Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
schweizerische Literatur.
schweizerische Literatur.Das in dt., frz., italien. und rätoroman. Sprache verfasste Schrifttum der Schweiz.Die Literatur der deutschen Schweiz: Literar. Schaffen in der dt. Schweiz setzte mit dem Wirken des Klosters St. Gallen ein, wo Geistliche wie Notker III. Labeo für die gesamte dt. Sprache bahnbrechend wirkten. Im Hoch-MA. trat neben die Geistlichkeit der Dienstadel als Träger einer Literatur, die Werke des Minnesangs und höf. Epen hervorbrachte. Frühester und bedeutendster Vertreter ritterlich-höf. Kultur aus dem oberdt. Sprachraum war Hartmann von Aue, einer der vielseitigsten und produktivsten mhd. Dichter des späten 13. Jh. Konrad von Würzburg. Zur Minnedichtung trugen Züricher Vertreter um Rüdiger II. Manesse (J. Hadloub, Walther von Klingen, Steinmar) ihren Teil bei (Manessische Handschrift). Bürgerl. und bäuerl. Motive stehen hier schon im Vordergrund; verstärkt erscheinen sie in der kraftvoll-derben Dichtung »Der Ring« des Thurgauers H. Wittenweiler (Wende des 14. zum 15. Jh.). Das sich seit den Burgunderkriegen verstärkt artikulierende ständisch-nat. Bewusstsein begann sich auch literarisch niederzuschlagen, so im »Urner Tellenspiel« (entstanden 1512) und in den Reformationsdramen des Berners N. Manuel. Entscheidend zur Aufwertung der Volkssprache und zur Entwicklung einer oberdt. geprägten Literatursprache trug U. Zwinglis Bibelübersetzung bei. An den Strömungen der europ. Literatur hatte die deutschsprachige Schweiz seit A. von Hallers Gedicht »Die Alpen« (1732) teil, bes. durch die 1761 gegr. »Helvet. Gesellschaft« und ihre Mitgl., u. a. S. Geßner und J. K. Lavater. Den von J. C. Gottsched vertretenen klassizist. Normen der frz. Literatur setzten J. J. Bodmer und J. J. Breitinger das Prinzip des Wunderbaren und die engl. Vorbilder wie J. Milton, S. Richardson und bes. Shakespeare entgegen, dem v. a. U. Bräker verpflichtet war. Der Einfluss J.-J. Rousseaus gab den Anstoß zu J. H. Pestalozzis pädagog. Schriften, Romanen und Erzählungen, die noch auf H. Zschokke und J. Gotthelf Einfluss ausübten. Ab Mitte des 19. Jh. schufen J. Gotthelf, G. Keller und C. F. Meyer bed. Werke erzählender Prosa; bes. die Novellen sind Muster der Gattung im deutschsprachigen Realismus. Der sehr populäre und einflussreiche C. Spitteler belebte das Versepos neu. Die künstlerisch überragende Gestalt des ersten Jahrzehnts des 20. Jh. ist R. Walser, dessen Bedeutung für die Moderne allerdings erst in der 2. Hälfte des 20. Jh. entdeckt wurde. Als Folge des geistigen Einflusses der dt. Exilanten während des Ersten Weltkriegs entwickelte sich der Dadaismus zuerst in Zürich (»Cabaret Voltaire«). Viel gespielt wurden die Dialektstücke des Caesar von Arx. Während der Zeit des Nationalsozialismus in Dtl. und Österreich entfalteten sich Kabarett und städt. Sprechbühnen, die von der Emigrantenwelle vielfältige Impulse bekamen. M. Frisch und F. Dürrenmatt führten die deutschsprachige Theatersatire und Komödie zu einem Höhepunkt. Der Detektiv- und psychologisch motivierte Kriminalroman (F. Glauser, F. Dürrenmatt) sowie der gesellschaftskritische realist. Zeitroman (M. Inglin) wurden zu parabelhaften Abbildungen gesellschaftl. Grundprobleme. Auf älterer Volksliedtradition aufbauend, vermochte sich die Mundartlyrik und -dramatik seit Anfang des 20. Jh. bis in die Gegenwart zu halten, fruchtbar auch in der konkreten Poesie bei E. Gomringer und D. Roth. Daneben entwickelte sich eine neue Art Kabarett und Bänkelsang mit immer stärkerer Politisierung (K. Marti). Von großer Wirkung auf die nachfolgende Generation war die Naturlyrik Erika Burkarts, einen singulären Platz in der s. L. nehmen die geistl. Lieder der Nonne Silja Walter ein. Die um 1960 an die Öffentlichkeit getretenen Schriftsteller kleideten ihre Kritik an der schweizer. Gesellschaft häufig in hintergründige Ironie; weit über den schweizer. Raum wirkten von der älteren Generation A. Muschg, O. F. Walter, P. Bichsel, W. M. Diggelmann, P. Nizon, J. Federspiel, W. Vogt, H. Burger, H. Loetscher; von