Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Sozialismus
Sozialịsmus[lat.] der, eine als Gegenmodell zum Kapitalismus entwickelte polit. Lehre, die bestehende gesellschaftl. Verhältnisse mit dem Ziel sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit verändern will, eine nach diesen Prinzipien organisierte Gesellschaftsordnung sowie eine polit. Bewegung, die diese Gesellschaftsordnung anstrebt; im Marxismus das Übergangsstadium von der kapitalist. zur kommunist. Gesellschaftsformation. - Die Kritik des S. bezieht sich auf die (auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruhende) Gesellschaftsform des Kapitalismus, die (wenn nötig mit Gewalt) beseitigt werden soll, um die gesellschaftl. Vorstellungen des S. zu verwirklichen.Früh-S., Vor-S., utop. S.: Die Lehre des S. verbreitete sich v. a. seit Beginn des 19. Jh. im Zusammenhang mit dem sich entfaltenden kapitalist. Wirtschaftssystem. Vergleichbare oder den S. vorbereitende Lehren gab es v. a. im Frankreich des 18. Jh., wo u. a. Morelly Kritik am Privateigentum übte und F. N. Babeuf und É. Cabet Gesellschaftsutopien entwickelten. In der 1. Hälfte des 19. Jh. wies C. H. de Rouvroy, Graf von Saint-Simon, auf den entscheidenden Einfluss von wirtsch. Faktoren auf die gesellschaftl. Verhältnisse hin. P.-J. Proudhon forderte eine gerechte Verteilung des Produktionseigentums und wurde mit seiner Kritik an jegl. Staatsmacht zu einem Vorläufer des Anarchismus. Der brit. Unternehmer R. Owen entwickelte ein Modell der Arbeiterselbsthilfe und regte die ersten brit. Arbeitsschutzgesetze an. Mithilfe genossenschaftl. Organisationsformen (genossenschaftl. S.) wollten u. a. C. Fourier, P. J. B. Buchez und L. Blanc sozialist. Gesellschaftsformen erreichen. F. Lassalle reklamierte für die Arbeiter das Recht auf den vollen Arbeitsertrag und forderte, mithilfe des allgemeinen Wahlrechts den Staat im Interesse der Arbeiterschaft umzuwandeln, da der Staat als Träger gesellschaftl. Entwicklung angesehen wurde. Diese Auffassung eines Staats-S. teilte Lassalle v. a. mit J. K. Rodbertus und L. von Stein.Marxistisch-leninist. S.: Von diesen Vorläufern wird der von K. Marx entwickelte wiss. S. (Marxismus) unterschieden, der v. a. als Instrument der Analyse bestehender Gesellschaftsformen dient und nur wenig über die Gestaltung einer neuen Gesellschaftsordnung aussagt. Der real existierende bzw. reale S. v. a. nach 1917 (Sowjetunion) sowie nach 1945 (O-, SO- und Mitteleuropa) war gekennzeichnet durch gesellschaftl. Eigentum an Produktionsmitteln (i. d. R. Staatseigentum) sowie das Prinzip gesamtgesellschaftl. Planung durch den Staat (Zentralverwaltungswirtschaft). Durch die Partei der Arbeiterklasse als einzige oder dominierende Partei sollte der Staat im Interesse der Arbeiterklasse handeln. Jedoch bestimmte die tatsächl. Herrschaft der Partei die Wirklichkeit in den existierenden sog. sozialist. Gesellschaften und führte, nicht zuletzt wegen der Entfremdung zw. Partei und Bev., seit Ende der 1980er-Jahre zu ihrem zunehmenden Verfall (Kommunismus).Freiheitl. oder demokrat. S.: Bes. die Auseinandersetzungen mit dem sog. realen S. haben zu Modellen geführt, die davon ausgehen, dass die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln nicht ausreiche, um menschl. und sozial gerechte Verhältnisse zu schaffen; sie streben deshalb eine Gesellschaft an, die v. a. die freie Entfaltung der Individuen, die Gültigkeit aller Grundrechte und die demokrat. Mitwirkung aller Gesellschaftsmitgl. in allen sozialen Bereichen zulässt. - Die Hoffnung auf die Möglichkeit einer friedl., schrittweisen Gesellschaftsänderung auf dem Wege über demokrat. Reformen, gewerkschaftl. Arbeit und wachsende Einsicht (auch der Besitzenden) v. a. während der langen Periode wirtsch. Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg hat jedoch eine Anzahl ehemals ausgesprochen sozialist. Politik betreibender Parteien bewogen, ihr Ziel der Überwindung des Kapitalismus aufzugeben und lediglich bestimmte Nachteile der ungleichen Eigentums- und Einkommensverteilung, aufzuheben (Sozialdemokratie). - Weitere nichtmarxist. S.-Vorstellungen finden sich im Anarchismus, Gilden-S., Syndikalismus sowie im Reformismus mit seinen Ausformungen Revisionismus in Dtl. und Austromarxismus in Österreich.
Literatur:
Thomas Meyer Lexikon des S., hg. v. u. a. Köln 1986.
Engels, F.: Die Entwicklung des S. von der Utopie zur Wiss. Berlin (Ost) 241988.
Rosenberg, A.: Demokratie u. S. Neuausg. Frankfurt am Main 1988.
Theimer, W.: Geschichte des S. Tübingen 1988.
Klassiker des S., hg. v. W. Euchner, 2 Bde. München 1991.
Meyer, Thomas: Was bleibt vom S.? Reinbek 1991.
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