Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Vertreibung
Vertreibung, die mit Drohung oder Gewalt bewirkte Ausweisung oder (Zwangs-)Umsiedlung einer Bev. oder eines Bev.teils (v. a. Minderheiten) aus ihrer Heimat über die Grenzen des vertreibenden Staates hinweg; bei der Deportation oder Verschleppung (Grenzen zur V. fließend) kommt es hingegen i. d. R. nicht zum Verlassen des Machtbereichs des deportierenden Staates (z. B. eine fremde Besatzungsmacht; sie kann aber auch Grenzen überschreiten, wenn sie z. B. von den Besatzungstruppen zur Rekrutierung von Zwangsarbeitern durchgeführt wird). - Die V. der eigenen Staatsangehörigen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ein Verstoß gegen Menschenrechte (v. a. dann, wenn sie mit dem Entzug von Staatsbürgerrechten verbunden ist); die grenzüberschreitende V. ist völkerrechtswidrig. Die V. fremder Staatsangehöriger, d. h. der Zivilbev. aus einem besetzten Gebiet, stellt einen Verstoß gegen Art. 49 des Genfer Abkommens zum Schutz der Zivilbev. von 1949 dar. Die vorübergehende Räumung eines besetzten Gebietes aus militär. Gründen kann zulässig sein. - Die V. basiert häufig auf Bestrebungen, sprachl. und ethn.(-religiöse) Übereinstimmung im Staatsgebiet herzustellen, v. a. im Gefolge von Kriegen und im Zuge der Entkolonialisierung (wobei die Grenzen zw. V. und Flucht fließend sind): z. B. die Zwangsumsiedlung von Türken und Griechen nach dem Grch.-Türk. Krieg 1919-22, von Hindus und Muslimen bei der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans 1947, die V. der Palästinenser aus Palästina 1948/49, die Ausweisung der (wirtsch. führenden) ind. Minderheit aus Uganda 1972, die V. der Mescheten durch Usbeken (1989/90) oder die so genannten ethn. Säuberungen nach dem Zerfall Jugoslawiens (Kroatien 1991, Bosnien-Herzegowina 1992-95, in der serb. Prov. Kosovo 1998/99). - Aussiedlung, Flucht, Verschleppung und V. gibt es in der Menschheitsgeschichte seit sich soziale Gruppen in Gesellschaften organisierten, Herrschaftssysteme aufbauten und zerstörten, Kriege miteinander führten und fremde Territorien eroberten. Absolute Herrschaftsansprüche unter verschiedenen ideolog. Vorzeichen, religiöse Intoleranz, Kriege und Konkurrenzkämpfe um sich verringernde Ressourcen (Land, Wasser, Energie, Rohstoffe) waren immer begleitet von der V. konkurrierender Gruppen. Einheits- und Homogenitätsideologien bedrohten das Bleiberecht von ethnisch-kulturellen Minderheiten. In der ersten Hälfte des 20. Jh. waren durch V. ausgelöste Massenzwangswanderungen noch schwerpunktmäßig auf Europa bzw. Randeuropa konzentriert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) verlagerte sich der Schwerpunkt von Flucht und V. in die im Zuge der Entkolonialisierung entstehende Dritte Welt, bis der Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens in Europa eine neue Welle auslöste (ab 1991). Ende des 20. Jh. zeichnen sich mit Hunger- und Umweltkatastrophen neue Quellen von V. ab, die mehr Menschen inner- und zwischenstaatlich und sogar interkontinental vertreiben, als es bisher Kriege, ethn. Konflikte oder Diktaturen getan haben.Die auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam festgelegte Aussiedlung der Deutschen aus den ehem. deutschen Ostgebieten und den dt. Siedlungsgebieten im Ausland (bei Kriegsende etwa 16,6 Mio.; nur etwa 2,5 Mio. verblieben in ihrer