Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Theater
Theater [grch. théatron »Schaustätte«] das, Bez. für szen. Darstellungen eines äußeren oder inneren Geschehens als künstler. Kommunikation zw. Agierenden (Darstellern) und Reagierenden (Zuschauern); Begriff auch für das Gebäude, in dem T.-Vorstellungen stattfinden. Es werden heute drei Sparten unterschieden: das Sprech-T. (Schauspiel), das körpersprachlich orientierte T. (Tanz-T., Ballett, Pantomime) und das Musik-T. (Oper, Operette, Musical). Das traditionelle T.-Gebäude besteht aus drei Teilen: dem Bühnenhaus, dem Zuschauerhaus und den Verwaltungs-, Magazin- und Werkstättenräumen. Bühne und Zuschauerraum können durch den eisernen Vorhang voneinander getrennt werden. Für den gesamten T.-Bau und -Betrieb bestehen bis ins Einzelne gehende bau- und feuerpolizeil. Vorschriften. Zum Bühnenhaus Bühne. Angeschlossen sind Garderoben für Solisten, Chor und Statisten sowie Handmagazine für den Tagesbedarf u. a. an Dekorationen, Requisiten. Zw. Bühne und Zuschauerraum befindet sich bei Opern- und gemischten Bühnen, meist versenkt, das Orchester. Im alten »Hof-T.« kannte man auf hufeisenförmiger Grundfläche bis zu sechs Ränge übereinander. Heutige Inszenierungen suchen durch flexible Überwindung des Orchestergrabens mithilfe von Podesten die größere Nähe zum Publikum herzustellen. Neben der herkömml. Guckkastenbühne gibt es bei Neubauten unterschiedl. Besucher-Darsteller-Zuordnungen mittels Raumbühnen (Bühne und Zuschauerraum gehen architektonisch ineinander über), Arenabühnen oder Rundumbühnen. Den meisten Häusern ist eine Experimentierbühne (das »Kleine Haus« oder »Studio«) zugeordnet.Der künstler. Betrieb eines staatl. oder städt. T. wird meist vom Intendanten geleitet, er lässt sich von den künstler. Bühnenvorständen beraten, wobei der Spielplan (Repertoire) festgesetzt und der Probeplan aufgestellt wird. In den 1970er- und 80er-Jahren bildeten sich versch. Modelle der »Mitbestimmung« (kollektive Leitung) heraus. Privat-T. werden von T.-Direktoren geleitet. An größeren Bühnen stehen dem Intendanten ein Schauspiel- und ein Operndirektor zur Seite, für die wirtschaftl. Fragen ist der Verwaltungsdirektor zuständig. Die künstler. und techn. Bühnenvorstände sind: der Dramaturg (Dramaturgie), der Spielleiter oder Regisseur (Regie), der Ausstattungsleiter oder Bühnenbildner (Entwurf der Dekorationen und Kostüme; ihm unterstehen die Bühnenmaler und Gewandmeister), der Kapellmeister (mit den Solo- und Chorrepetitoren und dem Chordirektor), der Ballettmeister und der techn. Direktor (ihm unterstehen Bühnenmeister, Maschinenmeister, Beleuchtungsinspektor, Requisiteur, die Werkstätten und die Bühnenarbeiter). Weiteres Personal: Magazinverwalter, Maskenbildner, Souffleur, Inspizient.Organisatorisches: Der Dt. Bühnenverein ist die Organisation der Arbeitgeber der T., die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger die der (künstler. und z. T. techn.) Arbeitnehmer. (Theateragentur) - In Österreich ist der T.