Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Tibet
Tibet[auch ti'be:t] (chines. Xizang, tibet. Bodjul), autonomes Gebiet in W-China, 1 228 400 km2, (1997) 2,4 Mio. Ew., Hptst. ist Lhasa.Landesnatur: T. ist das größte Hochland der Erde, das »Dach der Welt«, im südl. Innerasien zw. den Gebirgsketten des Kunlun Shan im N, des Himalaja im W und S und der osttibet. Randgebirge im O; durchschnittlich 4 500 m ü. M. gelegen und von Gebirgsketten meist nur geringer Höhe in zahlr. schutterfüllte Becken mit abflusslosen Seen gegliedert. Der Transhimalaja scheidet die nördl. Kältesteppen vom klimabegünstigten südtibet. Längstal mit den Oberläufen des Indus und Brahmaputra. Im NO befinden sich die Becken des Qaidamsumpfes und des Qinghai Hu. T. hat trockenes Höhenklima mit starken jährl. (zw. —40 und +35 ºC) und tägl. Temperaturschwankungen. Die Schneegrenze liegt zw. 4 000 und 6 100 m ü. M. Die baumlosen Wüstensteppen des Hochlands gehen oft in Wüste über. Die tiefen Schluchten der Randgebirge sind dicht bewaldet.Bevölkerung und Wirtschaft: Die Bevölkerung besteht größtenteils aus Tibetern. Im NO wohnen nomad. Tanguten, im SO andere Volksstämme. Die Zahl der Chinesen wächst. Die Religion ist der Lamaismus. Die weit verstreuten Hochlandnomaden halten Schafe, Yaks, Ziegen und Pferde. Allein im S und SO erlaubt der Monsuneinfluss stellenweise Anbau von Gerste, Bohnen, Erbsen, Weizen, Reis, Hirse, Raps, Aprikosen. Reisanbau erfolgt bei künstl. Bewässerung. Es bestehen Betriebe der Textil-, Zement-, Papier- und chem. Industrie. Ausgeführt werden Wollwaren, Filz, Pelze, Moschus, Salz. In den dichter besiedelten Tälern bei Lhasa, Shigatse und Gyangzê treffen sich die Handelsstraßen aus Indien, China, Turkestan und der Mongolei. Seit der Machtübernahme durch China wurde das Straßennetz ausgebaut. Flugverbindungen bestehen zw. Lhasa, Chongqing und Lanzhou.Geschichte: Im 7. Jh. wurden die nomad. Hochlandstämme von T. in einem Staat vereinigt (Hauptstadt Lhasa); dieser erreichte im 8. Jh. seine größte Ausdehnung und wurde zur beherrschenden Vormacht Zentralasiens (Machtbereich von N-Burma über Nepal bis Kaschmir und von Turkestan bis in nordwestl. Teile Chinas). In der Mitte des 9. Jh. kam es zu einer grausamen Verfolgung des tibet. Buddhismus (Lamaismus) und zur Restauration der Bon-Religion; danach zerfiel das Reich in kleinere Fürstentümer. Im 13. Jh. geriet T. zeitweilig unter die Vorherrschaft der Mongolen; danach beanspruchten die chines. Dynastien der Ming (1368-1644) und Mandschu (1644-1911) die Oberhoheit über T. Um 1400 reformierte Tsongkhapa (* 1357, ✝ 1419) den Lamaismus und gründete die Gelbmützensekte (»gelbe Schule«), deren Oberhaupt seit dem 16. Jh. als Dalai-Lama bezeichnet wird. Der »große 5.« Dalai-Lama (* 1617, ✝ 1682) verstand es, mit mongol. Hilfe die polit. Macht der »gelben Schule« auszudehnen. 1717 eroberten die Dsungaren Lhasa; sie wurden von den Chinesen vertrieben, die daraufhin T. als ihr Protektorat behandelten. Mehrere tibet. Aufstände wurden von den Chinesen blutig unterdrückt. Eine brit. Militärexpedition drang 1904 gewaltsam bis Lhasa vor, doch erkannten Großbritannien (1906) und Russland (1907) die chines. Oberhoheit über T. an. In den Wirren der chines. Revolution von 1911 gelang es, die chines. Truppen und Behörden zu vertreiben. Auf der Konferenz von Simla 1914 wurden Teile von Ost-T. China zugesprochen, der größte Teil von T. war de facto bis 1950 unabhängig. 1940 wurde der 14. Dalai-Lama (Tenzin Gyatso, * 1935) feierlich eingeführt, an dessen Hof sich ab 1946 H. Harrer aufhielt. Nach dem Sieg der Kommunisten im chines. Bürgerkrieg und der Errichtung der VR China (1949) erneuerte Mao Zedong unter Ausnutzung der Rivalität zw. Dalai-Lama und Pantschen-Lama den Anspruch Chinas auf T. Im Herbst 1950 drangen Einheiten der chines. »Volksbefreiungsarmee« in T. ein und besetzten am 9. 9. 1951 Lhasa. In einem zuvor von Indien vermittelten tibetisch-chinesischen 17-Punkte-Vertrag (23. 5. 1951) erhielt T. innerhalb des Staatsverbandes der VR China innere Autonomie. Nach einer Einigung mit dem Pantschen-Lama (1952) sollte der Dalai-Lama Staatsoberhaupt, und, gemeinsam mit dem Pantschen-Lama, geistl. Oberhaupt und Mitgl. der chines. Zentral-Reg. sein. Die VR China begründete ihre Legitimation mit histor. (»seit der Tangzeit«), polit. (»Befreiung des tibetischen Volkes vom Feudalismus«) und wirtschaftl. Argumenten (»Modernisierung«). Mit dem Bau strategisch wichtiger Fernstraßen zu den benachbarten chines. Regionen und Prov., für den viele Tibeter unter unmenschl. Bedingungen zwangsverpflichtet wurden, sowie durch die Anlage von Flugplätzen konnte sie die Abgeschlossenheit T.s durch eine immer stärkere Bindung an die VR China ersetzen.
