Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Vergangenheitsbewältigung
Vergangenheitsbewältigung,Begriff der politisch-sozialen Sprache, der zunächst die Auseinandersetzung der dt. Gesellschaft sowie ihrer Institutionen mit den Verbrechen der nat.-soz. Herrschaft thematisiert. In diesem Verständnis ist er eng an die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrep. Dtl. und an die Debatten geknüpft, in denen dieses Selbstverständnis der (west)dt. Nachkriegsgesellschaft sich im Hinblick auf die Erfahrungen und Resultate der nat.-soz. Herrschaft gebildet hat (Gewaltherrschaft, Völkermord, Kriegsschuld und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Rassismus, Denunziantentum und Verrat), nach 1945 auch auf Vertreibung und staatl. Teilung (und die damit verbundenen Schuldfragen). Erneute Aktualität hat der Begriff in den 1990er-Jahren dadurch gewonnen, dass mit dem Zusammenbruch der DDR auch die Notwendigkeit und die Chance verbunden waren, das in diesem Rahmen begangene Unrecht aufzuklären, möglicherweise zu sühnen oder wiedergutzumachen; in diesem Zusammenhang wurden Parallelen zum Umgang mit der nat.-soz. Schuld in West-Dtl. nach 1945 gezogen.
Auch in anderen Gesellschaften spielen die dem Begriff V. zugrunde liegende Denkfigur (ein Kollektiv und die ihm zugehörigen Individuen sehen sich einer teils im Namen dieses Kollektivs, teils von Einzelnen begangenen Schuld gegenüber, die Sühne bzw. Anerkenntnis fordert) sowie die histor. Erfahrung, dass ein Rechtssystem als Nachfolger eines Unrechtssystems seine Legitimation auch in der Aufarbeitung vorangegangenen Unrechts zeigen muss, eine wichtige Rolle, z. B. in Japan, Südafrika, Chile, Argentinien, Kambodscha, Ruanda, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien (Kosovo), allg. in den Transformationsgesellschaften Osteuropas nach dem Zusammenbruch der kommunist. Systeme.
Indem V. die Vorstellung einer gemeinsam zu verantwortenden Schuld und den Anspruch an die Aufarbeitung dieser Schuld durch ein i. d. R. staatlich organisiertes Kollektiv umfasst und jeweils mögl. Rechtssetzungen auch auf diesen Rahmen bezieht, also auf metaphys. Rechtfertigungen ebenso verzichtet wie auf den Gedanken göttl. Gerechtigkeit oder Rache, lässt sich V. als spezifisch neuzeitl., auf innerweltl. Handeln bezogener Begriff verstehen. Indem er auf die Verwirklichung universaler Prinzipien (Menschenrechte, Vorstellungen eines grundlegend akzeptierten Völkerrechts) zielt, geht der damit verbundene Anspruch allerdings über die konkrete Gemeinschaft hinaus.
Begriffsgeschichte: Wohl von H. Heimpel geprägt, fand der Begriff im Laufe der 1950er-Jahre bei anderen Historikern, bes. aber durch Bundespräs. T. Heuss, breite Aufmerksamkeit. Seine Unschärfe ermöglichte es allerdings, das Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht nur unter den verschiedensten Zielsetzungen und Perspektiven zu bestimmen, sondern diesen Bezug gänzlich zu verwischen, indem die »Last der Vergangenheit« nicht als Belastung der Opfer, sondern als eine Bedrückung gesehen werden konnte, deren sich Täter (und Mitläufer) in Form einer »Bewältigung« des Vergangenen zu entledigen hatten.
An konkurrierenden Vorschlägen (z. B. der an das psychoanalyt. Konzept der Bearbeitung von Schuldkomplexen angelehnte Begriff »Aufarbeitung der Vergangenheit«, T. W. Adorno) und Präzisierungsversuchen hat es nicht gefehlt. K. Jaspers bestimmte fünf Ebenen der Bearbeitung eines kollektiv zu verantwortenden Unrechts: 1) die Bestrafung individuell zurechenbarer krimineller Schuld durch die Justiz, 2) die Möglichkeit, erlittenes Unrecht und Verluste durch finanzielle Hilfen bzw. Anerkennung dieses Unrechts »wieder gut zu machen«, 3) die Zielsetzung, mithilfe polit. Maßnahmen und verfassungsmäßiger Sicherungen die Wiederkehr eines Unrechtssystems zu verhindern, 4) das Bemühen, durch histor. Erforschung sowie pädagog. und psycholog. Bearbeitung des Unrechts Individuen und Gruppen für das Geschehene zu sensibilisieren und gegen erneute Aufforderungen zu Unrecht und Gewalt zu immunisieren, 5) die Entwicklung und Förderung einer entsprechenden polit. Kultur. Eine solche »Erinnerungskultur« (P. Reichel) begründet ihr Selbstverständnis nicht aus der Leugnung der Verbrechen der Vergangenheit (Revisionismus), ihrer Einbettung in übergreifende Strukturen und Ereignisgeschichten (Historisierung), ihrer Aufrechnung gegen anderes Unrecht (z. B. nat.-soz. Verbrechen gegen Vertreibung) oder aus einer der Generationenfolge zu dankenden Unverantwortlichkeit (»späte Geburt«), sondern aus der Anerkennung der Verbrechen, die stattgefunden haben, und sucht in der Reflexion auf die daraus resultierende Verstörung einen Anspruch auf verantwortl. Handeln im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie für die Gegenwart und Zukunft zu entwickeln (P. Steinbach). Jüngste Diskussionen (z. B. um die Wehrmachtsausstellung oder die Goldhagen-Debatte), aber auch neuere Publikationen zu den Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden (S. Courtois u. a.: »Das Schwarzbuch des Kommunismus«, 1997), belegen einserseits ein lebendiges Interesse an der Aufarbeitung von Vergangenheit und die weitgehende Anerkennung der Notwendigkeit, sich den Schuldfragen zu stellen, andererseits eine die Pluralisierung von Werten spiegelnde differenzierte Öffentlichkeit, die auch hinsichtlich des Umgangs mit Trauer, Schuld, Verantwortung, Vergessen und Erinnerung so unterschiedlich ist, dass von einer uniformen »Erinnerungskultur« weder als Tatsache noch als Zielvorgabe ausgegangen werden kann.
Literatur:
Jaspers, K.: Lebensfragen der dt. Politik. München 1963.
Steinbach, P.: Nat.-soz. Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der dt. Öffentlichkeit nach 1945. Berlin 1981.
Kielmannsegg, P. Graf: Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nat.-soz. Vergangenheit. Berlin 1989.
Grosser, A.: Die Ermordung der Menschheit. Der Genocid im Gedächtnis der Völker. A. d. Frz. München 1990.
Herbert, U. u. Groehler, O.: Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden dt. Staaten. Hamburg 1992.
Amnestie oder Die Politik der Erinnerung in der Demokratie, hg. v. Gary Smith u. A. Margalit. Frankfurt am Main 1997.
Schwan, G.: Politik u. Schuld. Die zerstörer. Macht des Schweigens. Frankfurt am Main 1997.
Mitscherlich, A. u. Mitscherlich, M.: Die Unfähigkeit zu trauern. München 151998.
Frei, N.: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik u. die NS-Vergangenheit. Neuausg. München 1999.
V. am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, hg. v. H. König u. a. Opladen 1999.
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