-Arbeitgeber der »Theaterhalterverband«; die Arbeitnehmer sind in der »Gewerkschaft Kunst und freie Berufe« organisiert. In der Schweiz heißen die entsprechenden Verbände »Schweizer Bühnenverband« und »Schweizer Bühnenkünstlerverband«.Geschichte: Der Ursprung des T. ist im kult. Bereich (Beschwörungen von Gottheiten, Fruchtbarkeitsriten, kult. Tänze) zu suchen. Das europ. T. fußt auf dem Dionysoskult der Griechen. Die zu Ehren dieses Gottes entstandenen Wechsel-, Trink- und Festgesänge wurden vom Chor gemeinsam vorgetragen. Erst Thespis stellte diesem einen Gegenspieler (Protagonisten) gegenüber. Aischylos und Sophokles stellten dann mehrere Gegenspieler zum Chor auf. Die Darsteller (ausschl. Männer) übernahmen mehrere Rollen. Sie trugen Masken, schwere prunkvolle Kostüme und den Kothurn. Träger der Spiele war der Staat (die Polis). Gespielt wurde urspr. auf einem Tanzplatz (Orchestra), in dessen Mitte wohl der Altar des Dionysos stand. Gegenüber dem Zuschauerraum, dem eigtl. »Theatron«, der sich im Halbkreis stufenweise ansteigend an einem Hang hinaufzog, wurde am Rand der Orchestra ein Holzbau (Skene) errichtet. Er konnte wechselnde, in der klass. Zeit stets hölzerne Aufbauten aufnehmen; in nachklass. Zeit entwickelte sich die steinerne Palastfassade. Der Skene vorgelagert wurde später eine über die Orchestra erhöhte Spielfläche (Proskenion). Seit dem 4. Jh. v. Chr. baute man Bühnen aus Stein. Viele T.-Ruinen der Antike sind erhalten, z. B. in Athen, Epidauros, Ephesos, Priene, Pergamon, v. a. auch römische, bes. in Kleinasien (Milet) und N-Afrika (Sabratha). Eine Schöpfung der Römer war das ovale bühnenlose Amphitheater. Terenz und Plautus verwendeten und erweiterten die bereits in der nacharistophan. jüngeren att. Komödie entwickelten Rollentypen. Beliebteste Form des röm. T. wurde der ohne Maske und auch von Frauen gespielte Mimus.Die anerkannte T.-Form des christl. MA. war das geistl. Schauspiel (geistliches Drama). Gespielt wurde anfangs in der Kirche, später auf dem Platz davor. Mit der Verweltlichung des geistl. Schauspiels drangen auch Possen und Scherze vor. Die Darsteller waren Bürger (Laienspieler), gespielt wurde nun auf dem Marktplatz. Die Spielorte des Handlungsablaufs waren meist nebeneinander sichtbar (Simultanbühne), die Zuschauer standen oder saßen rund um die Spielfläche. Auf die im 13./14. Jh. überall in Europa eingeführte Fronleichnamsprozession ist die Wagenbühne zurückzuführen: Auf mehreren aufeinander folgenden Wagen wurde je eine Szene der Passion an versch. Plätzen der Stadt vorgeführt. In Italien entstand im 15. Jh. aus den Versuchen der Humanisten, altröm. Komödien darzustellen, die Form der Terenzbühne: ein flaches Podium mit Holzrahmen im Hintergrund, die die Haustür der auftretenden Personen andeuteten. Auch für das Volkstheater brachte Italien um 1550 eine entscheidende Wende: die Stegreifkomödie (Commedia dell'Arte). Nach dem Vorbild der Wirtshaushöfe erbaute J. Burbage 1576 das erste stehende T. vor den Toren Londons. Über das T. der Shakespearezeit Shakespearebühne.Allmählich trat anstelle des Nebeneinanders der Szenen ein Nacheinander (Entstehung der Guckkastenbühne); die auf einschiebbaren Kulissen perspektivisch gemalten Bühnenbilder verdrängten die fest stehende plast. Ausstattung. Die Erschließung der Hoftheater für ein zahlendes Publikum erforderte eine Vergrößerung des Zuschauerraums und die Trennung nach Rang und Würden (Logenhaus mit Rängen). Diese italien. Theaterform fand, v. a. durch die aus dem Geist des Barock entstandene Oper, im 18. Jh. in ganz Europa Nachahmung. Die vom klass. Drama entwickelte Einheit des Ortes forderte ein gleich bleibendes Bühnenbild, dessen Einfachheit durch die symmetr. Perspektive betont wurde.