Tibet. Aufstände 1959 wurden niedergeschlagen, die hierarch. Struktur beseitigt. 1959 floh der 14. Dalai-Lama nach Indien ins Exil; rd. 80 000 Tibeter flüchteten nach Indien, Nepal, Bhutan, Sikkim und Europa. Die Neuordnung von Gesellschaft und Wirtschaft erfolgte nach dem Muster Chinas. Am 9. 9. 1965 wurde dem etwa um die Hälfte seines Territoriums reduzierten T. offiziell der Status einer Autonomen Region der VR China eingeräumt; große Gebiete gliederte man administrativ den chines. Nachbarprovinzen Yunnan, Sichuan und Qinghai an. Nachdem bereits bis 1966 etwa vier Fünftel der lamaist. Klöster und Tempel zerstört worden waren, kam es in den Wirren der chines. Kulturrevolution zur Verwüstung fast aller noch verbliebener (mit Ausnahme von 13). Die Bauern und auch die Nomaden wurden zum Leben in Volkskommunen gezwungen; Tausende Tibeter starben in Arbeitslagern, durch Verfolgung oder Hungersnöte. Unter Deng Xiaoping ließ die kommunist. Führung Chinas seit 1979 eine vorsichtige Öffnung T.s zu, förderte die Entwicklung der Wirtschaft, die aber mit einer rücksichtslosen Ausbeutung der natürl. Ressourcen verbunden wurde, und duldete unter strenger Aufsicht eine begrenzte Wiederbelebung der einheim. religiösen und kulturellen Traditionen (Wiederaufbau einiger Tempel und Klöster). Gleichzeitig betrieb die VR China eine strikte Sinisierungspolitik (Ansiedlung bes. von Hanchinesen, die bereits in allen größeren Städten die Bev.-Mehrheit bilden; Geburtenkontrolle unter der tibet. Bev., Zerstörung der alten Städte durch Abriss ganzer histor. Viertel und Neubau chines. Siedlungen) und sicherte ihre Macht durch starke Militärpräsenz (Stationierung Hunderttausender Soldaten). Den diplomat. Bemühungen des im Exil in Dharamsala lebenden Dalai-Lama zur Beendigung des T.-Konflikts begegnete die chines. Führung mit strikter Ablehnung. Ausgehend von den lamaist. Klöstern, kam es seit 1987, als sich erstmals wieder gewalttätige Proteste gegen die chines. Herrschaft richteten, wiederholt zu schweren Unruhen (bes. im März 1989 [daraufhin 1989/90 Verhängung des Kriegsrechts], 1993 und 1995).
Literatur:
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T. klagt an. Zur Lage in einem besetzten Land, hg. v. P. K. Kelly u. a. Wuppertal 21992.
Batchelor, S.: Der große T.-Führer. Neuausg. Innsbruck 1993.
Chan, V.: T. handbook. Chico, Calif., 1994.
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Smith, W. W.: A history of T. Boulder, Colo., 1997.
Bass, C.: Education in T. London 1998.
Buddhism in contemporary T., hg. v. M. C. Goldstein u. a. Berkeley, Calif., 1998.
Development, society and environment in T., hg. v. G. E. Clarke. Wien 1998.
Shakya, T.: The dragon in the land of snows. A history of modern T. since 1947. London 1999.
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