Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Tiere
Tiere(Animalia), die Gesamtheit der eukaryont. Organismen, die systematisch im Tierreich zusammengefasst sind und als solche dem Pflanzenreich gegenübergestellt werden. Systematisch wird das Tierreich in die zwei Unterreiche Protozoen (einzellige T.) und Metazoa (vielzellige T.) gegliedert, mit insgesamt 30 Stämmen, wobei über die Zahl der Stämme und deren weitere systemat. Unterteilung unter Wissenschaftlern keine Übereinstimmung herrscht. Sowohl einzellige (rd. 27 000 Arten) als auch vielzellige T. (etwa 1,5 Mio. Arten) sind aus echten Zellen mit Zellkern und membranumgrenzten Zellorganellen aufgebaut. Stammesgeschichtlich können T. und Pflanzen auf gemeinsame einzellige Urformen zurückgeführt werden, die unter den Flagellaten zu finden sind. Im Ggs. zu den (meist) autotrophen Pflanzen ernähren sich T. heterotroph (Heterotrophie). T. sind fast immer frei beweglich und mit Sinnesorganen zur Aufnahme von Reizen sowie einem Erregungsleitungssystem (Nervensystem) ausgestattet. Die Zellen haben (im Unterschied zur Cellulosezellwand der Pflanzen) nur eine sehr dünne Zellmembran und sind (bei den Mehrzellern) fast stets gegeneinander abgegrenzt. T. haben (im Unterschied zu den Pflanzen mit großer äußerer Oberfläche) eine eher kompakte Form mit reich gegliederten inneren Oberflächen (Körperhohlräumen), an denen der Stoffaustausch mit der Umgebung überwiegend stattfindet (»geschlossenes System« der T.). Da tier. Zellen meist keinen ausgeprägt hohen Turgor (Zelldruck) haben, wird die Ausbildung von besonderen Stützorganen (Außen-, Innen-, Hydroskelett) notwendig. Im Unterschied zu vielen Pflanzen ist das Wachstum bei T. i. d. R. zeitlich begrenzt, da die teilungsfähigen, undifferenzierten Zellen größtenteils aufgebraucht werden. Viele T. sind befähigt, sich extremen Lebensräumen anzupassen. Eine oft hoch entwickelte Brutpflege ist für Tierarten aus den verschiedensten Stämmen kennzeichnend.In den letzten Jahrzehnten ist ein verstärktes Aussterben von Tierarten zu beobachten, das seine Ursachen v. a. in der durch den Menschen hervorgerufenen Zerstörung des natürl. Lebensraumes der T. und der Nahrungsgrundlagen hat. Weitere Ursachen sind die übermäßige Bejagung von Wild-T. als Nahrung sowie zur Gewinnung von Pelzen, Häuten und anderen Produkten. Auch die ausgedehnte Anwendung von Schädlingsbekämpfungsmitteln trägt zur Gefährdung bestimmter Tierarten bei.Weiteres siehe Tiergeographie, Tiergesellschaft, Tiersprache, Tierstock, Verhaltensforschung, Zoologie; über bedrohte Tierarten Rote Liste.Rechtlich sind Haus-T. von wilden T. zu unterscheiden. Wilde T. sind herrenlos, solange sie sich in Freiheit befinden; sie unterliegen dem Aneignungsrecht, das durch landesgesetzl. Bestimmungen über das Jagd- und Fischereirecht und den Artenschutz beschränkt ist. Haus-T. werden, auch wenn sie verwildern, nicht herrenlos. (Tierhalterhaftung, Wildschaden)Kunst und Religion: Tierdarstellungen gehören zu den frühesten Kunstäußerungen des Menschen; sowohl bei den altsteinzeitl. Menschen (Felsbilder) als auch bei den Naturvölkern hat das Tierbild meist mag. oder religiöse Bedeutung. Sehr realistisch wurden T. von den Ägyptern, auch von anderen Völkern des Alten Orients erfasst, bei denen Tiergötter (Stier, Katze, Pavian u. a.) verehrt (Tierkult) und Götter oft in menschl. Gestalt, doch mit Tierköpfen dargestellt wurden (babylon., assyr., ägypt. Kunst). Die Griechen, die fast nur den Menschen und in seiner Gestalt auch das Göttliche verkörperten, stellten Pferde mit Reitern und auch den Löwen dar (Chaironeia). In hellenist. Zeit wurden realistisch-genrehafte Tierdarstellungen beliebt. In der frühchristl. Kunst hatten Abbilder von T. sinnbildl. Bedeutung (Lamm, Agnus Dei, Tauben, Pfauen, Phönix, Pelikane; vgl. auch Evangelisten). Es entstand eine reich ausgebildete Tiersymbolik, die, wie auch die in der Steppenkunst verbreitete, in der germanischen Kunst ausgebildete Tierornamentik, bis weit in das MA. fortwirkte. Realist. Darstellungen, die das Tier um seiner selbst willen wiedergeben, kamen mit dem neuen Wirklichkeitssinn des 15. Jh. auf (A. Pisanello, Hausbuchmeister, Dürer u. a.). Im 17. Jh. verselbstständigten niederländ. Maler (F. Snyders, M. d'Hondecoeter, P. Potter u. a.) das Tierbild zu einer eigenständigen Bildgattung (Tierstück). Im 19. und 20. Jh. gehörten T. zum Hauptthema einzelner Künstler (u. a. F. Marc, A. Gaul, R. Sintenis, M. Marini, P. Harth, H. Wimmer).In der Tierdichtung wirkt die Auffassung und Wertung des Tieres in den alten Mythen nach, bes. im Tiermärchen, einer sehr alten, über die ganze Welt verbreiteten Gattung. Im Kinder- und Wiegenlied werden T. des Hauses und des Waldes häufig als verständnisvolle Gefährten der kindl. Seele angesprochen. Lehrhaft oder ironisch-satirisch ist die Tierfabel (Fabel). In den Tierbüchern des MA. (Bestiarium) werden T. im christl. Sinn symbolisch gedeutet. Im meist satir. Tierepos, zu dem die Volksüberlieferung an Tiersagen im MA. verarbeitet wurde (Reinecke Fuchs), haben die einzelnen T. seit etwa 1100 feststehende Eigennamen (Isegrim der Wolf, Nobel der Löwe u. a.). Eine Sonderart ist das kom. Tierepos (Batrachomyomachie). Auch in der neueren und neuesten Dichtung wurden handelnde und sprechende T. oft dazu verwendet, um menschl. Charaktere, Zustände, Gebräuche indirekt darzustellen, zu verspotten oder anzugreifen. Das 19. und 20. Jh. entwickelten die realist. oder symbol. Darstellung der menschl. Begegnung mit T. und des Verhältnisses von Mensch und Tier, z. T. mit dem Versuch der Einfühlung in die Tierseele. In neuester Zeit wird bes. die Tiererzählung gepflegt, in der Dasein und Umwelt der T. möglichst lebensecht vom T., nicht vom Menschen aus geschildert werden.