Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
tschechische Literatur.
tschẹchische Literatur.Am Anfang der t. L. stehen lat. Legenden (Ludmilla, Wenzel) sowie die lat. Chronik des Cosmas von Prag. Mit der Tätigkeit der Slawenapostel Kyrillos und Methodios beginnt eine Übersetzungslit. in altkirchenslaw. Sprache (Kirchenlieder, »Wenzelslied« um 1300). Seit Anfang des 14. Jh. entwickelte sich eine reichhaltige Versdichtung: Heiligenlegenden (v. a. die Katharinenlegende, Mitte des 14. Jh.); Marien-, Passions-, Osterspiele; Verschroniken. Als Werke der ritterl. Poesie entstanden um 1310 das Epos »Alexandreis« sowie um 1314 die »Dalimilchronik«, die älteste alttschech. Reimchronik. Das erste bed. Prosawerk ist der um 1409 entstandene »Tkadleček«, ein am »Ackermann aus Böhmen« des Johannes von Tepl orientiertes Zwiegespräch zw. dem Autor und dem personifizierten Unglück. Als bed. religiös-philosoph. Schriftsteller trat P. Chelčický hervor; er wurde zum geistigen Begründer der Böhmischen Brüder, deren große Leistung die »Kralitzer Bibel« (6 Tle., 1579-93) war. Nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (1620) kam es zu einer allmähl. literar. Stagnation und einem Verfall der tschech. Sprache. Viele Vertreter tschech. Kultur und Literatur emigrierten, so der Bischof der Böhm. Brüder J. A. Comenius. - Die Reformen Josephs II. (1781 Aufhebung der Leibeigenschaft) gaben den Anstoß zu einer nat. Wiedergeburt (»obrozeni«) des Tschechentums, die am Anfang der neueren t. L. steht. Es entfaltete sich eine intensive Tätigkeit auf philolog. und histor. Gebiet (F. M. Pelcl, J. Dobrovský). Die t. L. dieser Zeit orientierte sich v. a. an anakreont. Vorbildern, u. a. V. Thám und der Kreis um A. J. Puchmajer, der auch die Richtung des europ. Rokoko und des Klassizismus vermittelte. Durch die Berührung mit der dt. Romantik, bes. mit den Ideen J. G. Herders, kam es zu einer Blüte der t. L. Große Wirkung hatte die Dichtung über die ruhmvolle Vergangenheit der Slawen »Tochter der Sláva« (1824) von G. Kollár mit der panslawist. Forderung nach einer »slaw. Wechselseitigkeit«. Da die t. L. keine Nationalepen und Heldenlieder besaß, gab V. Hanka eigene Dichtungen (Königinhofer Handschrift, »Grünberger Handschrift«) als literar. Denkmäler aus dem 13. Jh. bzw. 9. Jh. heraus. Daneben entstanden Dichtungen im Stil des Volksliedes, bes. der Volksballade (F. L. Čelakovský, K. J. Erben). K. H. Mácha schrieb lyrisch-ep. Werke (»Der Mai«, 1836). Als Begründer des modernen tschech. Dramas gelten V. K. Klicpera, J. K. Tyl. An der Wende zw. Romantik und Realismus steht der Roman »Großmutter« (1855) von Božena Nemcová. Der Realismus bevorzugte zunächst soziale (J. Neruda), dann immer stärker polit. Themen. J. Vrchlický vertrat eine weltbürgerl. Richtung. In den 1860er- bis 1890er-Jahren gruppierten sich die literar. Strömungen um drei Zeitschriften: die »Máj«-Bewegung (u. a. J. Neruda, V. Hálek), die nat. Akzente setzende »Ruch«-Gruppe, insbesondere S. Čech, K. V. Rais, J. Holeček, A. Jirásek, Z. Winter, Teréza Nováková, und die »Lumír«-Bewegung (mit J. Zeyer, J. Vrchlický), die kosmopolitisch ausgerichtet war. Daneben erschienen sozialkrit. Werke unter dem Einfluss der russ. Realisten und É. Zolas. In den 1890er-Jahren formte sich die tschech. Moderne unter dem Einfluss bes. des frz. Symbolismus unter der krit. Führung von F. X. Šalda und erreichte ihren Höhepunkt in der sprachgewandten, individualisierten, auch soziale Themen gestaltenden Lyrik von O. Březina, A. Sova und P. Bezruč; daneben auch J. Hora mit Lyrik des proletar. Großstadtelends. Mit starker Betonung religiöser Thematik bildete sich als Gegenpol eine kath. Moderne.Die 1920er-Jahre waren durch die Künstlergruppe des »Devětsil« bestimmt, die zunächst