Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Staat
Staat[lat.] der, Vereinigung vieler Menschen innerhalb eines abgegrenzten geograph. Raumes unter einer souveränen Herrschaftsgewalt. Der Begriff erscheint im 15. Jh. erstmals bei Machiavelli, seit Ende des 18. Jh. ist er auch im dt. Sprachraum üblich. - Das S.-Volk bildet die Gesamtheit der durch dieselbe S.-Angehörigkeit verbundenen Mitgl. eines S. (National-S.), manchmal mehrere Nationen umfassend (Nationalitäten-S.). Das S.-Gebiet ist der geograph. Raum (einschließlich des Luftraums darüber und der Eigen- und Küstengewässer), in dem der S. seine Herrschaftsrechte ausübt. - Die S.-Gewalt ist die Herrschaftsmacht des S. über sein Gebiet und über die auf ihm befindl. Personen sowie über die eigenen S.-Angehörigen. - Die S.-Organe sind alle Personen, Körperschaften und Behörden, die im Namen und in Vollmacht des S. kraft eigener Zuständigkeit an der Ausübung der S.-Gewalt teilnehmen (Gewaltenteilung).S.-Formen bzw. polit. Systeme: Da im MA. die Person und die von ihr ausgeübte öffentl. Herrschaft sowie privates und öffentl. Recht noch nicht getrennt waren, wurden die Stellung in der Hierarchie und die Ämter einer Person als rechtlich garantiertes und ihr zustehendes Eigentum angesehen. Diese mittelalterl. Form wird Personenverbands-S. im Ggs. zum modernen Flächen-S. genannt. - Bei den Herrschaftsformen unterscheidet man seit dem grch. Altertum Monarchie, Aristokratie und Demokratie. - Nach der Ausübung staatl. Hoheitsgewalt oder nach der Führungsgruppe unterscheidet man folgende Regierungsformen: den Absolutismus, den Feudalismus, den Ständestaat, den Parlamentarismus, das Präsidialsystem und daneben das Rätesystem. Die modernen westl. Demokratien kennen parlamentar. und präsidiale Verfassungen sowie versch. Mischformen; ihnen gemeinsam ist die Einbeziehung von Parteien bei der Repräsentation (sog. Parteien-S.). Parteien-S. können danach unterschieden werden, ob mehrere Parteien mit wechselnden Koalitionen die Macht anstreben (Mehrparteien-S.) oder ob es zwei Parteien sind, von denen jeweils eine Reg.- und die andere Oppositionspartei ist (Zweiparteien-S.). In Diktaturen wird häufig nur eine einzige Partei zugelassen (Einparteien-S.), bzw. andere Parteien stehen unter der Hegemonie der führenden Partei. Weiterhin werden zentral verwaltete S. (alle Entscheidungen werden von den obersten S.-Organen in der Hauptstadt getroffen, wie z. B. in Frankreich) und föderative S. unterschieden: Nur bestimmte Aufgaben (z. B. Außen- und Sicherheitspolitik) werden von der Regierung des Gesamt-S. wahrgenommen, während andere Aufgaben von der Regierung der Glied-S. (Länder) selbstständig oder zugewiesen erfüllt und von Landesparlamenten kontrolliert werden. - Im 19. Jh. kam der Begriff des Rechtsstaats, im Laufe des 20. Jh. der des Sozialstaats auf; vom Sozial-S. zu unterscheiden ist der Wohlfahrtsstaat.Als S.-Wissenschaften gelten 1. die allg. S.-Lehre, die als typologisierende und erklärende Wiss. von den Erscheinungsformen staatl. Gebilde Methoden und Erkenntnisse aus den Gebieten der Philosophie, Soziologie, Nationalökonomie, Rechtswiss. und Geschichte vereinigt; 2. die politische Wissenschaft oder Politologie (innerhalb dieser speziell die S.-Theorie); 3. die rechtswiss. S.-Lehre, die v. a. verfassungsrechtl. Normen analysiert; 4. die S.-Soziologie, die v. a. Verfassungsnormen und -wirklichkeit vergleicht, indem sie Funktionen des S. als Ordnungsmacht, Herrschaftsorganisation und gesellschaftlich-polit. Integrationsform überprüft.Gegenstand der S.-Philosophie oder polit. Philosophie ist die Reflexion über Wesen, Aufgabe, Zweck und eth. Berechtigung des S. sowie über dessen Entstehung, Rechtfertigung, Prinzipien und Formen. -