In Dtl. wurde im 17. Jh. der Berufsschauspielerstand durch Gastspiele engl. Komödianten eingeführt. Unterstützt durch die Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, kämpfte J. C. Gottsched um 1740 gegen die Haupt- und Staatsaktionen. K. Ekhof überwand den bis dahin vorherrschenden Stil durch realist. Charakterzeichnung. In Hamburg verwirklichte F. L. Schröder die Grundgedanken des dt. klass. Kunstideals auf der Bühne. Bestimmende Anregungen gingen von dem 1779 in Mannheim gegründeten Nationaltheater aus (Intendant W. H. von Dalberg). Unter Dalberg und in Berlin (National-T.) errang A. W. Iffland durch seine effektvolle Verwandlungskunst große Anerkennung. L. Devrient wirkte als Charakterdarsteller. - Unter J. Schreyvogel (1814-32) erlebte das Wiener Burgtheater einen Höhepunkt. Seit der Mitte des 19. Jh. beherrschten der »hohe Stil« (»Hoftheater-Pathos«), der auf den Theatercoup zielende Reißer (meist mit reisenden Stars wie Sarah Bernhardt) und das verflachende Lustspiel die Bühnen. In Frankreich entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit dem Einfluss italien. Gastspieltruppen ein nat. T. Aus dem Zusammenschluss der beiden bed. Pariser Schauspieltruppen entstand 1680 das Théâtre Français (Comédie Française). A. Antoine gründete in Paris mit Dilettanten das naturalist. Théâtre Libre (1887) als Protest gegen die konservative »Comédie Française«. Auf ein Gastspiel seines T. in Berlin ist die Gründung der Freien Bühne (1889) zurückzuführen. Ähnliche Unternehmen wurden in fast allen T.-Zentren Europas gegründet. Aus der Verbindung der künstler. Reformbewegung mit dem Volksbildungsgedanken entstand 1890 in Berlin die Freie Volksbühne (Volksbühnen). 1898 wurde das Moskauer Künstlertheater (unter K. Stanislawski und W. Nemirowitsch-Dantschenko) gegründet, dessen naturalistisch-atmosphär. Schauspielstil ganz Europa und Amerika beeinflusste. Die um 1910 einsetzende Entwicklung eines revolutionären, antibürgerl., antirealist. T. (W. E. Meyerhold, A. J. Tairow) wurde um 1930 durch die Doktrin des sozialist. Realismus abgebrochen. Der Antiillusionismus setzte sich durch. Vor E. G. Craig, der ein nichtliterarisches, nur aus seiner eigenen Realität schöpfendes T. forderte, hatte schon A. Appia v. a. für R. Wagner seit 1895 eine Raumbühne verlangt, in der bewegtes Licht die musikal. Bewegung widerspiegeln sollte. Von größter Bedeutung wurde die Anwendung der Elektrizität; das Bühnenbild musste plastisch aufgebaut werden. Nach 1910 nahm die deutschsprachige Bühne, angeregt von der bildenden Kunst (O. Kokoschka, H. Walden, L. Schreyer, W. Kandinsky, O. Schlemmer), in Darstellungsstil und Bühnenbild revolutionierende experimentelle Elemente auf. Seit 1920 drängten, im Übergang zu Neuer Sachlichkeit, Politik und Sozialkritik in den Vordergrund; E. Piscator verband die Agitation mit dem Experiment, B. Brecht entwickelte sein episches Theater (erneute Wirkung nach dem 2. Weltkrieg). In Frankreich wiesen J. Copeau (Inszenierung auf »nackten Brettern«) und A. Artaud (»Theater der Grausamkeit«) neue Wege. Der Nationalsozialismus hatte 1933 das ungewöhnlich reiche Berliner T.-Leben (Regisseure wie Reinhardt, L. Jessner, Schauspieler wie A. Bassermann, F. Kortner, P. Wegener) durch »Gleichschaltung« und Antisemitismus fast zum Erliegen gebracht. Einige Theaterleiter wie G. Gründgens, H. Hilpert, O. Falckenberg und Regisseure wie J. Fehling und E. Engel versuchten das Niveau der Darstellung zu halten, bis 1944 alle T. geschlossen wurden. In der Schweiz wurde die Tradition des deutschsprachigen T. weitergepflegt.Nach 1945 wurden die repräsentativen alten Häuser wieder aufgebaut; neue Bauwerke entstanden (insgesamt über 100), wobei in unterschiedl. Weise v. a. die Trennung zw. Spielfläche und Zuschauerraum überbrückt wurde. Zu T.