Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Sprachwissenschaft
Sprachwissenschaft,umfassende Bez. für die wiss. Beschäftigung mit der Sprache, mit den Einzelsprachen und ihren Gliederungen. Gleichbedeutend mit S. wird häufig die Bez. Linguistik verwendet, i. e. S. wird Linguistik als synchron ausgerichtete und auf die innere Sprachstruktur orientierte Wiss., d. h. als Teildisziplin der allgemeinen S. verstanden. Der Zeichencharakter der Sprache wird im Rahmen der Semiotik untersucht. Die Beschreibung der Sprachstruktur ist Aufgabe der Grammatik, die sich in Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik gliedert. Soziale und räuml. Gliederung der Sprache werden von der Soziolinguistik und von der Dialektologie (Mundartforschung) untersucht. Die Entwicklung der Sprechfähigkeit beim Kind ist Gegenstand der Spracherwerbsforschung (Spracherwerb) als Teil der Psycholinguistik. Die geschichtl. Veränderungen von Sprachen und sprachl. Subsystemen (z. B. Lautwandel) werden in der histor. S. behandelt. Die Etymologie untersucht im histor. Rückblick die Entstehung der Wortbedeutungen. Beim Vergleich von Einzelsprachen fragt man historisch einerseits nach gemeinsamen Vorstufen, andererseits wird die Aufspaltung einer Sprache in sich auseinander entwickelnde Einzelsprachen verfolgt. Ohne historisch-genet. Methode arbeitet die Sprachtypologie, die vergleichend Sprachen nur nach strukturellen Eigenschaften untersucht, ebenso wie die kontrastive Linguistik. - Die Ergebnisse und Erkenntnisse der sprachwiss. Disziplinen spielen bes. im pädagogisch-didakt. Bereich, im muttersprachl. und im fremdsprachl. Unterricht eine wichtige Rolle, ebenso bei der Sprachmittlung (Übersetzen, Dolmetschen) und der Sprachtherapie (therapeut. Verfahren zur Behandlung von Sprachstörungen). Daneben sind sie für die Entwicklung von Verfahren zur elektron. Informationsspeicherung und -verarbeitung sowie bei den Bemühungen um eine maschinelle Übersetzung und linguist. Datenverarbeitung wichtig geworden.Geschichte: Bereits im keilschriftl. Kulturkreis des Alten Orients (3./2. Jt. v. Chr.) führten Bemühungen um das Verständnis tradierter kult. Texte zur philolog. Beschäftigung mit Sprache, die sich bes. in einer zweisprachigen Lexikographie (Sumerisch-Akkadisch) auswirkte. Während in Indien schon früh eine grammat. Tradition bestand, auf die Panini (6./5. Jh.) zurückgreifen konnte, hat sich die antike grch. S. im Kontext philosoph. Fragen nach dem Sprachursprung und dem Verhältnis zw. Form und Bedeutung von Wörtern entwickelt. Erste grammat. Kategorisierungen wurden von Aristoteles im Rahmen von Poetik und Logik vorgenommen. In Alexandria entstanden die ersten grch. Grammatiken von Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) und Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.), nach deren Vorbild die lat. Grammatiken von Aelius Donatus (4. Jh.) und Priscianus (5./6. Jh.) gestaltet sind. Eine Leistung der Sprachforschung im MA. bildet die scholast. Darstellung des Zusammenhangs von Sprache, Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik in sog. spekulativen Grammatiken. Die Entwicklung der S. im 17. und 18. Jh. ist gekennzeichnet durch die seit der Reformation wachsende Bedeutung der Volkssprachen und durch die Entdeckung altamerikan., afrikan. und asiat. Sprachen. Die vermehrte Kenntnis von Einzelsprachen führte im 19. Jh. zur vergleichenden und histor. S., die bes. durch die Entdeckung der Verwandtschaft des Sanskrit mit den europ. Sprachen ausgelöst wurde. Von R. Rask, F. Bopp und J. Grimm wurden Methoden ausgearbeitet, mit denen die genet. Verwandtschaft der indogerman. Sprachen nachgewiesen wurde. Neben der materialbezogenen historisch-vergleichenden S. war und ist die allg. S., die W. von Humboldt begründete, von größter Wirkung. Humboldts Unterscheidung von äußerer und innerer Sprachform und seine These von der Verknüpfung der Sprache mit Mentalität, Kultur und Weltansicht eines Volkes wirkten sich in unterschiedl. Weise auf spätere Sprachtheorien aus. Die Epoche der primär historisch-vergleichend ausgerichteten S. wurde zu Beginn des 20. Jh. von der strukturell orientierten Linguistik abgelöst; als ihr Begründer gilt F. de Saussure. Forschungen zur Phonologie wurden bes. von der Prager Schule betrieben. Strukturelle Gesichtspunkte gingen auch in die Wortfeldforschung (J. Trier, L. Weisgerber) ein. In der amerikan. Linguistik konnte nach Betrachtung des quantifizierbaren Materials der Sprache eine Verbindung zur Mengenlehre hergestellt werden, die eine Methode der mathemat. Linguistik ergab. Diese beschäftigt sich mit der Anwendung mathemat. und formal-log. Methoden in Grammatik und Sprachanalyse. Aus der Verbindung von S. und Anthropologie entstand der Deskriptivismus, der von behaviorist. Psychologie und positivistischen Auffassungen geprägt ist (L. Bloomfield). Kennzeichnend ist die Betonung synchroner Beschreibung der gesprochenen Sprache, die weitgehende Ausklammerung der Semantik sowie die Anwendung exakter analyt. Verfahren. Die Beschränkungen des Deskriptivismus versuchte seit den frühen 1960er-Jahren die generative Grammatik zu überwinden. Nachdem einige Zeit die formale grammat. Seite der Sprache im Zentrum der Forschung stand, fragt man heute wieder nach den gegenseitigen Verbindungen von Sprache, Denken und Bewusstsein (Psycholinguistik), sieht das sprachl. Handeln im Zusammenhang mit dem gesamten menschl. Handeln, betrachtet die Sprache als gesellschaftl. Phänomen.
Literatur:
Szemerényi, O.: Richtungen der modernen S., 2 Bde. Heidelberg 1971-82.
Arens, H.: S. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, 2 Bde. Frankfurt am Main Neuausg. 1974.
Gipper, H.: Sprachwissenschaftl. Grundbegriffe u. Forschungsrichtungen. München 1978.
Geier, M.: Methoden der Sprach- u. Literaturwissenschaft. München 1983.
Brekle, H. E.: Einf. in die Gesch. der S. Darmstadt 1985.
Lexikon der S., bearb. v. H. Bußmann Stuttgart 21990.
International encyclopedia of linguistics, hg. v. W. Bright, 4 Bde. New York u. a. 1992.
Crystal, D.: The Cambridge encyclopedia of language. Cambridge 21997.
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