alten Heimat) entwickelte sich in der prakt. Durchführung zur opferreichen V. Diese muss aber als Teilgeschehen des Zweiten Weltkriegs, der rund 50 Mio. Menschen aus ihren Heimatgebieten vertrieb und damit die bisher größte V. in der Weltgeschichte auslöste, begriffen werden. Sie erfolgte in mehreren Etappen. Schon in der Endphase des Zweiten Weltkriegs kam es beim Vormarsch der sowjet. Truppen im Frontbereich ab Okt. 1944 zur Evakuierung bzw. Flucht der Hälfte der dt. Bev. in den Ostgebieten des Dt. Reiches und eines Großteils der dt. Bev. in den dt. Siedlungsgebieten im Ausland. Denn die siegreiche Rote Armee »rächte« sich an der Zivil-Bev. des Kriegsgegners mit Plünderungen, Misshandlungen, Erschießungen und Vergewaltigungen; es kam zur Ausrottung ganzer Dörfer (z. B. Nemmersdorf in Ostpreußen). Die Zustände auf den Flüchtlingstrecks waren häufig geprägt durch Hunger, Seuchen und vielfachen Tod infolge Kälte und Erschöpfung (bes. tragisch: die Vorgänge auf der »Wilhelm Gustloff« am 30. 1. 1945). Im Dez. 1944 begann die gezielte Deportation von Deutschen aus Südsiebenbürgen, Ungarn und Jugoslawien zur Zwangsarbeit in die UdSSR. In Polen wurden nach einem Dekret vom 4. 11. 1944 alle Deutschen in Zwangsarbeitslagern interniert. Schon im März 1945 setzten erste Ausweisungen ein. Im Sommer 1945 begann mit der ersten (ungeregelten) V.-Welle die fast vollständige Ausweisung bzw. teilweise Zwangsumsiedlung der dt. Bev. östlich der Oder-Neiße-Linie und in SO-Europa (am grausamsten in Jugoslawien); gleichzeitig fanden Massenaustreibungen der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei statt (wobei der kleinere Teil nach Österreich ging). Trotz der Verfügung von Artikel VIII des Potsdamer Abkommens vom 2. 8. 1945, die »Überführung« in »geordneter und humaner Weise« und erst nach Aufstellung eines Ausweisungsplans durch den Alliierten Kontrollrat vorzunehmen, erfolgte die V. zunächst weiter ungeregelt und wurde begleitet von unzähligen Verbrechen. Seit dem »Überführungsplan« (17. 10. 1945) auch in geschlossenen Transporten durchgeführt, waren die systemat. Massenausweisungen i. Allg. 1947 abgeschlossen; am 20. 11. 1945 hatte der Alliierte Kontrollrat die Aufnahmequoten der dt. Besatzungszonen festgelegt. Später kam es noch zur V. von »Volksdeutschen« aus dem ehem. poln. Staatsgebiet und aus dem an die UdSSR gefallenen Ostpreußen. - Bis 1950 sind etwa 12,5 Mio. Deutsche vertrieben worden, davon etwa 7,9 Mio nach West-Dtl. und 4,4 Mio. in die SBZ/DDR. Etwa 2,1 Mio. Deutsche fanden 1944-49 den Tod, die Verluste der nach O deportierten Russlanddeutschen nicht eingerechnet. - Auch ein Großteil der in den V.s-Gebieten zunächst verbliebenen Deutschen übersiedelte ab 1951 in die Bundesrep. Dtl. (Aussiedler).
Literatur:
Trautmann, W.: Tod u. Gewalt. Die V. als völkerrechtl., polit., eth., soziales u. geschichtl. Problem. Tübingen 1989.
Nuscheler, F.: Internat. Migration - Flucht u. Asyl. Opladen 1995.
De Zayas, A. M.: Die Angloamerikaner u. die V. der Deutschen. Frankfurt am Main u. Berlin 81996.
Die V. der Deutschen aus dem Osten, hg. v. W. Benz. Neuausg. Frankfurt am Main 1995.
Schneiss, W.: Flucht, V. u. verlorene Heimat im früheren Ost-Dtl. Bern u. a. 1996.
Nawratil, H.: Schwarzbuch der V. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit. München 1999.
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