Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Utopie
Utopie[grch. »Nirgendort«] die, ein dem Kunstwort »Utopia« im Titel von T. Mores Staatsroman »De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia« (1516) nachgebildeter Begriff zur Erfassung a) einer die Realitätsbezüge ihrer Entwürfe bewusst oder unbewusst vernachlässigenden Denkweise sowie b) einer literar. Denkform, in der Aufbau und Funktionieren idealer Gesellschaften und Staatsverfassungen eines räumlich und/oder zeitlich entrückten Ortes, oft in Form fiktiver Reiseberichte, konstruiert werden. Nach Anfängen im 12. und 13. Jh. nahm das christlich-abendländ. Denken die U. im Zeitalter der religiösen Krise und des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus wieder auf. Religiös-polit. Mischformen gingen voraus (Hussiten-, Täuferbewegung), die den theolog. Chiliasmus endgültig in die Sozial-U. überführten. In der Aufklärung beschränkte die Philosophie das utop. Denken auf den Entwurf des rational als möglich Vorstellbaren und vermied so den Vorwurf des Irrationalismus. Utop. Denken findet sich auch in den normativen und revolutionären Schriften der Vertreter des Anarchismus sowie bei A. Comte und K. Marx, die ihre Prognosen aus histor. Gesetzmäßigkeiten abzuleiten beanspruchten und den wiss. Charakter ihrer U. betonten. Im Denken der Gegenwart tritt die U. v. a. als negative oder Gegen-U. auf, die den Verlust der Freiheit durch Perfektion von Technik und Wiss. mit den Mitteln der klass. U. beschreibt, sowie als positive Sozial-U., z. B. bei E. Bloch und A. Huxley (»Eiland«, 1962).
Bevorzugte Gattung der literar. U. ist der utop. Roman (Zukunftsroman), in dem i. d. R. ein in den Augen des Verfassers ideales Gegenbild zu den sozialen, polit. und wirtsch. Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart entworfen wird. Als Vorbild einer literar. U. gilt Platons Idealstaatsentwurf in seiner »Politeia« (etwa 374 v. Chr.). Eine erste Blüte utop. Staatsromane setzt im Gefolge von T. Mores »Utopia« (1516) ein; am bedeutendsten T. Campanellas »Sonnenstaat« (entstanden 1602, lat. Buchausg. 1623) und F. Bacons »Nova Atlantis« (1627). Im 18. Jh. verschmolzen U. mit populären zeitgenöss. Romanformen: Von den Robinsonaden beeinflusst ist J. G. Schnabels »Wunderl. Fata einiger Seefahrer, ...«, auch u. d. T. »Die Insel Felsenburg« (4 Bde., 1731-43); J. Swifts Roman »Des Capitains Lemuel Gulliver Reisen ...« (2 Bde., 1726) verbindet utop. Züge mit schärfster Satire. Die technisch-naturwiss. Entwicklung und die industrielle Revolution waren Nährboden für die v. a. mit J. Verne beginnende Sciencefiction. Als Gegenreaktion auf den ungetrübten Fortschrittsglauben sind die sog. Antiutopien (negative U., Gegen-U.) zu sehen, in denen die Gefahren einer Überbetonung von Technik und Naturwiss. in Schreckensvisionen von einer total industrialisierten Welt, von einer totalitär beherrschten Massengesellschaft sowie der Situation nach einem Atomkrieg beschworen werden, so etwa bei J. I. Samjatin, A. Huxley, K. Čapek, G. Orwell, Arno Schmidt, C. Amery. Seit den 1970er-Jahren entstehen auch U. mit betont ökolog. und feminist. Gesellschaftsentwurf.
▣ Literatur:
Biesterfeld, W.: Die literar. U. Stuttgart 21982.
⃟ Die U. in der angloamerikan. Literatur. Interpretationen, hg. v. H. Heuermann u. a. Düsseldorf 1984.
⃟ Jenkis, H. W.: Sozialutopien - barbar. Glücksverheißungen? Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft. Berlin 1992.
⃟ Büchele, H.: SehnSucht nach der schönen neuen Welt. Thaur u. a. 21993.
⃟ U. heute? Ende eines menschheitsgeschichtl. Topos?, hg. v. K. Wilhelm. Wien 1993.
⃟ Saage, R.: Utopieforschung. Eine Bilanz. Neuausg. Darmstadt 1997.
⃟ Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur u. Gesellschaft, hg. v. R. Jucker. Amsterdam 1997.
⃟ Minois, G.: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen. A. d. Frz. Düsseldorf 1998.
⃟ Utopische Perspektiven, hg. v. G. Engel u. B. Marx. Dettelbach 1998.
Bevorzugte Gattung der literar. U. ist der utop. Roman (Zukunftsroman), in dem i. d. R. ein in den Augen des Verfassers ideales Gegenbild zu den sozialen, polit. und wirtsch. Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart entworfen wird. Als Vorbild einer literar. U. gilt Platons Idealstaatsentwurf in seiner »Politeia« (etwa 374 v. Chr.). Eine erste Blüte utop. Staatsromane setzt im Gefolge von T. Mores »Utopia« (1516) ein; am bedeutendsten T. Campanellas »Sonnenstaat« (entstanden 1602, lat. Buchausg. 1623) und F. Bacons »Nova Atlantis« (1627). Im 18. Jh. verschmolzen U. mit populären zeitgenöss. Romanformen: Von den Robinsonaden beeinflusst ist J. G. Schnabels »Wunderl. Fata einiger Seefahrer, ...«, auch u. d. T. »Die Insel Felsenburg« (4 Bde., 1731-43); J. Swifts Roman »Des Capitains Lemuel Gulliver Reisen ...« (2 Bde., 1726) verbindet utop. Züge mit schärfster Satire. Die technisch-naturwiss. Entwicklung und die industrielle Revolution waren Nährboden für die v. a. mit J. Verne beginnende Sciencefiction. Als Gegenreaktion auf den ungetrübten Fortschrittsglauben sind die sog. Antiutopien (negative U., Gegen-U.) zu sehen, in denen die Gefahren einer Überbetonung von Technik und Naturwiss. in Schreckensvisionen von einer total industrialisierten Welt, von einer totalitär beherrschten Massengesellschaft sowie der Situation nach einem Atomkrieg beschworen werden, so etwa bei J. I. Samjatin, A. Huxley, K. Čapek, G. Orwell, Arno Schmidt, C. Amery. Seit den 1970er-Jahren entstehen auch U. mit betont ökolog. und feminist. Gesellschaftsentwurf.
▣ Literatur:
Biesterfeld, W.: Die literar. U. Stuttgart 21982.
⃟ Die U. in der angloamerikan. Literatur. Interpretationen, hg. v. H. Heuermann u. a. Düsseldorf 1984.
⃟ Jenkis, H. W.: Sozialutopien - barbar. Glücksverheißungen? Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft. Berlin 1992.
⃟ Büchele, H.: SehnSucht nach der schönen neuen Welt. Thaur u. a. 21993.
⃟ U. heute? Ende eines menschheitsgeschichtl. Topos?, hg. v. K. Wilhelm. Wien 1993.
⃟ Saage, R.: Utopieforschung. Eine Bilanz. Neuausg. Darmstadt 1997.
⃟ Zeitgenössische Utopieentwürfe in Literatur u. Gesellschaft, hg. v. R. Jucker. Amsterdam 1997.
⃟ Minois, G.: Geschichte der Zukunft. Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen. A. d. Frz. Düsseldorf 1998.
⃟ Utopische Perspektiven, hg. v. G. Engel u. B. Marx. Dettelbach 1998.