Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
ungarische Literatur
ụngarische Literatur,die Literatur in ungar. Sprache. Mündlich überlieferte Märchen, Sagen und Lieder lassen auf eine nennenswerte Volksdichtung der Ungarn in vorchristl. Zeit (vor 1000 n. Chr.) schließen. Die Christianisierung führte zum Untergang dieser Dichtung. So sind Übersetzungen geistl. Texte aus dem Lateinischen erste Zeugnisse in ungar. Sprache; wichtigster Vertreter der lat. Dichtung war der Humanist J. Pannonius. Mit der Reformation ging eine starke Belebung und Kultivierung der ungar. Sprache einher; 1590 erschien eine Bibel in vollständiger Übersetzung von K. Károlyi. Einen ersten Höhepunkt erreichte die u. L. in der Lyrik des Renaissance-Dichters B. Balassi. Der geistige Führer der Gegenreformation, P. Pázmány, schuf in seinen polem. Schriften einen neuen barocken Stil. Dichter des ungar. Barock waren M. Zrínyi, Verfasser des an antiken und italien. Mustern orientierten Heldenepos »Der Fall von Sziget« (1651), und I. Gyöngyösi. Die Ideen der Aufklärung lösten in der Regierungszeit Maria Theresias und Josephs II. eine starke Belebung der Lit. aus, doch verhinderte die Niederschlagung der Verschwörung der ungar. Jakobiner (1794) ihre weitere Verbreitung. Die u. L. der Folgezeit stand im Zeichen von Innerlichkeit und ständ. Patriotismus. Der Spracherneuerer F. Kazinczy setzte klassizist. Ideale durch. D. Berzsenyi verfasste Oden und Elegien nach antiken Mustern, F. Kölcsey schrieb pessimist. und patriot. Lyrik, polit. und literar. Essays, M. Csokonai Vitéz wandte sich der Volkspoesie zu; er wurde, wie J. Katona mit seinem Drama »Bánk bán« (1821), erst nach seinem Tod gewürdigt. Im ungar. Vormärz war der Romantiker M. Vörösmarty die führende Dichtergestalt. Mit dem gehobenen Stil der ständ. Romantik brach S. Petőfi, der mit unkonventioneller Natur- und Stimmungslyrik sowie mit seinen revolutionären Gedichten eine neue Stilepoche einleitete. Neben Vörösmarty und Petőfi war J. Arany die dritte Hauptgestalt der nat. Klassik; der bäuerliche Held seiner »Toldi«-Trilogie (1846-79) gilt als Idealbild des ungar. Volkscharakters.
Neben J. Eötvös und Z. Kemény mit histor. und Tendenzromanen steht M. Jókai, der sich durch seine heute noch wirksame Fabulierkunst und romant. Fantasie auszeichnet. Im dramat. Werk I. Madáchs kündigte sich bereits die Problematik des beginnenden bürgerl. Zeitalters an. Weiterhin traditionsgebunden schrieben die Erzähler K. Mikszáth und G. Gárdonyi. Die revolutionäre Tradition nach Petőfi hielt der Lyriker J. Vajda wach.Mit der politisch radikalen und sprachlich eigenwillig verschlüsselten Lyrik von E. Ady begann die Moderne. Sammelpunkt der neuen Autoren war die 1908 gegr. liberale Zeitschrift »Nyugat« (Westen). Die namhaftesten Vertreter der literar. Erneuerung neben Ady waren F. Molnár mit seinen geistvoll-krit. Erzählungen, G. Krúdy mit impressionist. Romanen und Novellen, der naturalist. Erzähler Z. Móricz sowie die Lyriker M. Babits und D. Kosztolányi. Während sich in den 1930er-Jahren die unpolit. Autoren um Babits sammelten, spalteten sich die engagierten Schriftsteller in zwei Richtungen: D. Szabó war der Verkünder einer völk. Ideologie. Auf der anderen Seite standen u. a. der proletar. Lyriker