Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Sprache
Sprache,die Fähigkeit zu sprechen, das Sprechen; im weitesten Sinn von Semiotik und Informationstheorie ein konventionelles System von Zeichen zu Kommunikationszwecken. Natürliche S. (historisch gewachsene Sprachen wie Deutsch, Englisch) als Ausdruck menschl. Denkens, Fühlens und Wollens weisen im Unterschied zu künstlichen S. u. a. verschiedene Sprachschichten (Hoch- oder Standard-S., Dialekte, Soziolekte) sowie Mehrdeutigkeit in Wortschatz und grammat. Struktur auf; auch haben sie eine gewisse Redundanz und sind in ihrer Verwendung vom jeweiligen Kontext bzw. der Sprechsituation abhängig. Natürl. S. eignen sich gleichzeitig zur metasprachl. Reflexion. Zu den künstlichen S. zählen die durch elektron. Sprachsynthese erzeugten Sprach- und Sprechsignale und Sprachsysteme wie semantisch interpretierte logisch-mathemat. Kalküle bzw. formale oder formalisierte Sprachen, Programmiersprachen sowie Welthilfssprachen. Als S. werden auch Kommunikationssysteme von Tieren (Tiersprache) angesehen sowie allg. ein Symbolverständnis voraussetzende Zeichensysteme (z. B. Gebärden-S., Flaggensignale, Morsealphabet).
Entscheidend für die Theorie vom Funktionieren der S. sind folgende Grunderkenntnisse: Die Beziehung zw. Zeichen (z. B. sprachl. Äußerung) und Bezeichnetem (ein Ausschnitt aus der außersprachl. Wirklichkeit) hängt von der jeweiligen Sprachgemeinschaft ab; dieselbe Wirklichkeit kann unterschiedlich bezeichnet werden, die Zeichen sind daher nicht der notwendige oder natürl. Ausdruck der Wirklichkeit, sondern sie werden ihr von jeder Sprachgemeinschaft konventionell zugeordnet. - Im Strukturalismus wird S. als überindividuelles Zeichensystem (Langue) von ihrer Aktualisierung durch den einzelnen Sprecher (Parole) unterschieden.Alle S. haben sich im Lauf der Zeit in Lautung, Wortgestalt, Wortgebrauch, Wortschatz und Syntax verändert. Erste Abweichungen gehen von einzelnen Menschen oder Gruppen in einzelnen Sprechakten aus; dadurch, dass sie nachgeahmt werden und allg. durchdringen, verändern sie den Sprachgebrauch der Gemeinschaft. Ihre Verbreitung und Durchsetzung hängt stark vom Ansehen des Urhebers und des Kreises ab, der sie zuerst aufnimmt. Änderungen des gesellschaftl., sozialen oder polit. Gefüges führen häufig zu stärkeren Veränderungen der Sprachgestalt (Sprachwandel), bes. wenn eine S. von einer anderssprachigen Bev. übernommen wird.
Der Einfluss gesellschaftl. Momente auf den Sprachbesitz drückt sich im Zusammenhang von sozialem Wandel und sprachl. Kommunikation aus. Soziale Differenzierung und differenziertes sprachl. Ausdrucksverhalten stehen in engem Wechselverhältnis; dies gilt für die Hoch-S. wie für schicht- und gruppenspezif., durch sozialen Status, Beruf und Alter bestimmte Gruppen-S.Die Sprachtypologie beschäftigt sich mit der formalen Charakteristik der Sprachen. - Nach dem Typus ihres Baus teilt man die S. unter Zugrundelegung des Verhältnisses von Wort und Satz ein: 1) Wird die Gestalt der Wörter durch ihre Rolle im Satz nicht berührt, spricht man von isolierenden Sprachen. Viele von diesen haben nur einsilbige Wörter, z. B. das klass. Chinesisch. 2) Werden alle bedeutungstragenden Lautungen in einer Wortform vereinigt, sodass der Satz formal nur aus einem zusammengesetzten Wort besteht, heißen die S. polysynthetisch oder inkorporierend, z. B. das Eskimo-Aleutische. 3) In den agglutinierenden S. wird die Rolle des Wortes im Satz durch Anfügen besonderer Lautungen (Affixe), die selbstständig nicht vorkommen, an die unveränderten Stämme bezeichnet (finnougr. Sprachen). 4) Flektierende S. sind solche, in denen auch der Stamm des Wortes je nach der Rolle im Satz versch. gestaltet wird. Diesen Typus vertreten die semit. S.; ihm gehören auch die indogerman. S. an.Sprachverwandtschaft liegt bei engen histor. Beziehungen zw. S. vor. Diese Beziehungen können versch. Gründe haben: 1) Die S. sind durch Auflösung einer ehem. Spracheinheit entstanden (genealog. oder genet. Sprachverwandtschaft). Die gemeinsame S. nennt man Grund-S. (früher auch Ur-S.), die neuen S. deren Tochter-S.; sie bilden zusammen eine Sprachfamilie. Beispiel dafür sind die roman. S. als Fortbildungen des Lateinischen. Der Vorgang kann sich wiederholen, sodass es genealog. Sprachverwandtschaft zw. ganzen Sprachfamilien gibt, die dann einen Sprachstamm bilden (z. B. die indogerman., semit. oder ural. S.), dessen Glieder man auch Sprachzweige nennt. 2) Ursprünglich unähnl. S. entwickeln sich unter gleichen Kulturbedingungen in nachbarl. Berührung so, dass sie einander immer ähnlicher werden, es entsteht ein Sprachbund (kulturelle Sprachverwandtschaft), z. B. die Balkansprachen. 3) Wenn der normale Austausch zw. benachbarten S. durch Entlehnung von Wörtern, Bildungsmitteln, Satzbauplänen und Lautgewohnheiten ein bestimmtes Maß übersteigt, verlieren die betroffenen S. ihre ursprüngl. Eigenart; es entsteht eine Misch-S., die mit den an ihrer Entstehung beteiligten S. verwandt ist, ohne dass diese unter sich verwandt sein müssen. Eine solche Sprachverwandtschaft verbindet das Englische mit den german. S. und mit dem Französischen.Sprachen der Erde: Die insgesamt auf der Erde gegenwärtig oder früher gesprochenen (bzw. schriftlich überlieferten) S., deren Zahl auf zw. 2 500 und 5 500 geschätzt wird, unterscheiden sich voneinander sehr stark, auch die genetisch näher miteinander verwandten S. der versch. Sprachfamilien.
Literatur:
A. Meillet Les langues du monde, hg. v. u. a. Paris 1952, Nachdr., 3 Bde. Genf 1981.
Le langage, hg. v. A. Martinet. Paris 1968.
Collinder, B.: S. u. Sprachen. Hamburg 1978.
Coseriu, E.: S., Strukturen u. Funktionen. Tübingen 31979.
The world's major languages, hg. v. B. Comrie. London u. a. 1987, Nachdr. ebd. 1991.
Lyons, J.: Die S. Aus dem Engl. München 41992.
Crystal, D.: Die Cambridge-Enzyklopädie der S. Aus dem Engl. Darmstadt 1995.
Schuch, G. von: Einführung in die Sprachwissenschaft. Neuried 21996.
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