Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Tragödie
Tragödi|e[grch.] die (Trauerspiel), neben der Komödie die wichtigste Gattung des europ. Dramas, i. e. S. die grch. (attische) T., die die Entwicklung des europ. Dramas wesentlich beeinflusst hat; sie gestaltet einen schicksalhaften unvermeidl. und unausgleichbaren Gegensatz (Konflikt), der zum Untergang des Protagonisten führt.Die T. entwickelte sich in Griechenland als Teil des Dionysoskultes aus dem Chorgesang (Tragödie: grch. »Bocksgesang«, Gesang für den als Opfertier sterbenden Bock). Die grch. T., die ihre Blütezeit im 5. Jh. v. Chr. hatte, entnahm ihre Stoffe meist der myth. Überlieferung. Bei Aischylos ist das Handeln des Protagonisten durch Hybris und Ate bestimmt. Der Untergang des Helden feiert und bestätigt die göttl. Mächte. Bei Sophokles tritt das Individuum hervor und gerät in unvermeidl., tragisch-schuldhaften Gegensatz zu den in den Göttern verkörperten heiligen Ordnungen. Bei Euripides verlieren Maske, Kothurn und Chor, die sich aus dem überpersönl., religiös verbindl. Ursprung und Anspruch der T. herleiten, an Bedeutung. Die Wirkung der grch. T. hat Aristoteles als Katharsis bestimmt. Die röm. T. knüpfte direkt an das grch. Vorbild an (Seneca d. J.). Durch diese Vermittlung gelangte die Gattung in die europ. Literatur, setzte neue Maßstäbe der Vernunft und der Individualität, die Widersprüche mit den geltenden gesellschaftl. Normen provozierten und damit die inneren Voraussetzungen für die Entstehung der T. erneuerten. Der erste überragende, bis heute nicht übertroffene Tragiker der Neuzeit ist W. Shakespeare. Die Helden seiner Charakter-T. tragen den Konflikt in sich (»Hamlet« [1603], »Othello« [1622]). Die frz. T. dagegen bezieht ihre trag. Konstellation aus dem Widerspruch zw. den persönl. Interessen und der überpersönl. Ordnung des Staates (P. Corneille, J. Racine). Die Aufklärung brach mit der Ständeklausel, die für die T. nur handelnde Personen aus höheren Ständen erlaubte. Durch G. E. Lessing erreichte sie als bürgerliches Trauerspiel in Dtl. einen neuen Höhepunkt. Im dramat. Werk von Goethe und Schiller erfuhr die Gattung in der Verbindung von aristotel. Dramaturgie mit modernen trag. Konflikten - immer noch in kathart. Absicht - ihre letzte klass. Verwirklichung. Relativismus und Determinismus stellten im weiteren Verlauf des 19. Jh. und im 20. Jh. die stilbegründenden Voraussetzungen (Schicksalsbegriff, Unausweichlichkeit des trag. Konflikts, Vorbildlichkeit des Helden und kathart. Wirkung) der hohen T. infrage. Die Grenzen der dramat. Gattungen verwischten sich. Nicht mehr trag. Erschütterung, sondern illusionslos skept. Daseinsbeschreibung und -erhellung, Entlarvung der durch Konventionen verdeckten »Wirklichkeit« wurden das Ziel der modernen T., so bei H. Ibsen, A. Strindberg, A. P. Tschechow, M. Gorki, F. Wedekind, L. Pirandello, E. O'Neill. Schließlich traten das Absurde (absurdes Theater), das nur noch Schreckliche (»Theater der Grausamkeit«) oder das Schaurig-Groteske (Tragikomödie) an die Stelle des Tragischen im Schauspiel. Die auf die Katastrophe hin strukturierte Handlungsführung wurde durch die Gestaltung von kreisläufigen Prozessen oder reiner Zuständlichkeit ersetzt (S. Beckett). Dieser Auflösungsprozess führte zu einer Form des Dramas, deren einziger Gegenstand die Repräsentationsleistung des Theaters selbst ist, darin inbegriffen die Möglichkeit des Tragischen. Heiner Müllers Destruktionen von klass. T.-Stoffen und -Helden stellen einen solchen rein negativen Bezug auf die T. dar. Das Tragische tritt nicht mehr als Gestaltungsprinzip eines ganzen Stückes auf.
Literatur:
W. Jens. Die Bauformen der grch. T., hg. v. München 1971.
George, D. E.: Dt. Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. München 1972.
Wiese, B. von: Die dt. T. von Lessing bis Hebbel. München 1983.
Lesky, A.: Die grch. T. Stuttgart 51984.
Alt, P.-A.: T. der Aufklärung. Tübingen 1994.
T. Idee u. Transformation, hg. v. H. Flashar. Stuttgart 1997.
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