Exponenten der antiken S.-Philosophie waren Sokrates, Platon und Aristoteles sowie die Philosophen der Stoa. Die S.-Philosophie des MA. ging von der Zweischwerterlehre sowie von der Frage nach dem gerechten Herrscher und später nach dem Gottesgnadentum aus. Die bes. von Luther und Calvin vertretene reformator. S.-Philosophie verknüpfte die Zwei-Gewalten-Lehre mit der Anerkennung der weltl. Obrigkeit (Zweireichelehre); im Rahmen der Reformation begründeten G. Buchanan und F. Hotmann später die Lehre vom Widerstandsrecht. - Die S.-Philosophie der Aufklärung war an der Naturrechtslehre orientiert und betonte die Bedeutung der Vertragstheorien (Naturrecht, Vertragslehre). - Zur Zeit des dt. Idealismus betonte die S.-Philosophie, dass sich der S. vom Zwangs- zum Rechts-S. entwickeln müsse sowie den Weg zum Staatenbund der Völker zu garantieren habe (KantJ. G. Fichte, Hegel). - Die S.-Philosophie des histor. Materialismus (Marx, Engels) propagierte die Lehre vom Klassenkampf, der (proletar.) Revolution und der klassenlosen Gesellschaft. - Grundsätzlich gibt es in der Neuzeit drei Positionen: die Ablehnung des S. (u. a. F. Nietzsche, M. Bakunin), seine Anerkennung innerhalb bestimmter Grenzen seiner Wirksamkeit (u. a. W. von Humboldt) sowie die Verabsolutierung des Staatlich-Politischen (N. Machiavelli, T. Hobbes, C. Schmitt).
▣ Literatur:
Eichenberger, K.: Staatsfähigkeit. Aarau 1992.
⃟ Böhret, C.: Funktionaler S. Ein Konzept für die Jahrhundertwende? Frankfurt am Main u. a. 1993.
⃟ Simson, W. von: Der S. als Teil u. als Ganzes. Baden-Baden 1993.
⃟ S., Wirtschaft & Recht. Begriffe, Strukturen, Organisationen, Beiträge v. S. Schieren u. a. Frankfurt am Main u. a. 1995.
Exponenten der antiken S.-Philosophie waren Sokrates, Platon und Aristoteles sowie die Philosophen der Stoa. Die S.-Philosophie des MA. ging von der Zweischwerterlehre sowie von der Frage nach dem gerechten Herrscher und später nach dem Gottesgnadentum aus. Die bes. von Luther und Calvin vertretene reformator. S.-Philosophie verknüpfte die Zwei-Gewalten-Lehre mit der Anerkennung der weltl. Obrigkeit (Zweireichelehre); im Rahmen der Reformation begründeten G. Buchanan und F. Hotmann später die Lehre vom Widerstandsrecht. - Die S.-Philosophie der Aufklärung war an der Naturrechtslehre orientiert und betonte die Bedeutung der Vertragstheorien (Naturrecht, Vertragslehre). - Zur Zeit des dt. Idealismus betonte die S.-Philosophie, dass sich der S. vom Zwangs- zum Rechts-S. entwickeln müsse sowie den Weg zum Staatenbund der Völker zu garantieren habe (KantJ. G. Fichte, Hegel). - Die S.-Philosophie des histor. Materialismus (Marx, Engels) propagierte die Lehre vom Klassenkampf, der (proletar.) Revolution und der klassenlosen Gesellschaft. - Grundsätzlich gibt es in der Neuzeit drei Positionen: die Ablehnung des S. (u. a. F. Nietzsche, M. Bakunin), seine Anerkennung innerhalb bestimmter Grenzen seiner Wirksamkeit (u. a. W. von Humboldt) sowie die Verabsolutierung des Staatlich-Politischen (N. Machiavelli, T. Hobbes, C. Schmitt).
▣ Literatur:
Eichenberger, K.: Staatsfähigkeit. Aarau 1992.
⃟ Böhret, C.: Funktionaler S. Ein Konzept für die Jahrhundertwende? Frankfurt am Main u. a. 1993.
⃟ Simson, W. von: Der S. als Teil u. als Ganzes. Baden-Baden 1993.
⃟ S., Wirtschaft & Recht. Begriffe, Strukturen, Organisationen, Beiträge v. S. Schieren u. a. Frankfurt am Main u. a. 1995.