Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Soziologie
Soziologie[lat.-grch.] die, Wiss., die die Bedingungen und Formen menschl. Zusammenlebens, die komplexen Struktur- und Funktionszusammenhänge der Gesellschaft und ihrer Institutionen in der geschichtl. Entwicklung und in der Gegenwart systematisch untersucht und beschreibt, um den Menschen bei Verständnis, Planung und Steuerung ihrer Gesellschaft zu helfen. Ihr Gegenstandsbereich umfasst das gesamte soziale Handeln des Menschen, darin eingeschlossen die Beschäftigung mit sozialen Normen, Rollen und Handlungsmustern, Einstellungen, Wertorientierungen, mit regelgemäßem und abweichendem Verhalten, die Analyse sozialer Prozesse (sozialer Wandel, Mobilität, Konflikte), die Erforschung sozialer Lebensbereiche (Familie, Schule, Betrieb; Stadt, Land) und Lebensalter sowie die Untersuchung sozialer Klassen und Schichten, sozialer Gebilde (Gruppen, Organisationen) und Institutionen, z. B. in Wirtschaft, Politik, Kultur und Recht. Neben mehr problemorientierter Einzelforschung im Rahmen vielfältiger Teildisziplinen (z. B. Familien-, Alters-, Erziehungs-, Industrie-, Betriebs-, Medizin-, Religions-S.) stehen u. a. die Betrachtung übergreifender Zusammenhänge des sozialen Lebens als Ganzes (z. B. Sozialpsychologie) und der soziokulturelle, politisch-ökonom. Vergleich versch. Gesellschaften.Als Begründer der S. gilt A. Comte, nach dessen Auffassung sich die S. den Naturwiss. entsprechend nicht an Sinngehalten, sondern nur an »positiven« Tatsachen zu orientieren hatte. K. Marx entwickelte mit dem histor. Materialismus (Marxismus) eine Gesellschaftstheorie, die davon ausgeht, dass die historisch-soziale Entwicklung durch gesellschaftl. Konflikte, v. a. durch Klassengegensätze zw. Besitzenden und Besitzlosen, vorangetrieben wird. Eigene Methoden und Forschungstechniken entwickelte die S. erst seit É. Durkheim, der sie als empir., exakte Wiss. betrieb und der als Begründer der experimentellen, erfahrungswiss. S. (empir. Sozialforschung) gilt. F. Tönnies und G. Simmel entwickelten eine begriffl. (formale) S., die Formen des gesellschaftl. Lebens, die sie als überzeitlich und gleich bleibend verstand - etwa Streit, Freundschaft (Simmel) oder Gemeinschaft und Gesellschaft (Tönnies) -, zu erfassen suchte. Für M. Weber sollte die S. soziales Handeln in seinem Ablauf und seinen Wirkungen erklären; gesellschaftl. Institutionen wie Staat, Recht, Wirtschaft wurden als Idealtypen (Idealtypus) herausgearbeitet und wertfrei dargestellt, da Wiss. nur unabhängig von Werten und Normen rational und objektiv sein könne. Beeinflusst von Weber u. a. europ. Soziologen, entwickelte T. Parsons in den USA die strukturell-funktionale Theorie. Markante Entwicklungen der S. nach 1945 waren eine verstärkte Hinwendung zu gesamtgesellschaftl. Analysen und eine Wiederbelebung der Theoriediskussion wie sie im Positivismusstreit zw. Vertretern der krit. Theorie (T. W. Adorno) und des krit. Rationalismus (K. R. Popper, H. Albert) zum Ausdruck kam. Die 1970er-Jahre sind geprägt durch die »Habermas-Luhmann-Debatte« über die Bedeutung und Reichweite einer soziologisch ausgerichteten Systemtheorie. Die folgenden Jahre wurden u. a. beeinflusst durch die Kultursoziologie, die Erforschung der Lebens- und Alltagswelten der Individuen, die Aufnahme phänomenolog. und konstruktivistisch orientierter Ansätze, die Aufarbeitung des Modells langfristiger Vergesellschaftungsprozesse (N. Elias), die Behandlung der sozialen Bedeutung ökolog. Gefahren (U. Beck). Die Erörterung der veränderten Aufgaben einer S. unter »postmodernen« Bedingungen und angesichts der Emanzipationsbestrebungen von Frauen schloss sich ebenso an wie die Fragestellungen, die mit dem Transformationsprozess in O-Europa zusammenhängen (»Ost-West-S.«).
▣ Literatur:
Prisching, M.: S. Themen - Theorien - Perspektiven. Köln u. a. 21992.
⃟ Adorno, T. W.: Einleitung in die S. Neuausg. Frankfurt am Main 1993.
⃟ Einf. in Hauptbegriffe der S., hg. v. H. Korte u. a. Opladen 31995.
⃟ Amann, A.: S. Ein Leitfaden zu Theorien, Gesch. u. Denkweisen. Wien u. a. 41996.
▣ Literatur:
Prisching, M.: S. Themen - Theorien - Perspektiven. Köln u. a. 21992.
⃟ Adorno, T. W.: Einleitung in die S. Neuausg. Frankfurt am Main 1993.
⃟ Einf. in Hauptbegriffe der S., hg. v. H. Korte u. a. Opladen 31995.
⃟ Amann, A.: S. Ein Leitfaden zu Theorien, Gesch. u. Denkweisen. Wien u. a. 41996.