dem Proletkult nahe stand, v. a. V. Nezval und K. Teige, die Schöpfer der literar. Avantgardebewegung des Poetismus. Weitere Vertreter waren K. Biebl und J. Seifert (Nobelpreis für Literatur 1984) sowie - in ihren Anfängen - F. Halas, V. Holan und V. Vančura. Diese Avantgardebewegung war auch nach der Auflösung des »Devětsil« (seit Ende der 1920er-Jahre) weiter lebendig. Wirkungsvollste Erzähler der 1930er-Jahre waren J. Hašek, K. Čapek, I. Olbracht, Božena Benešová, Marie Majerová und Marie Pujmanová. Während der Zeit der dt. Okkupation wurde nahezu alles literar. Schaffen und Publizieren mit Gewalt unterdrückt. Nach dem Zweiten Weltkrieg erzwangen die polit. Verhältnisse die Anpassung an Normen des sozialist. Realismus, der eine Reihe von Autoren folgte, u. a. Nezval, Olbracht, Majerová, Pujmanová, J. Drda und V. Rezáč; einige Autoren emigrierten (E. Hortovský, J. Čep) oder verstummten (F. Langer, V. Holan, J. Deml, J. Weil). Erst Ende der 1950er-Jahre bis zum Höhe- und Wendepunkt 1968 konnte sich die t. L. in Teilbereichen vom polit. Druck befreien. Die t. L. der 1960er-Jahre wandte sich von vereinfachten Konstruktionen und Klischees ab und berücksichtigte stärker persönl. Erfahrungswelt und Philosophie, in der Lyrik F. Hrubin, J. Skácel, I. Skála, O. Mikulášek, V. Závada, in der Prosa L. Fuks, J. Gruša, I. Klíma, M. Kundera, V. Páral, J. Procházka, B. Hrabal, Věra Linhartová, L. Vaculík, im Drama P. Kohout und V. Havel. Die sowjet. Invasion im Aug. 1968 beendete die Phase der relativen Liberalisierung des literar. Schaffens: Die Literatur wurde einer rigorosen polit. Zensur unterworfen und ideologisch gleichgeschaltet, die literar. Presse liquidiert, der Schriftstellerverband aufgelöst und neu gegründet; die literar. Führer des Prager Frühlings wurden verfolgt, z. T. in die Emigration getrieben, viele Autoren erhielten Publikationsverbot. Dies alles führte zu einer weitgehenden Spaltung der t. L. in die offiziell gebilligte Literatur, die Untergrund- und die Exilliteratur. Zur Emigration entschlossen sich u. a. J. Škvorecký, A. Lustig, Kundera, Gruša, Kohout, M. Napravník, I. Diviš. Die in der Tschechoslowakei verbliebenen Autoren, die offiziell nicht publizieren durften, u. a. Havel, M. Uhde, Klíma, J. Trefulka, A. Kliment, M. Šimečka, Vaculík, K. Sidon, K. Recka, veröffentlichten in Exil- und Samisdatverlagen. - Seit der »sanften« Revolution im Nov. 1989 stehen Fragen der Normalisierung des kulturellen Lebens, die Veröffentlichung und Aufführung der seit Ende der 1960er-Jahre verbotenen Werke, die Rückkehr der exilierten Autoren und die literar. Aufarbeitung der letzten Jahrzehnte (J. Putík, J. Zábrana, J. Kratochvíl, M. Viewegh u. a.) im Vordergrund.
Literatur:
Mühlberger, J.: Tschech. Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1970.
Kunstmann, H.: Tschech. Erzählkunst im 20. Jh. Köln 1974.
Baumann, W.: Die Lit. des Mittelalters in Boehmen. Deutsch-lateinisch-t. L. vom 10. bis 15. Jh. München 1978.
Měšťan, A. u. Lettenbauer, W.: Geschichte der t. L. im 19. u. 20. Jh. Köln 1984.
Schamschula, W.: Geschichte der t. L., 2 Bde. Köln 1990-96.
Zur t. L. 1945-85. Mit einem Titelverzeichnis der Samisdat-Reihe »Hinter Schloß u. Riegel«, hg. v. W. Kasack. Berlin 1990.
Bock, I.: Die Spaltung u. ihre Folgen. Einige Tendenzen der t. L. 1969-1989. Berlin 1993.
Leben, A.: Ästhetizismus u. Engagement. Die Kurzprosa der tschechischen u. slowenischen Moderne. Wien 1997.
Gammelsgaard, K.: Spoken Czech literature. Oslo 1997.
Thomas, A.: Anne's Bohemia. Czech literature and society, 1310 - 1420. Minneapolis, Min., 1998.
Zand, G.: Totaler Realismus u. peinliche Poesie. Tschechische Untergrund-Literatur 1948 - 1953. Frankfurt am Main 1998.
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