweit der W.-Prozess durch vermehrten Einsatz von Produktionsfaktoren (automatisch) zu einem stabilen Gleichgewicht führt und gesamtwirtschaftlich optimal ist. Die zentrale Rolle der Rendite auf das eingesetzte Kapital (Profitrate) im W.-Prozess wurde von D. Ricardo bereits zu Beginn des 19. Jh. hervorgehoben. K. Marx und A. Schumpeter haben die Wirkung der techn. Neuerungen und des Konkurrenzkampfes auf die Profitrate und das W. untersucht. Insbesondere Schumpeter wies auf die das W. steigernde Wirkung der Produkt- und Verfahrensinnovationen der »Pionierunternehmer« hin. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929-33 wurde bes. deutlich, dass Wirtschafts-W. und Vollbeschäftigung nicht automatisch übereinstimmen. Das hat insbesondere J. M. Keynes belegt und auf die Bedeutung der Nachfrageseite hingewiesen. Für die (post)keynesian. W.-Theorie herrscht ein langfristiges W.-Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung nur dann, wenn die für die Auslastung des wachsenden Produktionspotenzials erforderl. W.-Rate des Sozialprodukts (befriedigende oder gleichgewichtige W.-Rate) mit der durch Bev.wachstum und techn. Fortschritt mögl. W.-Rate (natürl. W.-Rate) übereinstimmt. Liegt die natürl. über der befriedigenden W.-Rate, kommt es zu wachsender Arbeitslosigkeit, da das W. des Produktionspotenzials für die Beschäftigung des Arbeitskräftepotenzials nicht ausreicht. Die neoklass. W.-Theorie untersucht die gesamtwirtschaftl. Produktionsfunktion, die die Abhängigkeit des realen Sozialprodukts vom Arbeits- und Kapitaleinsatz sowie vom techn. Fortschritt angibt. Die W.-Rate des Sozialprodukts hängt demnach von den W.-Raten des Arbeits- und Kapitaleinsatzes, von den Produktionselastizitäten dieser Faktoren und von der W.-Rate des techn. Fortschritts ab. Ein die Beschäftigung sicherndes W. stelle sich ein, sofern die Löhne sinken würden.Aufgabe der W.-Politik ist es, die wirtsch. Rahmenbedingungen so zu gestalten und zu beeinflussen, dass die von der W.-Theorie analysierten W.-Faktoren ungehindert wirksam werden können und die mit dem W. verbundenen strukturellen Wandlungen von der Gesellschaft akzeptiert werden. Das Stabilitäts-Ges. verpflichtet die Bundesreg. für ein »stetiges und angemessenes Wirtschafts-W.« zu sorgen. Die herrschende W.-Politik betrachtet W. als wesentl. Voraussetzung für die Beseitigung von Armut und die Vermehrung von Wohlstand, Erhöhung der Beschäftigung, Schaffung des Potenzials zur Beseitigung und Verhinderung von Umweltschäden, Förderung eines sozialverträgl. Strukturwandels, bessere Versorgung mit kollektiven Gütern (v. a. techn. und soziale Infrastruktur), Bekämpfung von Unterentwicklung. Die am wirtsch. Liberalismus orientierte W.-Politik hält sich mit Eingriffen in den Wirtschaftsprozess möglichst zurück, um die Wirksamkeit des Marktmechanismus nicht zu stören. Demgegenüber steht die Auffassung, dass der Staat mit (marktkonformen) Mitteln vermehrt in den Wirtschaftsprozess eingreifen müsse, um die Entwicklung im Sinne eines qualitativen W. zu fördern, nicht zuletzt deswegen, weil externe Kosten (wie z. B. die Luftverschmutzung durch den Verkehr) im Preismechanismus nicht wirksam werden. In der W.-Diskussion der letzten Jahre über qualitatives W. wurde auf die Notwendigkeit der Dezentralisierung von Produktions- und Konsumstrukturen und von alternativen Lebensstilen in den Industrieländern hingewiesen. Der Zusammenhang von W. und Umweltverträglichkeit wird auch unter dem Begriff nachhaltige Entwicklung analysiert.
Literatur:
Krelle, W.: Theorie des wirtsch. W. Berlin u. a. 21988.
Kromphardt, J.: W. u. Konjunktur. Göttingen 31993.
Die Grenzen des W. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Beiträge v. D. Meadows u. a. A. d. Amerikan. Stuttgart 161994.
Zinn, K.-G.: Konjunktur u. W. Aachen 21995.
Ruschinski, M.: Neuere Entwicklungen in der W.-Theorie. Wiesbaden 1996.
Wagner, H.: W. u. Entwicklung. München u. a. 21997.
Weizsäcker, E. U. von u. a.: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand - halbierter Naturverbrauch. Neuausg. München 1997.
Majer, H.: W.wachstum u. nachhaltige Entwicklung. München u. Wien 31998.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: Wachstum