der jüngeren Generation G. Späth, B. Brechbühl, W. Schmidli, E. Y. Meyer, H. Wiesner, J. Steiner, F. Hohler, S. Blatter, J. Laederach, U. Widmer, Erica Pedretti, Gertrud Leutenegger, R. Hänny, M. R. Dean, T. Hürlimann, D. Fringli, U. Jäggi und P. Mayer. Französischsprachige Literatur: Eine eigenständige Literatur frz. Sprache gibt es in der Schweiz seit der Reformation. Durch J. Calvin wurde Genf Mittelpunkt einer prot. Kultur, die im 17. Jh. vertriebene Hugenotten und im 18. Jh. die von der Justiz des Ancien Régime Verfolgten anzog und die bis in die Gegenwart wirksam ist. Bed. Autoren der frz. Literatur sind schweizer. Herkunft: J.-J. Rousseau, durch dessen Naturschilderungen die Landschaft der Schweiz in Europa bekannt wurde, B. Constant de Rebecque, Madame de Staël. Seit der 1. Hälfte des 19. Jh. entstanden Werke, die schweizer. Nationalbewusstsein und Heimatgefühl zum Ausdruck brachten (J. D. Olivier, J. F. Amiel, R. Toepffer). Trotz der allmähl. kulturellen Verselbstständigung stand die s. L. frz. Sprache im Schatten der frz. Literatur; viele Schriftsteller ließen sich in Paris nieder, so die Romanciers É. Rod, R. S. Cornut, V. Cherbuliez. Anfang des 20. Jh. suchte eine neue Generation nach künstler. Ausdrucksmöglichkeiten für das spezifisch Schweizerische: Bes. C. F. Ramuz gelang mit regionalist. Romanen der Anschluss an die Weltliteratur. Große Bedeutung für die Verbreitung neuer Lit. erlangten die Zeitschriften (z. B. die »Cahiers vaudios«). Wichtige Erzähler der 1. Hälfte des 20. Jh. sind u. a. G. Pourtalès, R. de Traz, Alice Rivaz, J. Chenevière, Monique Saint-Hélier, später M. Chappaz. Internat. Einflüsse verarbeitete B. Cendrars. Seit den 60er-Jahren gewinnt die s. L. frz. Sprache zunehmend an Originalität, repräsentiert u. a. durch den Lyriker und Essayisten P. Jaccottet und die Romanciers Y. Velan, J. Chessex, Corinne Bille und G. Haldas. Andere bed. Autoren, so R. Pinget und J. L. Benoziglio, sind in die frz. Literatur integriert.Italienischsprachige Literatur: Von einer italienischsprachigen s. L. lässt sich erst sprechen, seit 1803 das Tessin autonome Republik und Kanton wurde. Im 19. Jh. überwiegen histor. und polit. Untersuchungen. Im 20. Jh. erlangte der Lyriker und Erzähler F. Chiesa weltweiten Ruf. Als Verteidiger der »Italianità« des Tessins beeinflusste er das Werk von Essayisten wie A. Janner, G. Zoppi und des Essayisten und Erzählers G. Calgari. Neuere Erzähler sind A. Jenni, G. Bonalumi, P. Ortelli, F. Filippini, P. Martini, P. Scanziani, M. Agliati, C. Castelli und Fiorenza Venturini, Giovanni Orelli, G. Mascioni, F. Scaravaggi, A. Nessi, D. A. Fanzetti. Als Lyriker treten hervor V. Abbondio, F. Manghini, U. Frey, R. Fasani, A. Pedroli, A. Casè, F. Pusterla und bes. Giorgio Orelli.
Über die rätoroman. Literatur der S. rätoromanische Sprache.
Literatur:
Günther, W.: Dichter der neueren Schweiz, 3 Bde. Bern u. a. 1963-86.
Calgari, G.: Die vier Lit. der Schweiz. A. d. Italien. Olten u. a. 1966.
Gsteiger, M.: Westwind. Zur Lit. der frz. Schweiz. Bern 1968.
Fringeli, D.: Von Spitteler zu Muschg. Lit. der dt. Schweiz seit 1900. Basel 1975.
Altwegg, J.: Leben u. Schreiben im Welschland. Zürich 1983.
Orelli, G.: Svizzera italiana. Brescia 1986.
Schriftstellerinnen u. Schriftsteller der Gegenwart: Schweiz, bearb. v. O. Böni u. a. Aarau 1988.
Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Lit. im 20. Jh., hg. v. K. Pezold. Berlin 1991.
Lexikon der Schweizer Lit., hg. v. P.-O. Walzer. Basel 1991.
Schütt, J.: Germanistik u. Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich 1996.
Aeschbacher, M.: Vom Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Literatur aus der deutschen Schweiz (1958 - 1998). Bern 21998.
Dichterische Freiheit u. pädagogische Utopie. Studien zur schweizerischen Jugendliteratur, hg. v. Heidi M. Müller. Bern 1998.
Literatur in der Schweiz, hg. v. H. L. Arnold. München 1998.
Die vier Lit. der Schweiz, Beiträge v. I. Camartin u. a. Zürich 21998.
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