-Ereignissen wurden die dt. Erstaufführungen der bis dahin verbotenen ausländ. Stücke. Die Inszenierungen der keiner Richtung verbundenen Regiepersönlichkeiten bestimmten das T.-Leben: G. Gründgens, F. Kortner, L. Steckel, H. Koch, G. R. Sellner und H. Lietzau. V. a. aus der Brecht-Schule gingen namhafte Regisseure (B. Besson, M. Wekwerth, E. Monk, P. Palitzsch) hervor. Mit der Uraufführung von R. Hochhuths »Stellvertreter« (Berlin 1963, unter E. Piscator) setzte eine Welle polit. T. ein. Ihr folgte aggressives Volks-T. (nach dem Muster Ö. von Horvaths; Stücke von Wolfgang Bauer, M. Sperr, F. X. Kroetz, W. Deichsel). - Der Zug zur direkten Aktion führte zur Gründung kurzlebiger Straßen-T. und freier Spielgruppen (seit den 50er-Jahren). Eine junge, durch die Studentenbewegung politisierte, nach Selbstdarstellung verlangende Schauspielergeneration prägte auch signalhaft wirkende Klassikerinszenierungen, die sich gegen überlieferte Perspektiven und Inhalte wandten. Die Suche nach neuen Stoffen, Darstellungs- und Spielformen für ein nichtbürgerl. T. wurde Mitte der 60er-Jahre durch ausländ. freie Truppen verstärkt, v. a. durch die (sich vom kommerziellen Broadway-T. wie von dem älteren kontrastierenden »Off-Broadway« absetzenden) »Off-Off-Broadway«-Truppen »Living Theatre«, »La Mama«, »Bread and Puppet Theater« und die »San Francisco Mime Troupe«. Starkes körpersprachl. Darstellungsbewusstsein zeigten auch die Spielkollektive des T.-Labors des Polen J. Grotowski sowie des »Odin Teatret« (Eugenio Barba). In der »freien« T.-Szene gab es eine Vielzahl von Neugründungen (»Rote Rübe«, München; »T.-Manufaktur«, Berlin).
Die politisch-krit. Aktivierung der theatralen Künste verband sich mit der Suche nach einer neuen Kunstsprache. Sammelpunkt dieser neuen Bestrebungen war für das subventionierte T. in Dtl. in den 60er-Jahren u. a. das Bremer T. (Intendant K. Hübner), dessen wichtigste Aufführungen geprägt wurden von den Regisseuren P. Zadek, W. Minks, R. W. Fassbinder, P. Stein und K. M. Grüber. Stein entwickelte ab 1970 in der Berliner »Schaubühne« einen politisch akzentuierten krit. Realismus. Die dt. Szene wird gegenwärtig u. a. bestimmt durch P. Palitzsch, den vom Surrealismus beeinflussten H. Neuenfels, den aus Großbritannien gekommenen P. Zadek, den Piscator-Schüler H. Heyme, ferner Augusto Fernandes, H. Hollmann, W. Minks, C. Peymann, G. Tabori und R. Noelte mit einem personenbezogenen, einfühlenden Realismus. Weitere einflussreiche Regisseure kamen hinzu: J. Flimm, N. P. Rudolph, L. Bondy, Andrea Breth und Dieter Dorn. Zu ihnen trat (durch Gastspielverträge) eine Reihe von Regisseuren aus der DDR: B. Besson, Ruth Berghaus, B. K. Tragelehn, M. Karge oder M. Langhoff; in letzter Zeit T. Langhoff, F. Castorf, L. Haußmann. Für die europ. Produktion setzen Inszenierungen von P. Brook, G. Strehler, R. Planchon und Ingmar Bergman neue Maßstäbe. Stark beachtet wird die T.-Arbeit der Amerikaner R. Wilson und Richard Schechner. Neue im »Théâtre du Soleil« (Paris) von Ariane Mnouchkine sowie von dem Italiener L. Ronconi entwickelte Spielweisen bestätigen die Tendenz, das Guckkasten-T. zu verlassen.
