Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Völkerwanderung
Völkerwanderung,1) i. w. S. die seit Ende des 3. Jt. v. Chr. auftretenden Wanderungen ganzer Völker oder Stämme, durch Landnot, Klimawechsel oder Einfall fremder Völker hervorgerufen (z. B. die dor. Wanderung im 12. Jh. v. Chr.; die kelt. Wanderungen im 7. und 4./3. Jh. v. Chr.).
2) i. e. S. die Züge der überwiegend german. Stämme und Völker nach S- und W-Europa, die ihren Höhepunkt im 4.-6. Jh. n. Chr. fanden und zu Reichsbildungen auf dem Boden des auseinander brechenden Röm. Reiches führten. Frühe german. Wanderungen gab es bereits vor der Zeitenwende (Bastarnen im 3. Jh. v. Chr., Kimbern und Teutonen im 2. Jh. v. Chr.). Mit ihrer Abwanderung von der Weichselmündung zum Schwarzmeerraum lösten die Goten im 2. Jh. n. Chr. eine weitere größere Völkerverschiebung aus (Germanen); wegen des sich verstärkenden Drucks auf die röm. Grenzen wurden dort german. Völkerschaften als röm. Bundesgenossen (»Foederaten«) angesiedelt.
Die eigentl. V. wurde erst mit dem Einbruch der Hunnen nach S-Russland (375 Unterwerfung der Ostgoten) ausgelöst. Aber erst in den folgenden Jahrzehnten bewirkte er nach und nach die Abwanderung auch geschlossener Volksstämme, von denen sich einige zu »Wanderbünden« zusammentaten (406 Wandalen, Alanen, Sweben). Die Westgoten fielen ins Oström. Reich ein (Niederlage von Kaiser Valens bei Adrianopel 378), zogen unter Alarich (395-410) nach Italien (410 Eroberung Roms) und errichteten 418/419 zw. Pyrenäen und Loire das Tolosan. Reich, das unter Eurich (466-484) die Iber. Halbinsel zu erobern begann. Anders als die Sweben, die ihre Herrschaft von Callaecia (Galicien) aus bis 585 gegen die Westgoten behaupteten, wanderten Wandalen und Alanen 429 unter König Geiserich (428-477) nach N-Afrika aus, das sie bis 439 eroberten. 413 nahmen Burgunder das Gebiet um Worms und Speyer in Besitz, wurden jedoch 436 von hunn. Truppen im Auftrag des Aetius besiegt und 443 in der Sapaudia (heute Savoyen) angesiedelt. Angeln, Sachsen und Jüten nahmen Mitte des 5. Jh. Britannien ein. Das Hunnenreich brach nach dem Tod KönigAttilas (453) zusammen. Die Ostgoten fielen 488 in Italien ein und errichteten unter Theoderich d. Gr. das Ostgotenreich (493). Zwar beseitigten die byzantin. Feldherren Belisar und Narses das Wandalenreich (533/534) und das Ostgotenreich (552), doch konnte Byzanz nicht verhindern, dass die Langobarden unter König Alboin (um 565-572) 568 in N-Italien einfielen (Langobardenreich bis 774). Die Franken unter Chlodwig I., die 486 das röm. Restreich des Syagrius in Gallien beseitigt hatten, verdrängten die Westgoten des Tolosan. Reiches 507 nach Spanien, wo sich diese bis 711 behaupteten. Dem Fränk. Reich wurden 531 auch das Thüringerreich und 532-534 das Burgunderreich einverleibt. Zu den Ergebnissen der german. V. gehören die tief greifenden Bevölkerungsumgruppierungen in ganz Europa, die mitverantwortlich für das Ende des Röm. Reichs 476 waren. Es ergab sich eine Westverlagerung der Germanen und der nachdrägenden Slawen. Neben dem Westgotenreich auf der Iber. Halbinsel war nur den Staatsgründungen der Franken, Angelsachsen und Langobarden auf dem Gebiet des ehemaligen röm. Reichs eine längere Lebensdauer beschieden.
Literatur:
Machatschke, R.: V. Von der Antike zum Mittelalter. Die Wandlung des röm. Reichs u. das Werden Europas. Wien 1994.
Martin, J.: Spätantike u. V. München 31995.
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