A. József sowie der sozialkrit. Erzähler L. Nagy, der eine Art Neuer Sachlichkeit in die u. L. einführte; ebenfalls zu den linksorientierten Schriftstellern gehörten L. Kassák und T. Déry, die sich in allen avantgardist. Richtungen ihrer Zeit versuchten. Der ungar. Volkskultur verpflichtet waren G. Illyés und L. Németh. In der Zwischenkriegszeit erschien u. a. der erste Gedichtband des Lyrikers S. Weöres. Von der siebenbürg. Landschaft geprägte Erzählungen schrieb A. Tamási.Der Zusammenbruch des alten Ungarn 1945 samt seinen politisch-gesellschaftl. Folgen veränderte die u. L. grundlegend. Einer bis 1948 andauernden, allen zeitgenöss. Geistesströmungen gegenüber noch offenen Übergangsperiode folgte eine Zeit der stalinist. Restriktionen. Einziges literar. Ereignis der frühen 50er-Jahre war das Auftreten des Lyrikers F. Juhász. Intellektuelle Führer des Petőfi-Klubs und damit des Budapester Aufstandes 1956 waren u. a. G. Lukács, T. Déry und G. Hay. Erst einige Zeit nach dem gescheiterten Volksaufstand entwickelte sich eine neue, krit. Geistigkeit. Die am Anfang der 1960er-Jahre auftretende Autorengeneration (E. Fejes, F. Sánta, T. Cseres; S. Somogyi-Tóth, I. Mándy, I. Csurka, Magda Szabó) vollzog jene zeitgeschichtl. Bestandsaufnahme, die der im Sinne des sozialist. Realismus indoktrinierten Lit. nicht gelingen konnte. Nicht direkt sozialkritisch, eher individualpsychologisch bemerkenswert sind die dem Existenzialismus nahe stehenden Romane von G. Ottlik und M. Mészöly. Die ersten ausgereiften und eigenwilligen surrealist. oder der Lit. des Absurden zugewandten Prosatexte der u. L. verfassten in dieser Zeit T. Tardos und I. Örkény. Die seit dem Ende der 1960er-Jahre in den Vordergrund tretenden Autoren brachen nicht nur mit den jahrzehntelang obligaten politisch-weltanschaul. Denkschemata, sondern auch mit allen traditionell-realist. Stilidealen; dies gilt für P. Esterházy, D. Tandori, G. Konrád. Daneben vertreten L. Nagy, S. Csoóri, G. Petri, P. Nádas und L. Krasznahorkai die u. L. der Gegenwart.
▣ Literatur:
Sivirsky, A.: Die u. L. der Gegenwart. Bern u. a. 1962.
⃟ Szerb, A.: Ungar. Literaturgeschichte, 2 Bde. A. d. Ungar. Youngstown, Oh., 1975.
⃟ Handbuch der u. L., hg. v. T. Klaniczay. A. d. Ungar. Budapest 1977.
⃟ Vom Besten der alten u. L., 11. bis 18. Jh., hg. v. T. Klaniczay. Budapest 1978.
⃟ Lit. Ungarns 1945 bis 1980. Einzeldarstellungen, Beiträge v. M. Szabolcsi u. a. Berlin (Ost) 1984.
⃟ Czigány, L.: The Oxford history of Hungarian literature. Neuausg. Oxford 1986.
⃟ A journey into history. Essays on Hungarian literature, hg. v. M. M. Nagy. New York u. a. 1990.
⃟ »Kakanien«. Aufsätze zur österreich. und u. L., Kunst u. Kultur um die Jahrhundertwende, hg. v. E. Thurnher u. a. Budapest 1991.
⃟ György, D.: Vom Propheten zum Produzenten. Zum Rollenwandel der Literaten in Ungarn u. Osteuropa. Wien 1992.
⃟ Hungarian literature, hg. v. E. Molnár Basa. New York 1993.
⃟ Rübberdt, I.: Einheit im Widerstreit. Zur ungarischen Moderne u. Avantgarde. Budapest 1993.
⃟ Chinezu, I.: Aspects of Transylvanian Hungarian literature. Klausenburg 1997.
⃟ Haldimann, E.: Momentaufnahmen aus dreißig Jahren U. L. Budapest 1997.
⃟ Rónay, L.: Abriß der ungarischen Literaturgeschichte. A. d. Ungar. Budapest 1997.