▣ Literatur:
Kindermann, H.: Theatergeschichte Europas, 10 Bde. Salzburg 1-21965-77.
⃟ T., bearb. v. G. Breton. A. d. Frz. Stuttgart u. a. 1991.
⃟ Theaterlexikon. Begriffe u. Epochen, Bühnen u. Ensembles, hg. v. M. Brauneck u. a. Reinbek 31992.
⃟ Brauneck, M.: Die Welt als Bühne. Geschichte des europ. T. auf 4 Bde. u. 1 Register-Bd. ber. Stuttgart u. a. 1993 ff.
⃟ Platz-Waury, E.: Drama u. T. Eine Einführung. Tübingen 41994.
⃟ Gronemeyer, A.: T. Köln 1995.
⃟ Lexikon T. international, Beiträge v. J. C. Trilse-Finkelstein u.:a. Berlin 1995.
⃟ Theaterlexikon, hg. v. C. B. Sucher, 2 Bde. München 1995-96.
⃟ Kirschner, J.: Fischer-Hb. T. Film, Funk, Fernsehen. Frankfurt am Main 1997.
In Dtl. wurde im 17. Jh. der Berufsschauspielerstand durch Gastspiele engl. Komödianten eingeführt. Unterstützt durch die Prinzipalin Friederike Caroline Neuber, kämpfte J. C. Gottsched um 1740 gegen die Haupt- und Staatsaktionen. K. Ekhof überwand den bis dahin vorherrschenden Stil durch realist. Charakterzeichnung. In Hamburg verwirklichte F. L. Schröder die Grundgedanken des dt. klass. Kunstideals auf der Bühne. Bestimmende Anregungen gingen von dem 1779 in Mannheim gegründeten Nationaltheater aus (Intendant W. H. von Dalberg). Unter Dalberg und in Berlin (National-T.) errang A. W. Iffland durch seine effektvolle Verwandlungskunst große Anerkennung. L. Devrient wirkte als Charakterdarsteller. - Unter J. Schreyvogel (1814-32) erlebte das Wiener Burgtheater einen Höhepunkt. Seit der Mitte des 19. Jh. beherrschten der »hohe Stil« (»Hoftheater-Pathos«), der auf den Theatercoup zielende Reißer (meist mit reisenden Stars wie Sarah Bernhardt) und das verflachende Lustspiel die Bühnen. In Frankreich entwickelte sich in der Auseinandersetzung mit dem Einfluss italien. Gastspieltruppen ein nat. T. Aus dem Zusammenschluss der beiden bed. Pariser Schauspieltruppen entstand 1680 das Théâtre Français (Comédie Française). A. Antoine gründete in Paris mit Dilettanten das naturalist. Théâtre Libre (1887) als Protest gegen die konservative »Comédie Française«. Auf ein Gastspiel seines T. in Berlin ist die Gründung der Freien Bühne (1889) zurückzuführen. Ähnliche Unternehmen wurden in fast allen T.-Zentren Europas gegründet. Aus der Verbindung der künstler. Reformbewegung mit dem Volksbildungsgedanken entstand 1890 in Berlin die Freie Volksbühne (Volksbühnen). 1898 wurde das Moskauer Künstlertheater (unter K. Stanislawski und W. Nemirowitsch-Dantschenko) gegründet, dessen naturalistisch-atmosphär. Schauspielstil ganz Europa und Amerika beeinflusste. Die um 1910 einsetzende Entwicklung eines revolutionären, antibürgerl., antirealist. T. (W. E. Meyerhold, A. J. Tairow) wurde um 1930 durch die Doktrin des sozialist. Realismus abgebrochen. Der Antiillusionismus setzte sich durch. Vor E. G. Craig, der ein nichtliterarisches, nur aus seiner eigenen Realität schöpfendes T. forderte, hatte schon A. Appia v. a. für R. Wagner seit 1895 eine Raumbühne verlangt, in der bewegtes Licht die musikal. Bewegung widerspiegeln sollte. Von größter Bedeutung