Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
vietnamesische Literatur
vietnamesische Literatur[viɛt-]. Die Mehrzahl der Gattungen und Genres der Van hoc dan gian (Volksliteratur) ist in Reimform überliefert, so das Cheo (Volkstheater), das Mua roi nuoc (Wassermarionettentheater), der intonierte Sinn- oder Lehrspruch, der alternierend vorgetragene Liebesgesang sowie z. T. auch die Fabel und das Märchen. Bis in das 20. Jh. wird in der v. L. zwischen Van hoc mieng (mündl. Literatur) und Van hoc bac hoc (Gelehrtenliteratur) unterschieden. Mit der Überwindung der 1000-jährigen chines. Herrschaft (111 v. Chr.-10. Jh. n. Chr.) und der Gründung des ersten vietnames. Staates (939) entwickelte sich eine eigenständige v. L. Vom 10. bis Anfang des 15. Jh. wurde die Gelehrtenliteratur fast ausschl. in chines. Sprache (chu Han) verfasst, obgleich eine vietnames. Schriftsprache (chu Nom) seit dem 13. Jh. existierte. Erhalten geblieben sind religiöse Texte, Verse, eine Geschichte in 30 Bänden sowie Legenden, Sagen, histor. Berichte und Biographien. Eine erste Blüte erlebte die v. L. nach dem Sieg über die Armee der Ming-Dynastie (1428) und mit der Einführung des Konfuzianismus als Staatsdoktrin. Literaten wie Nguyen Trai schrieben in chines. und vietnames. Sprache. Das Gattungssystem, bestehend aus Versliteratur, Parallelliteratur (Mischung zw. Vers und Prosa) und Prosa, stabilisierte sich und trat in fast allen Genres, außer in denen der Prosa, zweisprachig auf. Bed. ist das Werk »Bach Van am thi tap« (Gedichtsammlung in der Pagode »weiße Wolke«) von Nguyen Binh Khiem; im 17. Jh. entstand mit über 8 000 Verszeilen das umfangreichste Werk der v. L. in chu Nom »Thien Nam ngu luc« (Annalen des göttl. Südens). Die unterdrückte Stellung der Frau, die Scheinheiligkeit der Mönche und Heuchelei der Beamten waren wichtige Themen der v. L. des 18. Jh. (Doan Thi Diem, Ho Xuan Huong). Der Versroman (als Volks- und Gelehrtenroman) war die beliebteste Gattung des 18. und 19. Jh. Das bis dahin bedeutendste Sittengemälde und eines der sprachlich schönsten Werke war der Versroman »Truyen Kieu« (dt. »Das Mädchen Kieu«; Anfang des 19. Jh.) von Nguyen Du. Im 20. Jh. kam es v. a. durch europ. Einflüsse zu einer völligen Veränderung des vietnames. Gattungssystems. Vers- und Parallelliteratur wurden durch eine moderne Epik und Dramatik verdrängt. Die Sprengung der strengen Regeln der Dichtkunst ließ auch eine neue Lyrik entstehen. Diese Prozesse waren etwa mit Beginn der 30er-Jahre abgeschlossen. Neue literar. Methoden, die sich in realist., romant. und revolutionären Strömungen und Bewegungen niederschlugen, trugen zur Herausbildung einer modernen v. L. bei. Wichtige Vertreter der vielfältigen v. L. in den 30er- und 40er-Jahren waren Nguyen Cong Hoan, Khai Hung und To Huu. In der Zeit des Vietnamkrieges dominierten Lyrik und Kurzformen der Epik. Themen und Methoden waren fast ausschließlich auf den Befreiungskrieg und die Herausbildung des »neuen« Menschen im Sozialismus ausgerichtet. Auch in Süd-Vietnam fand die moderne Literaturentwicklung keine Fortführung. Erst seit den 80er-Jahren erhielt die v. L. durch Schriftsteller wie Le Luu, Ma Van Khang, Nguyen Huy Thiep und Duong Thu Huong neue Impulse, v. a. durch die krit. Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
Literatur:
Durand, M. M.u. Nguyen Trân-Huân: An introduction to Vietnamese literature. New York 1985.
BI-Lexikon ostasiat. Literaturen, hg. v. J. Berndt. Leipzig 21987.
Lies, U.: Literaturakademie der 28 Sterne. Der vietnames. Roman. 1 000 Jahre Literaturtradition in Geschichte u. Theorie. Unkel u. a. 1991.
Nguyên Dình Thâm: Studies on Vietnamese language and literature. A preliminary bibliography. Ithaca, N. Y., 1992.
Southeast Asian languages and literatures, hg. v. E. U. Kratz. London 1996.
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