Neben J. Eötvös und Z. Kemény mit histor. und Tendenzromanen steht M. Jókai, der sich durch seine heute noch wirksame Fabulierkunst und romant. Fantasie auszeichnet. Im dramat. Werk I. Madáchs kündigte sich bereits die Problematik des beginnenden bürgerl. Zeitalters an. Weiterhin traditionsgebunden schrieben die Erzähler K. Mikszáth und G. Gárdonyi. Die revolutionäre Tradition nach Petőfi hielt der Lyriker J. Vajda wach.Mit der politisch radikalen und sprachlich eigenwillig verschlüsselten Lyrik von E. Ady begann die Moderne. Sammelpunkt der neuen Autoren war die 1908 gegr. liberale Zeitschrift »Nyugat« (Westen). Die namhaftesten Vertreter der literar. Erneuerung neben Ady waren F. Molnár mit seinen geistvoll-krit. Erzählungen, G. Krúdy mit impressionist. Romanen und Novellen, der naturalist. Erzähler Z. Móricz sowie die Lyriker M. Babits und D. Kosztolányi. Während sich in den 1930er-Jahren die unpolit. Autoren um Babits sammelten, spalteten sich die engagierten Schriftsteller in zwei Richtungen: D. Szabó war der Verkünder einer völk. Ideologie. Auf der anderen Seite standen u. a. der proletar. Lyriker A. József sowie der sozialkrit. Erzähler L. Nagy, der eine Art Neuer Sachlichkeit in die u. L. einführte; ebenfalls zu den linksorientierten Schriftstellern gehörten L. Kassák und T. Déry, die sich in allen avantgardist. Richtungen ihrer Zeit versuchten. Der ungar. Volkskultur verpflichtet waren G. Illyés und L. Németh. In der Zwischenkriegszeit erschien u. a. der erste Gedichtband des Lyrikers S. Weöres. Von der siebenbürg. Landschaft geprägte Erzählungen schrieb A. Tamási.Der Zusammenbruch des alten Ungarn 1945 samt seinen politisch-gesellschaftl. Folgen veränderte die u. L. grundlegend. Einer bis 1948 andauernden, allen zeitgenöss. Geistesströmungen gegenüber noch offenen Übergangsperiode folgte eine Zeit der stalinist. Restriktionen. Einziges literar. Ereignis der frühen 50er-Jahre war das Auftreten des Lyrikers F. Juhász. Intellektuelle Führer des Petőfi-Klubs und damit des Budapester Aufstandes 1956 waren u. a. G. Lukács, T. Déry und G. Hay. Erst einige Zeit nach dem gescheiterten Volksaufstand entwickelte sich eine neue, krit. Geistigkeit. Die am Anfang der 1960er-Jahre auftretende Autorengeneration (E. Fejes, F. Sánta, T. Cseres; S. Somogyi-Tóth, I. Mándy, I. Csurka, Magda Szabó) vollzog jene zeitgeschichtl. Bestandsaufnahme, die der im Sinne des sozialist. Realismus indoktrinierten Lit. nicht gelingen konnte. Nicht direkt sozialkritisch, eher individualpsychologisch bemerkenswert sind die dem Existenzialismus nahe stehenden Romane von G. Ottlik und M. Mészöly. Die ersten ausgereiften und eigenwilligen surrealist. oder der Lit. des Absurden zugewandten Prosatexte der u. L. verfassten in dieser Zeit T. Tardos und I. Örkény. Die seit dem Ende der 1960er-Jahre in den Vordergrund tretenden Autoren brachen nicht nur mit den jahrzehntelang obligaten politisch-weltanschaul. Denkschemata, sondern auch mit allen traditionell-realist. Stilidealen; dies gilt für P. Esterházy, D. Tandori, G. Konrád. Daneben vertreten L. Nagy, S. Csoóri, G. Petri, P. Nádas und L. Krasznahorkai die u. L. der Gegenwart.
▣ Literatur:
Sivirsky, A.: Die u. L. der Gegenwart. Bern u. a. 1962.
⃟ Szerb, A.: Ungar. Literaturgeschichte, 2 Bde. A. d. Ungar. Youngstown, Oh., 1975.
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⃟ Vom Besten der alten u. L., 11. bis 18. Jh., hg. v. T. Klaniczay. Budapest 1978.
⃟ Lit. Ungarns 1945 bis 1980. Einzeldarstellungen, Beiträge v. M. Szabolcsi u. a. Berlin (Ost) 1984.
⃟ Czigány, L.: The Oxford history of Hungarian literature. Neuausg. Oxford 1986.
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⃟ »Kakanien«. Aufsätze zur österreich. und u. L., Kunst u. Kultur um die Jahrhundertwende, hg. v. E. Thurnher u. a. Budapest 1991.
⃟ György, D.: Vom Propheten zum Produzenten. Zum Rollenwandel der Literaten in Ungarn u. Osteuropa. Wien 1992.
⃟ Hungarian literature, hg. v. E. Molnár Basa. New York 1993.
⃟ Rübberdt, I.: Einheit im Widerstreit. Zur ungarischen Moderne u. Avantgarde. Budapest 1993.
⃟ Chinezu, I.: Aspects of Transylvanian Hungarian literature. Klausenburg 1997.
⃟ Haldimann, E.: Momentaufnahmen aus dreißig Jahren U. L. Budapest 1997.
⃟ Rónay, L.: Abriß der ungarischen Literaturgeschichte. A. d. Ungar. Budapest 1997.