wurde die Anwendung der Elektrizität; das Bühnenbild musste plastisch aufgebaut werden. Nach 1910 nahm die deutschsprachige Bühne, angeregt von der bildenden Kunst (O. Kokoschka, H. Walden, L. Schreyer, W. Kandinsky, O. Schlemmer), in Darstellungsstil und Bühnenbild revolutionierende experimentelle Elemente auf. Seit 1920 drängten, im Übergang zu Neuer Sachlichkeit, Politik und Sozialkritik in den Vordergrund; E. Piscator verband die Agitation mit dem Experiment, B. Brecht entwickelte sein episches Theater (erneute Wirkung nach dem 2. Weltkrieg). In Frankreich wiesen J. Copeau (Inszenierung auf »nackten Brettern«) und A. Artaud (»Theater der Grausamkeit«) neue Wege. Der Nationalsozialismus hatte 1933 das ungewöhnlich reiche Berliner T.-Leben (Regisseure wie Reinhardt, L. Jessner, Schauspieler wie A. Bassermann, F. Kortner, P. Wegener) durch »Gleichschaltung« und Antisemitismus fast zum Erliegen gebracht. Einige Theaterleiter wie G. Gründgens, H. Hilpert, O. Falckenberg und Regisseure wie J. Fehling und E. Engel versuchten das Niveau der Darstellung zu halten, bis 1944 alle T. geschlossen wurden. In der Schweiz wurde die Tradition des deutschsprachigen T. weitergepflegt.Nach 1945 wurden die repräsentativen alten Häuser wieder aufgebaut; neue Bauwerke entstanden (insgesamt über 100), wobei in unterschiedl. Weise v. a. die Trennung zw. Spielfläche und Zuschauerraum überbrückt wurde. Zu T.-Ereignissen wurden die dt. Erstaufführungen der bis dahin verbotenen ausländ. Stücke. Die Inszenierungen der keiner Richtung verbundenen Regiepersönlichkeiten bestimmten das T.-Leben: G. Gründgens, F. Kortner, L. Steckel, H. Koch, G. R. Sellner und H. Lietzau. V. a. aus der Brecht-Schule gingen namhafte Regisseure (B. Besson, M. Wekwerth, E. Monk, P. Palitzsch) hervor. Mit der Uraufführung von R. Hochhuths »Stellvertreter« (Berlin 1963, unter E. Piscator) setzte eine Welle polit. T. ein. Ihr folgte aggressives Volks-T. (nach dem Muster Ö. von Horvaths; Stücke von Wolfgang Bauer, M. Sperr, F. X. Kroetz, W. Deichsel). - Der Zug zur direkten Aktion führte zur Gründung kurzlebiger Straßen-T. und freier Spielgruppen (seit den 50er-Jahren). Eine junge, durch die Studentenbewegung politisierte, nach Selbstdarstellung verlangende Schauspielergeneration prägte auch signalhaft wirkende Klassikerinszenierungen, die sich gegen überlieferte Perspektiven und Inhalte wandten. Die Suche nach neuen Stoffen, Darstellungs- und Spielformen für ein nichtbürgerl. T. wurde Mitte der 60er-Jahre durch ausländ. freie Truppen verstärkt, v. a. durch die (sich vom kommerziellen Broadway-T. wie von dem älteren kontrastierenden »Off-Broadway« absetzenden) »Off-Off-Broadway«-Truppen »Living Theatre«, »La Mama«, »Bread and Puppet Theater« und die »San Francisco Mime Troupe«. Starkes körpersprachl. Darstellungsbewusstsein zeigten auch die Spielkollektive des T.-Labors des Polen J. Grotowski sowie des »Odin Teatret« (Eugenio Barba). In der »freien« T.-Szene gab es eine Vielzahl von Neugründungen (»Rote Rübe«, München; »T.-Manufaktur«, Berlin).
Die politisch-krit. Aktivierung der theatralen Künste verband sich mit der Suche nach einer neuen Kunstsprache. Sammelpunkt dieser neuen Bestrebungen war für das subventionierte T. in Dtl. in den 60er-Jahren u. a. das Bremer T. (Intendant K. Hübner), dessen wichtigste Aufführungen geprägt wurden von den Regisseuren P. Zadek, W. Minks, R. W. Fassbinder, P. Stein und K. M. Grüber. Stein entwickelte ab 1970 in der Berliner »Schaubühne« einen politisch akzentuierten krit. Realismus. Die dt. Szene wird gegenwärtig u. a. bestimmt durch P. Palitzsch, den vom Surrealismus beeinflussten H. Neuenfels, den aus Großbritannien gekommenen P. Zadek, den Piscator-Schüler H. Heyme, ferner Augusto Fernandes, H. Hollmann, W. Minks, C. Peymann, G. Tabori und R. Noelte mit einem personenbezogenen, einfühlenden Realismus. Weitere einflussreiche Regisseure kamen hinzu: J. Flimm, N. P. Rudolph, L. Bondy, Andrea Breth und Dieter Dorn. Zu ihnen trat (durch Gastspielverträge) eine Reihe von Regisseuren aus der DDR: B. Besson, Ruth Berghaus, B. K. Tragelehn, M. Karge oder M. Langhoff; in letzter Zeit T. Langhoff, F. Castorf, L. Haußmann. Für die europ. Produktion setzen Inszenierungen von P. Brook, G. Strehler, R. Planchon und Ingmar Bergman neue Maßstäbe. Stark beachtet wird die T.-Arbeit der Amerikaner R. Wilson und Richard Schechner. Neue im »Théâtre du Soleil« (Paris) von Ariane Mnouchkine sowie von dem Italiener L. Ronconi entwickelte Spielweisen bestätigen die Tendenz, das Guckkasten-T. zu verlassen.
▣ Literatur:
Kindermann, H.: Theatergeschichte Europas, 10 Bde. Salzburg 1-21965-77.
⃟ T., bearb. v. G. Breton. A. d. Frz. Stuttgart u. a. 1991.
⃟ Theaterlexikon. Begriffe u. Epochen, Bühnen u. Ensembles, hg. v. M. Brauneck u. a. Reinbek 31992.
⃟ Brauneck, M.: Die Welt als Bühne. Geschichte des europ. T. auf 4 Bde. u. 1 Register-Bd. ber. Stuttgart u. a. 1993 ff.
⃟ Platz-Waury, E.: Drama u. T. Eine Einführung. Tübingen 41994.
⃟ Gronemeyer, A.: T. Köln 1995.
⃟ Lexikon T. international, Beiträge v. J. C. Trilse-Finkelstein u.:a. Berlin 1995.
⃟ Theaterlexikon, hg. v. C. B. Sucher, 2 Bde. München 1995-96.
⃟ Kirschner, J.: Fischer-Hb. T. Film, Funk, Fernsehen. Frankfurt am Main 1997.